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Titel
Antiamerikanismus
Untertitel
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Lead
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Datum
Autoren
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Rubrik
ARSENICUM
Schlagworte
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Artikel-ID
17829
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Arsenicum: Antiamerikanismus

Der zunehmende Antiamerikanismus in Europa ärgert mich. Ebenfalls zunehmend. Meist wird er lauthals von Leuten geäussert, die noch nie in den USA waren und die Beiträge, die Amerikaner und Amerikanerinnen für das Wohl der Welt leiste(te)n, nicht wahrhaben wollen. In meiner Jugend nervten mich die Mao-Bibel-Leser und Che-Guevara-Plakatkleber, obwohl ich wie sie gegen die militärischen Interventionen von Frankreich und Amerika im damaligen Indochina war. Was bitte haben Mao und Che ihren Völkern Gutes getan? Die Historiker erarbeiten für uns die Bilanz. Genauso, wie sie dies bei den United States of America tun. Dann können wir uns alle ein Urteil bilden. Eine bedenkliche Seite des Säugetieres Mensch ist die Aggression. Deren Schwestern Tatkraft, Energie und Beharrlichkeit schaffen Grosses. Aber unkontrollierte und unlegitimierte Gewalt zerstört. Das sehen wir täglich in unseren Hausarztpraxen und allabendlich in der Tagesschau. Weltweit und seit je mach(t)en sich Menschen Gedanken über Aggression und wie man sie auf den Einsatz für Gutes beschränken kann. Zum Beispiel der Achämenide Kyros II (600–530 v. Chr.). Einige starben durch Mörderhand – wie Martin Luther King (1929–1968) und Abraham Lincoln (1809–1865). 1776 hatten die «founding fathers» in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung alle Menschen zur «pursuit of happiness» berechtigt und verpflichtet. Nach «liberté, egalité, fraternité» und dem Kantschen kategorischen Imperativ eines der wichtigsten Leitworte für humanes Leben. Diese Gedanken sind in den USA lebendig und erfolgreich, wenn es gilt, Missstände zu beseitigen. Das Universalgenie Benjamin Franklin (1706–1790) setzte Theorien praktisch um: Blitzableiter,

flexibler Urinkatheter, Bifokalbrille, nationweite Kommunikation durch Post, öffentliche Bibliotheken, Feuerwehr und so weiter. Thomas Alva Edison, einem weiteren genialen Erfinder, verdanken wir noch mehr Nützliches. Aber der Rassismus, die kapitalistischen Auswüchse und ausbeutenden Superreichen, die Zweiklassengesellschaft, die Waffenlobby, die atomare Bedrohung? Ja, richtig, das gibt es in den USA, es ist inakzeptabel und muss geändert werden. Sowohl dort wie auch überall sonst auf der Welt. Doch vermutlich wird in keinem Land der Welt von so vielen Leuten so energisch versucht, dies zu tun. Angelsächsisches Recht hat auch der europäischen Jurisprudenz enorme Impulse gegeben, und die amerikanische Presse ist tatsächlich die vierte Gewalt im Staat. Das merken auch «grosse Tiere». Die Presse hat keine Beisshemmung und hat es bis jetzt geschafft, keinen Maulkorb verpasst zu bekommen. In den USA wurde ein amtierender Präsident «impeached». Die Blössen, die sich lügende, lüsterne Präsidenten und Männer wie DSK geben, wurden publik gemacht. Präsidenten, Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Armee werden in den USA genauso öffentlich befragt und sanktioniert wie Spekulationshaie, Mafiosi, Bankster und kriminelle Wirtschaftstycoons. Die Menschenrechte, insbesondere die Rede- und Demonstrationsfreiheit, nehmen Amerikaner sehr ernst und verteidigen sie mit Zivilcourage. Die Militär- und Geheimdienstaktion, Bin Laden ohne Prozess zu töten, fand ich eines Rechtsstaats unwürdig. Doch dies kann ich dank den Werten wie Meinungsfreiheit, die in den USA von Staat und Bürgern getragen werden, öffentlich sagen und schreiben, ohne dass man mich deshalb einsperrt, fol-

tert, tötet oder meine Familie als Geisel nimmt. Nicht immer werden die Bösen zur Rechenschaft gezogen und die Opfer geschützt, das Gute siegt leider oft nicht. Aber es wird als Maxime hochgehalten. In jedem Western, Krimi, in jeder Soap und im Gehirn der meisten Amerikaner. Antiamerikanisten sei empfohlen, mal zu schauen, was amerikanische Wissenschaftler leisten – von Astronomie über Medizin bis hin zu Zoologie. Oder wie viel ein amerikanischer Farmer produziert. Was kiffende kalifornische Philosophen denken, welche Kunstwerke Hollywood erschafft, was New Yorker Charity-Ladies und Rassen- und GenderaktivistInnen aus Alabama leisten. Wer ist führend in IT? Welche Frau kommt ohne Astor, Lauder und Rubinstein aus? Wo sind die besten Unis, die meisten Nobelpreisträger, die bedeutendsten Musiker? Dank der Weltmacht USA lebe ich in einer Welt, die ohne ihre Interventionen noch schlimmer wäre. Wenn Herr Depardieu sich in Frankreich nicht mehr wohlfühlt, wo die Bevölkerung nach wie vor auf die Strasse geht, den Mächtigen zeigt, was sie denkt und auch mal einem Manager die Hosen auszieht, dann soll er halt in Russland seinen Wohnsitz nehmen. Mir jedoch ist es in der «westlichen Welt», mit ihren Werten und ihrer Schutzmacht, wohler. Eine Meinung, die meine afrikanischen und asiatischen Freunde teilen. Dass ein eidgenössischer Hausarzt die USA wertschätzt, wird nichts in dieser Welt ändern. Aber dass er Antiamerikanismus als unreflektiert bis dumm ansieht, sei hiermit gesagt.

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ARS MEDICI 24 I 2015