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Erneute Diskussionen um den Zielblutdruck
Untertitel
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Erst kürzlich hatte man sich auf moderate Werte beim Zielblutdruck geeinigt und als Therapieschwelle für die meisten Personen systolisch 140 mmHg definiert. Nun wurde mit grossem Medienrummel die von den National Insitutes of Health (NIH) finanzierte SPRINT-Studie in den USA vorzeitig gestoppt.
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MEDIEN - MODEN - MEDIZIN
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17828
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Kardiologie
Erneute Diskussionen um den Zielblutdruck

Erst kürzlich hatte man sich auf moderate Werte beim Zielblutdruck geeinigt und als Therapieschwelle für die meisten Personen systolisch 140 mmHg definiert. Nun wurde mit grossem Medienrummel die von den National Insitutes of Health (NIH) finanzierte SPRINT-Studie in den USA vorzeitig gestoppt. Bereits nach einem medianen Follow-up von rund drei Jahren hatte sich gezeigt, dass das ambitioniertere Ziel von 120 mmHg zu weniger kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen als in der Vergleichsgruppe führte. Erkauft wurde dieser Erfolg mit mehr Nebenwirkungen aufgrund der Notwendigkeit einer intensiveren Medikation. In die Studie aufgenommen wurden 9361 Personen mit einem systolischen Blutdruck Ն130 mmHg (mit oder ohne Medikamente). Die Liste der Ausschlusskriterien ist lang und umfasst beispielsweise Diabetiker oder Personen, die bereits einmal einen Schlaganfall erlitten haben. Die Probanden wurden in zwei Gruppen randomisiert mit den Zielwerten Ͼ120 mmHg (intensive Therapie) oder Ͼ140 mmHg (Standard). Erreicht wurden im Durchschnitt 121,4 mmHg (mit

durchschnittlich 2,8 Medikamenten) beziehungsweise 136,2 mmHg (mit durchschnittlich 1,8 Medikamenten). In der Intensivgruppe gab es 243 (5,19%) kardiovaskuläre Ereignisse inklusive kardiovaskulärer Todesfälle, in der Standardgruppe 319 (6,81%). Die in den Medien prominent kommunizierte Risikoreduktion von 25 Prozent bedeutet in absoluten Zahlen also nur einen Unterschied von 1,62 Prozent. Man muss 61 Personen intensiv behandeln, um dadurch ein kardiovaskuläres Ereignis zu verhüten (number needed to treat, NNT). Bei den Todesfällen (alle Ursachen) verhält es sich ähnlich. In der Intensivgruppe starben 155 Personen (3,3%), in der Standardgruppe 210 (4,48%), was einem absoluten Unterschied von 1,18 Prozent entspricht und einer NNT von 90 Personen. Schwere Nebenwirkungen wurden bei 1793 Personen in der Intensivgruppe (38,3%) und bei 1736 Personen in der Standardgruppe (37,1%) verzeichnet. Hierbei waren in der Intensivgruppe schwere Nebenwirkungen in Form von Hypotonie, Synkopen, Elektrolytstörungen sowie akuten Nierenschäden

und akutem Nierenversagen häufiger als in

der Standardgruppe, nicht jedoch Stürze

oder Bradykardie.

Zahlenmässig grösser war der Risikounter-

schied bezüglich der Nebenwirkungen, die der

Blutdruckmedikation zugeschrieben wurden.

In der Intensivgruppe wurden diesbezüglich

200 schwere Nebenwirkungsfälle gezählt

(4,7%), in der Standardgruppe 118 (2,5%),

ein Unterschied von 2,2 Prozent beziehungs-

weise rund 88 Prozent mehr schweren, auf

der Blutdruckmedikation beruhenden Ne-

benwirkungen in der Intensivgruppe.

Ob die SPRINT-Studie künftig tatsächlich

zu einem Revival strengerer Blutdruckziele

in den Guidelines führen wird, ist offen.

Schliesslich sprechen viele gute Gründe für

die derzeitigen Grenzwerte, die nicht wegen

einer einzigen Studie mit einem ganz be-

stimmten, streng ausgewählten Kollektiv

vorschnell über Bord geworfen werden

dürften.

RBOO

The SPRINT Research Group: a randomized trial of intensive versus standard blood-pressure control. N Engl J Med 2015; 373: 2103– 2116.

Psychiatrie
Nutzen von Methylphenidat gegen ADHS nur schlecht belegt

Seit mehr als 50 Jahren wird Methylphenidat gegen ADHS gegeben, doch der tatsächliche Nutzen der weltweit am häufigsten für diese Indikation eingesetzten Substanz ist bei Weitem nicht so gut belegt, wie viele glauben. Das ist das Ergebnis einer neuen Cochrane-Analyse. Das dänische Team um Prof. Ole Jakob Storebø sichtete dafür 185 randomisierte Studien mit mehr als 12 000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 18 Jahren. In all diesen Studien wurde Methylphenidat entweder mit einem Plazebo oder mit keiner Intervention verglichen. In der Summe fanden sich mit Methylphenidat mässige Verbesserungen der ADHS-Symptome, des allgemeinen Verhaltens und der Lebensqualität. Etwa ein Viertel der behandelten Kinder und Jugendlichen litt unter Nebenwirkungen wie Schlafproblemen und Appetitlosigkeit. Angesichts der Vielzahl an Studien und der hohen Probandenzahl möchte man annehmen, dass die Wirksamkeit des Methylphe-

nidats damit gut belegt sein sollte. Ist sie aber nicht, denn die Qualität all dieser Studien lasse erheblich zu wünschen übrig, so die Cochrane-Autoren. Verlässlich seien all diese Resultate darum nicht. Das Urteil der Cochrane-Autoren über die Studienqualität ist vernichtend: 96,8 Prozent der Studien seien mit einem hohen Biasrisiko behaftet, und die Resultate wurden mit qualitativ fragwürdigen Methoden ermittelt. So sei offensichtlich, dass die Verblindung in den Studien generell sehr zu wünschen übrig lasse. Dies gelte nicht nur für die Studien ohne Plazebo (keine Intervention), sondern auch für die plazebokontrollierten. Allein schon wegen der typischen Nebenwirkungen könne man leicht erkennen, wer Methylphenidat erhalten habe und wer nicht. Statt eines Plazebos hätte man darum besser ein sogenanntes Nozebo verabreicht, das ähnliche Nebenwirkungen verursacht, um die für eine qualitativ gute Studie erforderliche Verblindung zu gewährleisten. Darüber hinaus seien die

Resultate in vielen Studien nur unvollstän-

dig und mitunter widersprüchlich dargelegt

worden, heisst es in einer Pressemitteilung

der Cochrane-Library.

«Dieser Review unterstreicht die Notwen-

digkeit langfristiger, grosser und qualitativ

besserer, randomisierter Studien, um die

durchschnittliche Wirksamkeit dieser Sub-

stanz verlässlicher zu bestimmen», sagte

Storebø. Zum Absetzen des Methylphenidats

raten die Forscher trotzdem nicht unbedingt:

«Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher einen

Nutzen ohne Nebenwirkungen verspürt, kann

es gute klinische Gründe dafür geben, es

weiterhin zu verwenden», meinte Dr. Morris

Zwi, einer der Autoren des Reviews. Aller-

dings müsse man sich darüber im Klaren

sein, dass «unsere Erwartungen an diese

Behandlung wahrscheinlich höher sind, als

sie sein sollten», so Zwi.

RBOO

Storebø OJ et al.: Methylphenidate for attention-deficit/hyperactivity disorder in children and adolescents: Cochrane systematic review with meta-analyses and trial sequential analyses of randomised clinical trials. BMJ 2015; 351: h5203.

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ARS MEDICI 24 I 2015

MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Gynäkologie
Swissmedic streicht Akne-Indikation für hormonelle Kontrazeptiva

In den Schweizer Arzneimittelinformationen der kombinierten hormonellen Kontrazeptiva mit antiandrogenen Eigenschaften werden sämtliche Hinweise auf eine vorteilhafte AntiAkne-Wirkung gestrichen. Betroffen sind Kontrazeptiva mit den Wirkstoffen Chlormadinonacetat oder Drospirenon. Grund für die Streichung ist das erhöhte Risiko venöser Thromboembolien (VTE). Die ausserhalb der Kontrazeption beanspruchten Vorteile rechtfertigten aufgrund des potenziell lebensbedrohlichen VTE-Risikos keine erweiterte Verschreibung neben der zur Kontrazeption, heisst es in einer Mitteilung von Swissmedic. Die Präparate bleiben als Kontrazeptiva zugelassen, sollen aber nicht mehr gegen Akne eingesetzt werden. Das absolute VTE-Risiko durch kombinierte hormonelle Kontrazeptiva sei zwar gering, habe aber angesichts der grossen Zahl gesunder Frauen, die diese Medikamente anwenden, erhebliche Folgen, so Swissmedic. Gemäss einer Schätzung aus dem Jahr 2011

nehmen sie rund 400 000 Frauen in der Schweiz, was rechnerisch 200 bis 480 dadurch verursachte VTE-Fälle pro Jahr bedeuten würde. Das VTE-Risiko beträgt gemäss den Inzidenzangaben der Europäischen Arzneimittelbehörde pro Jahr und 10 000 Frauen: O 2 VTE bei nicht schwangeren Frauen ohne
kombinierte Kontrazeptiva O 5 bis 7 VTE mit Levonorgestrel, Norgestimat
oder Norethisteron O 6 bis 12 VTE mit Etonogestrel oder Norel-
gestromin O 9 bis 12 VTE mit Gestoden, Desogestrel
oder Drospirenon O für Chlormadinonacetat, Dienogest oder
Nomegestrolacetat liegen zu wenig Daten vor.

Im Zusammenhang mit der Einnahme kom-

binierter hormoneller Kontrazeptiva wurden

in den letzten fünf Jahren durchschnittlich

zirka 50 VTE-Fälle pro Jahr in der Schweiz

gemeldet.

RBOO

Sportmedizin
Knorpel- und Hirnregeneration bei Langstreckenläufern

Während des «Trans Europe Footrace» legen die Läufer in Tagesetappen von durchschnittlich 70 Kilometern extreme Strecken ohne Ruhetage quer durch Europa zurück. So führte der erste Lauf im Jahr 2003 über 5036 km von Lissabon bis Moskau, der zweite Lauf 2009 von Bari bis zum Nordkap (4488 km) und der vorerst letzte vor drei Jahren von Skagen nach Gibraltar (4176 km). Den Lauf von Bari bis zum Nordkap nutzten Sportmediziner für eine MRI-Studie, um den Einfluss der extremen Laufbelastung für die Fuss- und Kniegelenke bei 44 der Teilnehmer zu untersuchen. Die Läufer wurden von einem mobilen MRI-Truck begleitet und alle drei bis vier Tage gescannt, sodass am Ende von jedem Teilnehmer 15 bis 17 MRI-Aufnahmen vorlagen. Mit Ausnahme des Patellaknorpels fanden sich nach den ersten 1500 bis 2500 Kilometern Knorpelveränderungen in Sprungund Kniegelenken. Die Läufer dachten jedoch nicht ans Aufhören und setzten ihr Rennen ungerührt fort. Die Überraschung: Mit der

Zeit regenerierte der Knorpel trotz der anhal-

tenden Laufbelastung. Ein weiterer Befund

war, dass der Durchmesser der Achilles-

sehne wuchs. Hingegen fanden sich keine re-

levanten Schäden an Knochen oder Weichge-

webe, so Dr. Uwe Schütz, Erstautor der Studie.

Nebenbei scannten die Forscher auch den

Kopf der Athleten und stellten einen Rück-

gang der Substantia grisea um 6,1 Prozent am

Ende des Rennens fest. Nach acht Monaten

war der Befund wieder normal: «Trotz erheb-

licher Veränderungen der Gehirnzusammen-

setzung während des katabolischen Stress-

zustands in einem Ultramarathon konnten wir

feststellen, dass diese Veränderungen rever-

sibel und adaptiv sind. Es gibt keine persisitie-

rende Hirnschädigung bei trainierten Athle-

ten, die an einem Ultralauf teilnehmen», so

Uwe Schütz.

RBOO

Pressemitteilung der Radiological Society of North America vom 30. November 2015.

Rückspiegel

Vor 10 Jahren
Kritik an Betablockern
Betablocker sollten nicht mehr erste Wahl für die Senkung eines zu hohen Blutdrucks sein, fordern Lars Lindholm und seine Koautoren als Resultat ihrer Metaanalyse. Die antihypertensive Wirkung der Betablocker sei nicht optimal. Auch reduzierten sie das Schlaganfallrisiko in geringerem Ausmass als andere Antihypertonika: Es sinke zwar auch mit Betablockern, aber Patienten unter Betablockern hätten im Vergleich mit Patienten unter anderen Hypertonika ein um 16 Prozent höheres Schlaganfallrisiko, so Lindholm.

Vor 50 Jahren
Bypass-OP mit Darmgewebe
Der kanadische Chirurg Arthur Martin Vineberg präsentiert am Kardiologenkongress in den USA die Resultate von 62 Angina-pectoris-Patienten, bei denen er Bypässe mithilfe von Omentum-Gewebe des Darms gelegt hat. Drei Patienten starben während des Eingriffs, bei fast allen anderen seien die Angina-pectoris-Anfälle jedoch verschwunden. Der komplizierte Eingriff komme jedoch nur für Patienten infrage, bei denen alle anderen Massnahmen nichts mehr nützten. Der Chirurg hatte bereits 15 Jahre zuvor die sogenannte Vineberg-Methode erfunden, bei der die A. mammaria interna in das hypoxische Myokard verpflanzt wird – ein Verfahren, das bis Anfang der 1970er-Jahre angewendet wurde.

Vor 100 Jahren

Trockener Soldatenfuss

In Kriegszeiten beschäftigt das Problem

des «Schützengrabenfusses» – einer massi-

ven Schädigung des Fusses infolge feuchter

Kälte – die Wissenschaft. Im «British Medical

Journal» vom 18. Dezember 1915 stellt She-

ridan Delépine, Forscher mit Schweizer Wur-

zeln und damals Direktor des Public-Health-

Labors an der Universität Manchester,

Produktion, Gebrauch und Pflege eines was-

serdichten Innenschuhs vor. Zwar seien was-

serdichte Schuhe sicher die beste Lösung,

schreibt Delépine, mit dem Innenschuh könne

man aber die zurzeit verfügbaren Soldaten-

schuhe auch weiterhin verwenden.

RBO

ARS MEDICI 24 I 2015