Transkript
Vom Umgang mit impfkritischen Eltern
Ein Kommentar aus der Praxis
SCHWERPUNKT
Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste. Beim Impfen kann es aber sein, dass das, was der Kinderarzt für das Beste für das Kind hält, überhaupt nicht das Beste in den Augen der Eltern ist. Es liegt in der Einstellung jeden Arztes, wie er mit diesem Konflikt umgeht. Beharrt er – unter Strafandrohung, nämlich Ausschluss aus dem Patientenstamm seiner Praxis – auf seiner Meinung, oder lässt er den Eltern Spielraum? Lässt er sie frei entscheiden, oder schliesst er mit ihnen Kompromisse bezüglich Umfang und Zeitpunkt der Impfungen?
Von Stephan Rupp
Überlegen wir uns doch, wie die Eltern zu ihrem Impfentscheid kommen. Hier stellt sich zunächst die Frage: Wer ist die Peergroup der Eltern? Diese meist unerfahrenen, werdenden oder frischgebackenen Eltern bewegen sich in einem spezifischen sozialen Umfeld. Dort werden interessante Themen, wie das Impfen, mit Leuten in der gleichen Situation diskutiert. Bald bilden sich Opinionleader, die den Impfentscheid der Gruppe massiv beeinflussen. Sie stossen mit Argumenten, zum Beispiel, dass man das Kind nicht noch durch Impfungen belasten dürfe, dass Stillen ja ohnehin alle Krankheiten verhindere und dass die Impferei ja nur im Interesse der Industrie sei, auf offene Ohren. Wer möchte sein Kind noch mit Impfungen belasten, wenn alles genauso gut ohne geht? Es bildet sich eine Art Gruppendynamik, die zu negativen Impfentscheiden führen kann, bevor der Pädiater sich überhaupt nur mit einem Wort zur Problematik äussern kann. Für den Kinderarzt ist es wichtig abzuschätzen, aus welchem Umfeld die Eltern kommen. Manchmal hilft dabei der genaue Wohnort, manchmal auch, welche Schwangerschaftsvorbereitung besucht wurde. Spannend ist sicher auch ein Blick ins Wartezimmer. Wer begleitet allenfalls die Eltern? Für den Pädiater ist es schwierig, gegen die Dynamik der Peergroup anzukämpfen. Impfen bedeutet, den Kodex der Gruppe zu brechen. Entscheidend wäre, die Opinionleader zu überzeugen, was aber schwierig ist, da diese mit einem Meinungswechsel ihre Position riskieren würden. Die Mitläufer sind vielleicht leichter zu überzeugen, werden sich aber hüten, sich in Opposition zur Peergroup zu stellen.
Bereits in der Geburtsvorbereitung werden Weichen gestellt
Für die Eltern ist die Geburtsvorbereitung eminent wichtig. Sie treffen dort auf eine Fachperson, die alles
über Schwangerschaft und Geburt weiss und sich so eine Autorität schafft. Sie kümmert sich um die Schwangere und ihren Partner. Was sie sagt, muss richtig sein. Sie hat eine Stellung, die der Frauenarzt, der eher als «Techniker» wahrgenommen wird, nicht haben kann. Zu diesem Zeitpunkt ist der Kinderarzt noch gar kein Thema. In der Geburtsvorbereitung werden ganz früh die Weichen gestellt für oder gegen die Impfung. Die Meinung der Geburtsvorbereiterinnen ist für die Eltern manchmal fast Gesetz. Es ist wichtig, dass sich der Kinderarzt schon früh einbringt und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Geburtsvorbereiterinnen aufbauen kann. Allenfalls müsste eine vorgeburtliche Konsultation in Betracht gezogen werden.
Familiäres, paramedizinisches und medizinisches Umfeld
Neben der Peergroup gibt es noch weitere Netzwerke, die den Impfentscheid eines Elternpaares beeinflussen. Meist hat die Grossmutter, eher mütterlicherseits, noch ein Wort mitzureden. Welche Impferfahrungen gibt es in der Familie? Haben die Schwester und der Bruder der Eltern die Kinder geimpft oder nicht? In meiner Praxis ist der Impfentscheid mehrheitlich «weiblich». Die Mutter und die Grossmutter mütterlicherseits sind federführend. Die anderen dürfen sich äussern, doch wer entscheidet, ist eigentlich von vornherein klar. Auch wenn das viele Pädiater gar nicht gerne hören, so sind sie doch meist nicht die Einzigen, die sich um das Wohlergehen der kleinen Patienten kümmern. Es wird immer wichtiger zu wissen, wer noch in die Behandlung der Kinder involviert ist. Neben dem Homöopathen gibt es den Osteopathen, vielleicht sogar noch den Craniosacraltherapeuten oder den Atlastherapeuten, auch Drogist und Apotheker müssen sich noch äussern, die spirituelle Heilerin und die Kinesio-
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Es gilt, die Ängste der Eltern ernst zu nehmen und zu diskutieren.
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SCHWERPUNKT
Die Geburtsvorbereiterinnen sollten unsere Verbündeten sein.
Man muss die Informationsquellen und die Peergroup der Eltern kennen.
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login haben ebenfalls eine Ansicht, und der Bioresonanzapparat will auch noch berücksichtigt sein. Die Eltern verlieren zum Teil fast selbst den Überblick, was im Dschungel der aktuellen Angebote auch fast nicht anders möglich ist. Kenne ich das medizinische und paramedizinische Umfeld des Kindes, kann ich eine Beratung besser und gezielter durchführen.
Ängste
Bei Eltern, die Impfungen bei ihrem Kind nicht durchführen lassen wollen, spielen Ängste eine wichtige Rolle. Es ist Aufgabe von uns Kinderärzten, diese Ängste ernst zu nehmen und zu diskutieren. Es existieren verschiedene Ängste: vor der Spritze, davor, dass das Immunsstem belastet wird, es gibt die Angst, dem Kind zu schaden oder es zum Leiden zu bringen – und man ist selbst schuld. Die Eltern müssen diese Ängste äussern dürfen. Unsere Aufgabe ist es, darüber zu diskutieren und Lösungen zu bieten. Manchmal reicht es, wenn man Hilfe anbietet (z.B.: «Wenn etwas Besonderes passiert, rufen Sie mich jederzeit an»), oder man versucht, die teilweise unangenehmen Begleiterscheinungen einer Impfung durch das positive Ziel eines Schutzes gegen die Krankheit abzuschwächen. Es gibt kein Patentrezept, da jedes Elternpaar und jeder Arzt anders ist.
Informationsquellen der Eltern
Impfkritische Eltern sind nicht uninformiert. Meist ist das Gegenteil der Fall. Häufig sind dem Entscheid Internetrecherchen vorangegangen. Leider ist das Internet ein Sammelsurium von ungeordneten, ungewichteten Informationen. Meist finden sich unter den Suchwörtern mehr impfkritische als impfpositive Seiten. Prominent tritt dort zum Beispiel das Netzwerk Impfentscheid, früher Aegis Schweiz, auf. Es lohnt sich, diese Seite zu besuchen, damit Sie wissen, welche Argumente gegen das Impfen hier ins Feld geführt werden: Sie würden als Arzt die Krankheit Masern und deren Komplikationen verwechseln, mit Homöopathie könne man sowieso alle Masernkomplikationen ausschliessen, und man verbaue dem Kind mit der Impfung Chancen, denn Masern seien nützlich, weil sie auch zum Ausheilen von Bettnässen und Stottern führten und die Selbstständigkeit förderten – um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn Sie als Eltern solche Informationen erhalten, dann werden sie es sich zweimal überlegen, ob sie ihr Kind impfen lassen wollen oder nicht. Es lohnt sich für einen Arzt, solche Seiten zu besuchen, und sei es nur, um zu wissen, was die Eltern genau lesen. Manchmal beginne ich eine Impfdiskussion mit der Frage: «Was haben Sie schon gelesen?» Damit lassen sich gewisse Diskussionen vereinfachen, da klar ist, welche Informationen sich der Patient wo beschafft hat.
Und nun?
Die Konsequenz ist, dass die Impfinformation bereits früh einsetzen muss, schon bevor wir Kinderärzte normalerweise überhaupt in Kontakt mit den Eltern treten können. Eine Möglichkeit sind Impfvorträge. Doch leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass meist zwei klassi-
sche Gruppen von Eltern erscheinen, nämlich die, die sich in ihrer Meinung bestätigen lassen wollen, und die, die nur da sind, um zu kritisieren. Ich denke nicht, dass ein Vortrag in vielen Fällen zu einem sinnvollen Impfentscheid beitragen wird. Wichtig ist aber, dass wir die Peergroup der Eltern kennen und dort unsere Meinung einbringen, direkt oder indirekt via andere Gruppenmitglieder. Auch die Geburtsvorbereiterinnen müssen unsere Verbündeten sein, da eine impfkritische Einstellung in diesem Rahmen lange negativ nachwirken kann. Wir müssen uns darum bemühen, dass die Internetsuche nicht mehrheitlich zu impfnegativen Seiten führt. In einem gewissen Sinne ist es schade, dass impfende Eltern häufig viel weniger militant und initiativ sind als Impfverweigerer, die ja schliesslich eine Philosophie vertreten müssen, die nicht der Mehrheitsmeinung entspricht. Minderheiten sind immer kämpferischer. Es wäre wünschenswert, wenn eine impfpositive Elternvereinigung gegründet würde, die mit Öffentlichkeitsarbeit und Internetauftritten für eine ausgewogene Information sorgen würde. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das Wir-Gefühl und ein gewisses «Rebellenfeeling» nur bei den Impfkritikern vorhanden ist. Die andern Eltern lassen ihre Kinder einfach impfen – ohne grosses Trara. Vielleicht müssen wir unsere Wortwahl etwas ändern. Wenn ich impfe, mache ich weh, wenn ich vor einer Krankheit schütze, tue ich etwas Positives. Vielleicht sollte ich auch nicht impfen, damit ich nicht krank werde, sondern damit ich gesund bleibe. Es gibt noch viele solche Beispiele. Wir müssen neben der Peergroup der Eltern und den familiären Verhältnissen auch das paramedizinische Umfeld der Familie kennen, um auf die sich daraus ergebenden diskrepanten Meinungen eingehen zu können. Überhaupt ist es absolut wichtig zu wissen, woher die impfkritische Haltung von Impfverweigerern stammt, welche Theorien dahinterstehen. Nur wenn ich die Motivation kenne, kann ich gezielt auf die sich daraus ergebenden Fragestellungen eingehen. Ausserdem soll Nichtimpfen Konsequenzen haben. Der Schulausschluss bei einem Masernausbruch in den Schwyzer Schulen hat viele Eltern dazu bewogen, einen negativen Impfentscheid zu überdenken. Entscheidend für eine Vertrauensbasis zwischen Eltern und Arzt ist, dass wir zuhören können, die Eltern Ängste äussern lassen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Eltern und Kinderarzt müssen ein Team sein, das sich um die Gesundheit des Kindes kümmert, ein Team, in welchem jeder den anderen schätzt und akzeptiert. Ein Team, in welchem man ehrlich ist zueinander. Auch wenn dieses Team nicht in jedem Punkt die ärztliche Empfehlung umsetzt, ist der gemeinsame Entscheidungsprozess im Sinne des Kindes wichtig. Und es braucht Zeit. Manchmal ist Pädiatrie die Kunst, den Eltern und Kindern Zeit zu geben, die man eigentlich gar nicht hat.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Stephan Rupp Spitalstrasse 30, 8840 Einsiedeln E-Mail: stephan_rupp@bluewin.ch
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