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Titel
«Patientennutzen» aus gesundheitsökonomischer Sicht
Untertitel
-
Lead
Die Gesundheitsökonomie stellt verschiedene wertvolle Instrumente zur Verfügung, um den Nutzen von Inter- ventionen zu bewerten. Der Leiter des Winterthurer Insti- tuts für Gesundheitsökono- mie (siehe Kasten) zeigt auf, was die gesundheitsökono- mische Nutzenforschung leisten kann, wo ihre Gren- zen liegen und wie die Gren- zen zu überwinden wären.
Datum
Autoren
-
Rubrik
Schwerpunktthema: Gesundheitsplatz Winterthur - Unternehmergeist und Patientenorientierung
Schlagworte
-
Artikel-ID
17530
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GESUNDHEITSPLATZ WINTERTHUR – UNTERNEHMERGEIST UND PATIENTENORIENTIERUNG
«Patientennutzen»
aus gesundheitsökonomischer Sicht

Die Gesundheitsökonomie
stellt verschiedene wertvolle
Instrumente zur Verfügung,
um den Nutzen von Inter-
ventionen zu bewerten. Der
Leiter des Winterthurer Insti-
tuts für Gesundheitsökono-
mie (siehe Kasten) zeigt auf,
was die gesundheitsökono-
mische Nutzenforschung
leisten kann, wo ihre Gren-
zen liegen und wie die Gren-
zen zu überwinden wären.
Urs Brügger
D as schweizerische Gesundheitswesen ist insgesamt gut, aber teuer. Diese Ansicht teilen viele Beobachter. Was heisst das nun aber konkret? Stimmt das «PreisLeistungs-Verhältnis» oder stimmt es nicht? – Ob ein Preis angemessen ist, hängt von der Gegenleistung ab. Ökonomen verwenden für die Bewertung der Gegenleistung den Begriff des Nutzens. Vereinfacht ausgedrückt, beinhaltet der Nutzenbegriff die Zufriedenheit, die ein Produkt oder eine Dienstleistung einem Kunden, einem Konsumenten oder eben einem Patienten aufgrund seiner Bedürfnisse bringt.
Nutzenforschung
Typischerweise beginnen Ökonomielehrbücher mit einer Definition von Ökonomie, die sinngemäss fol-

gendermassen lautet: «Ökonomie ist die Wissenschaft von den Entscheidungen im Zusammenhang mit der Verwendung knapper Ressourcen.» Wir leben zwar in einer Wohlstandsgesellschaft, aber nicht im Schlaraffenland; Ressourcen sind begrenzt und müssen deshalb effizient eingesetzt werden – das gilt auch für das Gesundheitswesen. Die Effizienz der Ressourcenverwendung sollte in jedem Fall am Nutzen für die Leistungsempfänger gemessen werden. Innerhalb der Gesundheitsökonomie beschäftigt sich primär das Gebiet der «Nutzenforschung» mit Nutzenfragen. Zur Nutzenforschung gehören insbesondere die Evidence Based Medicine (EBM) und das Health Technology Assessment (HTA).
EBM, HTA und ihre ökonomischen Instrumente
Die Evidence Based Medicine (EBM) will Entscheidungen über die Behandlung individueller Patienten stützen durch «den bewussten, expliziten und abwägenden Gebrauch der gegenwärtig verfügbaren Beweise» aus wissenschaftlichen Studien guter Qualität [1]. Gemacht werden soll also nur, was nachweislich etwas bringt; mehr und mehr gelangt man auch in der EBM zur Überzeugung, dass nicht nur die Frage nach der Wirksamkeit, sondern auch jene nach der Kostenwirksamkeit (= Wirtschaftlichkeit) direkt gestellt werden muss. Analog zur EBM in der Medizin haben sich ähnliche Ansätze auch in der Pflege (Evidence Based Nursing) und in der Physiotherapie entwickelt. Das Health Technology Assessment (HTA) kann definiert werden als

Urs Brügger
«eine Form der Politikfeldanalyse (Policy Research), die systematisch kurz- und langfristige Konsequenzen der Anwendung einer medizinischen Technologie, einer Gruppe verwandter Technologien oder eines technologiebezogenen Sachverhalts untersucht» [2]. Der Begriff «Technologie» wird dabei sehr breit gefasst und beinhaltet Medikamente, Instrumente, Geräte, medizinische, therapeutische und pflegerische Prozeduren, aber auch organisatorische und unterstützende Systeme des Gesundheitswesens. Obwohl beide, EBM und HTA, als zugleich wissenschaftliche wie auch praxisorientierte Ansätze angelegt und in vielem ähnlich sind, unterscheiden sie sich doch in einem wichtigen Punkt: Während EBM auf die einzelne klinische Entscheidung als Anwendungskontext abzielt, richtet sich HTA an gesamtgesellschaftliche Entscheidungsträger. Gemeinsam ist beiden Gebieten die Anwendung einer Reihe von ökonomischen Methoden, welche jeweils Aufwand und Ergebnis von Interventionen zueinan-

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der in Beziehung setzen und bewerten [3]. Drei dieser Methoden werden im Folgenden kurz vorgestellt:
Kosten-Effektivitäts-Analyse (CostEffectiveness-Analysis): Bei dieser Form der Evaluation wird der Aufwand (Input) für zwei oder mehrere alternative Interventionen als Geldwert angegeben, die Ergebnisse aber werden in natürlichen Einheiten, beispielsweise verhinderten Invaliditätsjahren oder vermiedenen Krankheitsfällen (verhinderten Kreislauferkrankungen, Stoffwechselstörungen oder Hospitalisationstagen, Operationen usw.) angegeben.
Kosten-Nutzwert-Analyse (Cost-Utility-Analysis): Hier wird der Aufwand (Input) als Geldwert angegeben, die Konsequenzen jedoch werden, soweit sie sich nicht direkt monetär erfassen lassen, in Form von Lebensqualität ausgedrückt. Zur Abschätzung des Nutzwertes («Utility Value») stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung. Am bekanntesten sind die «Quality-adjusted Life Years» (QALYs). Gemäss diesem Konzept werden die gewonnenen Lebensjahre nicht nur gezählt, sondern auch mit der Lebensqualität gewichtet.
Kosten-Nutzen-Analyse (Cost-Benefit-Analysis): Hier werden sowohl der Input als auch sämtliche Konsequenzen über die gesamte Beobachtungszeit in monetären Einheiten angegeben. So muss beispielsweise für ein gewonnenes Lebensjahr ein Geldbetrag eingesetzt werden. Während die ersten beiden Methoden nur relative Beurteilungen von Interventionen zulassen (eine Intervention kann mit einer anderen verglichen werden), lässt sich mit der Kosten-Nutzen-Analyse auch eine absolute Beurteilung vornehmen (eine einzelne Intervention kann direkt bewertet werden).

Grenzen dieser Verfahren
So gut und so etabliert diese drei ökonomischen Methoden auch sind, sie haben ihre Grenzen: Erstens beruhen sie ausschliesslich auf dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit. Sie liefern damit eine gute Entscheidungsgrundlage, ermöglichen jedoch nicht automatisch Entscheidungen über die «richtige» Verwendung von Ressourcen. Dazu braucht es zusätzlich ethische und politische Überlegungen. Letztlich spielen dabei Werthaltungen eine wichtige Rolle. Zweitens werden in der konkreten Anwendung dieser Verfahren häufig Ergebnisgrössen berücksichtigt, die vom Forscher vorgegeben sind und nicht von den Patienten. Der (Pati-

enten-)Nutzen ist jedoch per Definition ein subjektives Konzept. So werden für die Bewertung der Ergebnisseite noch viel zu selten direkt bei den Patienten erhobene Präferenzen berücksichtigt.

Forschungs- und Handlungsbedarf
Würde es sich beim Gesundheitswesen um einen «richtigen» – Ökonomen würden sagen: «effizienten» – Markt handeln, könnte man davon ausgehen, dass die Nachfrage die Bedürfnisse widerspiegelt und dass die Kräfte von Angebot und Nachfrage den Markt koordinieren. Dadurch wäre sichergestellt, dass der Markt auf den Patientennutzen ausgerichtet ist. Dem Gesundheitswesen fehlen jedoch wichtige Merkmale eines effizienten Marktes, vor allem weil Patienten die Leistungen in der Regel nicht oder nur teilweise selber bezahlen und weil sie in der Regel im

Das Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie
Das Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG) ist spezialisiert auf ökonomische und sozialwissenschaftliche Fragen im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens. Die Aktivitäten des WIG umfassen Aus- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung sowie Beratung. Das Institut konzentriert sich dabei auf folgende Themen: ■ Management-Ausbildung im Gesundheitswesen ■ Nutzenforschung (Evidence Based Medicine EBM/Health Technology Assess-
ment HTA) ■ Steuerungssysteme im Gesundheitswesen.
Das WIG ist Teil der Zürcher Hochschule in Winterthur (ZHW). Gegenwärtig besteht es aus sieben Mitarbeitenden mit fachlichem Hintergrund in den Bereichen Management, Medizin, Ökonomie, Pflege, Sozialwissenschaft und Wirtschaftspädagogik. Dem WIG steht ein Förderverein zur Seite, der aus namhaften Organisationen des Gesundheitswesens besteht, die mehrheitlich in und um Winterthur angesiedelt sind.
Weitere Informationen und Aktualitäten finden sich im Internet: www.wig.ch

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Vergleich zum Arzt weniger über ihre Krankheiten und die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten wissen (während der Arzt auch nie völlig sicher sein kann, ob der Patient ihn richtig informiert hat). Diese Bedingungen führen dazu, dass tendenziell zu viele (sprich: «unnütze») Leistungen produziert werden. Kaum jemand hat ein Verlangen nach Medikamenten, Operationen oder Prothesen. Menschen wollen aber Freunde besuchen und sich mit ihnen unterhalten, sie wollen Tennis spielen, schmerzfrei Treppen steigen, ihrer Arbeit nachgehen oder ihre Sexualität leben können. Der Nutzen der Medizin für den Patienten liegt in den erhaltenen oder gesteigerten Fähigkeiten und nicht in den «reparierten» Organen und «normalisierten» Laborwerten [4]. Nicht die völlige Gesundheit – sie ist sowieso eine Illusion –, sondern dem Alter und den Bedürfnissen angemessene Fähigkeiten sollten also das Ziel sein. Die diesbezüglichen Erwartungen haben sich in westlichen Gesellschaften allerdings stark

Fotos: Stefan Kubli, Winterthur
erhöht. Die Menschen haben mehrheitlich verlernt, Tod, Schmerz und Krankheit als normale Begleiterscheinungen des Lebens zu akzeptieren und damit umzugehen. Für ein effizienteres Gesundheitswesen müssten also einerseits Leistungen noch mehr am Patientennutzen orientiert werden. Dafür braucht es präziseres Wissen über den Patientennutzen selber und bessere Anreizstrukturen, welche das Angebot und die Nachfrage effizienter steuern. Andererseits müsste die Angebotsseite des Gesundheitswesens (Ärzte, Pharmafirmen usw.) die Heilsversprechungen wieder etwas zurücknehmen, die Erwartungen herunterschrauben und stattdessen realistischere Vorstellungen von Tod, Schmerz und Krankheit vermitteln [5]. Menschliche Bedürfnisse sind grenzenlos, finanzielle Mittel sind es aber nicht. Schliesslich wird kein Weg daran vorbei führen, über Begrenzungen von Leistungen im Gesundheitswesen zu diskutieren und auch entsprechende Massnahmen zu treffen. Dafür können ökonomische Nutzenüberlegungen eine Diskussionsgrundlage bilden. Dass Patienten den maximalen Nutzen medizinischer Versorgung nicht immer in einer maximalen Medizin sehen, zeigt etwa die zunehmende Zahl der Pati-

entenverfügungen, in denen Menschen, noch während sie gesund sind, schriftlich festhalten, auf welche aufwändigen lebensverlängernden Massnahmen sie im Falle des nahen Todes verzichten wollen. ■
Autor:
Dr. oec. Urs Brügger
Institutsleiter/Dozent Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG) Im Park, St. Georgenstrasse 70,
Postfach 958 8401 Winterthur E-Mail: urs.bruegger@zhwin.ch Internet: www.wig.ch
Literatur:
1. Greenhalgh, Trisha (2000): Einführung in die Evidence-based Medicine. Bern: Hans Huber.
2. Perleth, Matthias; Schwartz Friedrich Wilhelm (2002): Health Technology Assessment (HTA), evidenzbasierte Medizin (EbM). Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 44: 857–64.
3. Schöffski, Oliver; v.d. Schulenburg J.-Matthias G. (Hrsg.) (2002): Gesundheitsökonomische Evaluation. Berlin: Springer.
4. Dubs, Luzi (2000): Der Patient als Experte – Einführung in eine evidenzbasierte Orthopädie. Zeitschrift für Orthopädie und ihre Grenzgebiete 138: 289–294.
5. Marti, Christian (2004): Abzockerei in der Medizin – das Geschäft mit Hoffnung und Angst. VSAO Journal 4: 25–27.

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