Transkript
GESUNDHEITSPLATZ WINTERTHUR – UNTERNEHMERGEIST UND PATIENTENORIENTIERUNG
Patientenorientierung
in der Integrierten Psychiatrie Winterthur
Dass sich die Gesundheits-
versorgung primär an den
Bedürfnissen der Patienten
und nicht an jenen der Insti-
tutionen orientieren sollte, ist
längst unbestritten. Doch der
Grundsatz der Patientenori-
entierung ist organisatorisch
nicht ganz einfach umzuset-
zen. In der Integrierten Psy-
chiatrie Winterthur ipw wer-
den viel versprechende
Modelle erprobt.
Andreas Andreae, Sibylle Schröder
D ie so genannte «Patientenorientierung» ist zu einem zentralen Eckpfeiler der modernen Psychiatrieversorgung geworden. Auch in der Integrierten Psychiatrie Winterthur ipw (siehe Kasten) gilt sie als wichtigster Versorgungsgrundsatz. Im Folgenden wird zunächst erläutert, was unter Patientenorientierung zu verstehen ist. Danach wird aufgezeigt, wie dieser Grundsatz in der ipw umgesetzt wird.
Was heisst Patientenorientierung?
Patientenorientierung gilt in der internationalen PsychiatrieversorgungsWissenschaft als wichtigster Versorgungsgrundsatz. Patientenorientierung meint Nutzerzentrierung und be-
dürfnisgerechte Ausgestaltung psychiatrischer Angebote und will die Nachteile der Institutionszentrierung überwinden. Viele andere Versorgungsmaximen zielen ihrerseits unmittelbar auf die Patientenorientierung: die Vernetzung der gesamten psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung und Hilfe respektive der entsprechenden Anbieter und Mittel und deren Integration ins allgemeine medizinische und soziale Versorgungssystem; die «Gemeindenähe» als breite und freie Zugänglichkeit des Leistungsangebots mit unkomplizierter rascher Behandlung; die «Behandlungskontinuität» mit dem Ziel einer koordinierten und konstanten, wo nötig langfristigen und sogar aufsuchenden Behandlungsstrategie, Fallführung und Beziehungsarbeit; und die «Spezialisierung», welche differenziertes und gesichertes Wissen in die Vielfalt psychischer Problemstellungen und individueller Bewältigungsstrategien einbringen soll. Patientenorientierung respektiert, entsprechend dem Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, das Individuum und seine Rechte auf Freiheit, Identität, Eigenständigkeit, Würde, Diskretion und Vertrauen.
Patientenorientierung als organisatorische Herausforderung
Um eine zeitgemässe Patientenorientierung durchzusetzen, setzt die ipw vier Schwerpunkte: Erstens versucht sie, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit aktiv das oben beschriebene humane Menschbild zu vermitteln und das Psychiatrische zu entstigmatisieren und zu veralltäglichen. Dazu wird gezielt Wissen
Andreas Andreae
Sibylle Schröder
über typische Problemstellungen, Symptombildungen und Hilfestellungen vermittelt. Zweitens hat die patientenorientierte Psychiatrieversorgung dafür zu sorgen, dass im Normalalltag ein übersichtliches psychiatrisches Angebotsnetz, ähnlich der somatischen Medizin, bereitsteht, das vertraute Anlaufstellen wie Hausarztpraxen, Fürsorgestellen und das Allgemein-
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GESUNDHEITSPLATZ WINTERTHUR – UNTERNEHMERGEIST UND PATIENTENORIENTIERUNG
Kasten:
Integrierte Psychiatrie Winterthur
Die Integrierte Psychiatrie Winterthur ipw ist aus dem gleichnamigen Modellprojekt (1999–2003) zur Erprobung des kantonalen Zürcher Psychiatriekonzepts (1995/1998) hervorgegangen. Ziel des Projektes war es, für die Region Winterthur ein fortschrittliches Modell der psychiatrischen Versorgung zu entwickeln, das alle privaten und öffentlichen Behandlungs- und Betreuungsangebote vernetzt. Die ipw umfasst heute, an elf gemeindenahen, gut zugänglichen Standorten, alle kantonalen Angebote in der Stadt Winterthur und bietet eine breite Palette von gut untereinander verbundenen ambulanten, teilstationären und stationären Beratungs-, Abklärungs- und Behandlungsleistungen an. Zudem unterstützt und koordiniert sie gezielt die freien und kommunalen Angebote in der Primär- und Langzeitversorgung (Hausarzt- und Fachpraxen, psychiatrisch ausgerichtete Sozialhilfe, Wohnheime etc.) und fördert über systematische Weiterbildungs- und Fachveranstaltungen eine gute Versorgungsqualität. Auch nach Abschluss der eigentlichen Projektphase sind wichtige Elemente der neuen patientenorientierten Versorgung noch in Umsetzung und Erprobung.
spital einbezieht. Die ipw fördert deshalb die Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren mit Beratung, Konsilien, sozialpsychiatrischen Foren, Weiterbildung, Qualitätszirkeln und einer Netzwerkplattform in Form einer dreimal jährlich erscheinenden Zeitschrift mit thematischen Beträgen verschiedenster AkteurInnen («Synapse»). Drittens stellt die ipw für Patienten und Betroffene ergänzende gemeindenahe Ambulatorien, Beratungsstellen, Spezialsprechstunden, Tageskliniken und Kriseninterventionsstellen zur Verfügung. Und viertens trägt sie neu ihre Hilfe – wo nötig – auch möglichst nahe an den Lebensort eines Patienten heran und koordiniert die verschiedenen Hilfsangebote. Dazu hat die ipw ein Projekt «Case-Management» durchgeführt und ist daran, eine so genannte «aufsuchende Hilfe» aufzubauen. Im Folgenden wird der letztgenannte Schwerpunkt vorgestellt.
Case-Management in der ipw
Während den letzten zwei Jahren betreuten zwei Case-ManagerInnen der ipw 45 Patienten, meist aufgrund von längeren Erkrankungsphasen, häufigen Klinikaufenthalten, vielfachen sozialen Problemen und/oder fehlender Behandlungskonstanz. Case-Management hat zum Ziel, in Zusammenarbeit mit dem Helfernetz eine einheitliche, zielwirksame Unterstützung zu bewirken und durch psychische und
soziale Stabilisierung Spitaleinweisungen zu verhindern. «Ich möchte wie alle anderen Menschen in meiner vertrauten Umgebung leben und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen», wünschte sich zum Beispiel Frau M. Sie war in ihrer Jugendzeit schwer an Schizophrenie erkrankt und immer wieder in psychiatrischen Kliniken hospitalisiert. Seit bald einem Jahr begleitet eine Case-Managerin Frau M. und tritt als so genannte Schlüsselperson und als unabhängige und anwaltschaftliche Ansprechs- und Bezugsperson in Erscheinung. Als Koordinatorin organisiert und steuert die Case-Managerin den Hilfeprozess (siehe Abbildung) und wird zum Bindeglied, Regulator und Katalysator des Helfernetzes. Zu Beginn unterstützte die Case-Managerin Frau M. beispielsweise bei der Bewältigung ihrer Aufgaben im Haushalt, bis Frau M. genügend Vertrauen fand, um eine Haushelferin der Pro Senectute in die Wohnung zu lassen. Oder sie begleitete Frau M. zum Arbeitgeber, da sich Konflikte abzeichneten und eine frühzeitige Intervention den Stellenabbruch verhindern konnte. Inzwischen hat sich zwischen Frau M. und der Case-Managerin ein Vertrauensverhältnis gebildet, das auch bei psychischen Krisen, die immer wieder auftreten können, wirksam bleibt und Eskalationen eindämmt. Das patientenorientierte Case-Management stellt den Patienten mit seinen Zielen, Bedürfnissen und
Aufgaben ins Zentrum. Im Sinne des so genannten Empowerments (d.h. der Selbstbefähigung) achtet die Case-Managerin das Wahlrecht, die Selbstverantwortung und den EigenSinn der Patientin und respektiert deren «eigene» Zeit und «eigene» Wege. «Es war für mich ein befreiendes Gefühl festzustellen, dass ich aktiv eingreifen kann und meiner Erkrankung nicht hilflos ausgeliefert bin», meint Frau M. Die Früherkennung von Krisen ist bei Frau M. ein wichtiges Thema. Ein Vorsorgebogen und ein Krisenpass, die auch mit dem Helfernetz abgestimmt sind, unterstützen die Selbstbefähigung der Patientin. Seitdem Frau M. durch die Case-Managerin betreut wird, hat sich ihr Zustand stabilisiert. «Heute geht es mir recht gut. Wenn ich das mit meiner Befindlichkeit vor einem Jahr vergleiche, liegen Welten dazwischen», meint Frau M.
Ausbau patientenorientierter Angebote
Das Verfahren «Case-Management» hat sich in der ipw bewährt. In der hochgradig arbeitsteilig angelegten Sozial- und Gesundheitsversorgung ist es durch diese Methode möglich, komplexe soziale und gesundheitliche Probleme umfassend zu betrachten und der Fragmentierung in der Behandlungskette entgegenzuwirken. Der Patient gewinnt an Lebensqualität und Stabilität, was per saldo auch den akutpsychiatrischen Aufwand und die Fallkosten dämpft. Das neue Tarifsystem im Gesundheitswesen, Tarmed, erlaubt eine durchaus differenzierte Abrechnung solcher Leistungen. Uns ist aber mit diesem Projekt nochmals deutlich geworden, dass der umfassende Wandel weg von einer weit gehend institutionszentrierten hin zu einer patientenzentrierten Ausrichtung der psychiatrischen Versorgung auf politischer Ebene nicht leicht nachvollziehbar ist. Er erfordert nicht nur strukturelle Veränderungen in den Institutionen, sondern auch neue Finanzierungsmodelle, welche wirksame Anreize für Patientenorientierung bieten. Für ein erfolgreiches CaseManagement ist eine grosse Flexibi-
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Abbildung:
Module des Case-Managements in der ipw
Kontaktaufnahme Engagement
■ Erstgespräch ■ Klärungshilfe ■ Kontrakt
Dienstleistungsidee verwirklichen
Einschätzung Assessement
■ Situations-/Problemanalyse ■ Ressourcenanalyse ■ Einschätzung aller Beteiligten
Betroffene beteiligen
Hilfeplanung Planning
■ Bedarf und Ziele festlegen ■ Hilfen erörtern ■ Ressourcen untersuchen
Leitlinie: Effektivität und Effizienz
Ausführung Intervention
■ Hilfeplan als Kontrakt ■ eigene Hilfen festlegen ■ Begleitung/Vermittlung ■ Vernetzung/Koordination
Klarheit im Hilfeprozess
Kontrolle – Monitoring Controlling
Auswertung – Evaluation Beendigung der Hilfe
■ Akzeptanz für beide Seiten ■ Kooperation ■ Verlaufsbericht/Zwischenauswer-
tung ■ Modifikation/Revision
Steuern des Hilfeprozesses
■ Teilziele, Ziele überprüfen ■ Verhältnis Erfolg/Aufwand? ■ Qualität der Hilfen? ■ Fortführen oder Beendigen?
Leistungen überprüfen
lität bezüglich Ressourceneinsatz, zeitlicher Verfügbarkeit und Mobilität Voraussetzung. Das verlangt unter Umständen auch flexible Arbeitszeitmodelle. Zudem zeigte das Projekt auf, dass weitere Formen der aufsuchenden Hilfe entwickelt werden müssen, um auch Patienten zu erreichen, die sich wenig oder gar nicht auf die ambulanten Hilfestellungen einlassen können. Erfahrungen und Studien
insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum zeigen, dass mit aufsuchender Hilfe schwer psychisch erkrankte Menschen in der Gemeinde erreicht und behandelt werden können. In Modellen wie «ACT» (Assertive Community Treatment) oder «Case Management Teams» wird der Patient von Mitgliedern eines interdisziplinär zusammengesetzten Teams an seinem Lebensort aufgesucht und erhält die
nötige medizinische, pflegerische
und soziale psychiatrische Grund-
versorgung sowie weitere Hilfestel-
lungen, um die Herausforderungen
des Alltags bewältigen zu können.
Solche Interventionsmethoden sind
erfolgreich und senken die Häufig-
keit und Dauer von Klinikaufenthal-
ten erheblich. Entscheidend ist dabei
jedoch, dass die Behandlungsange-
bote individuell angepasst werden
können. Die ipw ist daran, Mittel
zu verlagern und von einem Gemein-
depsychiatrischen Zentrum aus mo-
bile Angebote auszubauen. Um
solche Modelle künftig auch gesamt-
schweizerisch einführen zu können,
braucht es allerdings auf versor-
gungspolitischer Ebene ein gründli-
ches Umdenken.
■
AutorInnen:
Andreas Andreae
Chefarzt Integrierte Psychiatrie Winterthur (ipw)
E-Mail: andreas.andreae@ipwin.ch
und
Sibylle Schröder
Leiterin Koordinationstelle, Sozialdienst und
Case Management ipw E-Mail: sibylle.schroeder@ipwin.ch
Weiterführende Literatur:
Gesundheitsdirektion Kanton Zürich (Hrsg.): Zürcher Psychiatrie. Psychiatriekonzept – Leitbild und Rahmenkonzept. Zürich, 1999.
Jenkins, R., Kessler, R., Leaf, Ph., Scott, J.: Psychiatrische Versorgungsstrukturen: Prinzipien und Voraussetzungen einer adäquaten Versorgung. In: Helmchen, H., Henn, F., Lauter, H., Sartorius, N. (Eds.): Psychiatrie der Gegenwart. 4. Aufl., Springer, Berlin, 1999.
Wolf Rainer Wendt: Case Management im Sozialund Gesundheitswesen. Lambertus-Verlag, Freiburg, 1999.
Van Riet, N., Wouters, H.: Case Management – Lehr- und Arbeitsbuch. Interact, Verlag für Soziales und Kulturelles, Luzern, 2002.
Stein, L.I., Santos, A.B.: Assertive Community Treatment of Persons With Severe Mental Illness. Norton Professional Books, 1998.
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