Transkript
LEBENSSTIL UND GESUNDHEIT
Plädoyer für vermehrte Investitionen in die Grundversorgung
In die Grundversorgung
investieren: Dies ist aus Sicht
der Autoren eine wichtige
Massnahme, um die Voraus-
setzungen für die integrierte
Versorgung in der Schweiz
zu verbessern.
Michael Peltenburg, Marco Zoller
I n der aktuellen politischen Diskussion ist die medizinische Grundversorgung Gegenstand verschiedenster Lösungsvorschläge mit dem Ziel, die Kosten des schweizerischen Gesundheitssystems in den Griff zu bekommen. Vorgeschlagen wird zum Beispiel die Limitierung der Anbieter und ihrer Leistungen oder die Budgetmitverantwortung der Anbieter. Nicht zur Diskussion stehen dagegen vermehrte Investitionen in die Grundversorgung. Genau solche Investitionen könnten jedoch aus unserer Sicht viel zur Kostendämmung beitragen. Im Folgenden werden wir zuerst eine Studie aus den USA vorstellen, welche aufzeigt, dass ein Ausbau der ambulanten Grundversorgung bei gleichzeitigem Abbau der stationären Strukturen innerhalb eines integrierten Versorgungsnetzes die Versorgung der Patientinnen und Patienten eindrücklich verbessert hat. Anschliessend werden wir fragen, ob und wieweit sich aus der amerikanischen Studie Erkenntnisse für die Schweiz ableiten lassen. Schliesslich werden wir Aspekte der aktuellen Situation der Grundversorgung in der Schweiz beschreiben
und aufzeigen, wo in der Schweiz konkrete Investitionen in die Grundversorgung nötig wären.
Die Studie
Die Veterans Health Administration (VA) betreut exklusiv Veteranen und ist das grösste Managed-Care-Modell der USA1. Die Patientinnen und Patienten der VA gehören einer tieferen sozialen Schicht an, sind morbider und haben eine höhere Arbeitslosigkeitsrate als die Gesamtpopulation der USA. 1995 begann die VA, das Versorgungssystem für ihre Versicherten zu ändern. Sie tätigte grosse Investitionen in die Qualität der Primärversorgung, schaffte regionale Netzwerke mit Budgetmitverantwortung (Capitation) und stellte die Strukturen für eine Verlagerung aus dem Spital in eine umfassende ambulante Versorgung bereit. Parallel dazu wurde in der Zeit von 1994 bis 1998 die Zahl der Akutbetten um 55 Prozent gesenkt. Kritiker befürchteten, dass ein zu starker Abbau der Akutbetten bei chronisch Kranken die Zahl der Notfallhospitalisationen erhöhe und die Überlebensrate senke. Die Studie von Ashton et al. [1] ging von dieser Annahme aus, und sie analysierte folgende Frage: Welche Auswirkung haben Schliessungen von Spitalbetten und die Verbesserung der Grundversorgung auf die Überlebensrate von Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen Krankheiten? Dazu wurden neun Gruppen mit insgesamt mehr als 230 000 Patientinnen und Patienten untersucht, die an einer der folgenden Krankheiten litten: chronisch obstruktive Pneumopathie (COPD), Lungenentzündung, Herzinsuffizienz, chronische Herzkranz-
Michael Peltenburg
Marco Zoller
gefässerkrankung, Zuckerkrankheit, chronisches Nierenversagen, manisch-depressive Störung, schwere Depression, Schizophrenie. Die Ergebnisse waren überraschend: In allen neun Patientengruppen
1 Die Veterans Health Administration (VA) verwaltet exklusiv für Veteranen 163 Spitäler, 859 Kliniken und 134 Alters-/Pflegeheime. Die VA ist das grösste Netzwerk der USA. 1998 beanspruchten mehr als 3 Millionen Veteranen medizinische Leistungen der VA.
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konnten in der Zeit von 1994 bis 1998 die gleichen Muster erkannt werden: ■ eine Reduktion der Spitaltage um rund 50 Prozent (Durchschnitt USA: 15 Prozent) ■ eine Reduktion der Anzahl Hospitalisationen um 33 Prozent (Durchschnitt USA: 3,6 Prozent) ■ eine Reduktion der Anzahl Notfallbesuche um 37 Prozent ■ ein Anstieg der Anzahl medizinisch indizierter Arztbesuche um 11 Prozent ■ ein Anstieg der Zahl der psychiatrisch indizierten Arztbesuche um 3 Prozent ■ ein Anstieg der Anzahl ambulanter Untersuchungen um 14 Prozent bei medizinischen Krankheiten und um 19 Prozent bei psychiatrischen Erkrankungen ■ Die Überlebensraten der Patientengruppen mit Lungenentzündung, Herzinsuffizienz, chronischer Herzkranzgefässerkrankung, manischdepressiver Störung und schwerer Depression wurden von Jahr zu Jahr signifikant besser. ■ Die Überlebensraten der übrigen Patientengruppen änderten sich nicht signifikant. Die Studie zeigt, dass die Verlagerung der Behandlung vom stationären in den ambulanten Bereich mit einer Qualitätsverbesserung der Betreuung und zum Teil mit einer Verbesserung der Überlebenschance der Patientinnen und Patienten einherging. Die Publikation erfolgte im «New England Journal of Medicine», was für die Gültigkeit der Ergebnisse bürgt.
Übertragbarkeit auf Schweizer Verhältnisse
Zwischen dem US-amerikanischen und dem schweizerischen Gesundheitssystem bestehen bekanntlich schwer wiegende Unterschiede. So haben in den USA noch immer über 40 Millionen Menschen keine Krankenversicherung [2], während in der Schweiz alle Einwohner obligatorisch krankenversichert sind; und das US-amerikanische Gesundheitssystem ist sehr viel stärker wettbewerbsorientiert als das schweizerische. Bei der VA handelt es sich aber um
ein in sich geschlossenes Versorgungssystem, das 22 integrierte Versorgungsnetze aufgebaut hat, innerhalb derer eine «planwirtschaftliche» Steuerung, zum Beispiel im Hinblick auf die Verlagerung von teureren auf günstigere, kostenoptimierte Versorgungsstufen, möglich ist [3]. Wenn ein Ausbau der ambulanten Grundversorgung in einem solchen System die Inanspruchnahme der stationären Strukturen verringert und die Qualität der Betreuung verbessert, so darf angenommen werden, dass es eine Stärkung der ambulanten Grundversorgung auch in der Schweiz ermöglichen könnte, die Qualität der Gesundheitsversorgung trotz dem Abbau von Spitalbetten zu verbessern.
Aktuelle Situation in der Schweiz
Die aktuelle Situation der ambulanten medizinischen Grundversorgung in der Schweiz (siehe Kasten) kann folgendermassen charakterisiert werden: 1. Die generelle Unzufriedenheit der Leistungserbringer im Gesundheitswesen wird im Fall der Grundversorgung durch verschiedene Faktoren verstärkt: ■ Die Verantwortung für die Kosten des Gesundheitssystems, welche der Grundversorgung aufgebürdet wird, steht in keinem Verhältnis zur Einflusssphäre oder Anerkennung, die ihr zugestanden wird. ■ Die Medikalisierung gesellschaftlicher Probleme, wie Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung, spielt sich auf dem Rücken der Grundversorger ab. Gleichzeitig wird den Grundversorgern die Qualifizierung abgesprochen, die biopsychosozialen Folgen bei ihren Patienten zu beurteilen und zu betreuen (so disqualifiziert zum Beispiel die Invalidenversicherung den Hausarzt neuerdings im Hinblick auf die Beurteilung der Invalidität explizit2). ■ Administrative Mehraufgaben, eingeschränkte Befugnisse (Dignität im TarMed), zunehmende, fraglich effektive Qualitätskontrollen (z.B. Röntgenprüfung) und ein weiterhin abnehmendes Einkommen prägen den Alltag des einzelnen Arztes.
Kasten:
Merkmale der ambulanten medizinischen Grundversorgung in der Schweiz
In der Schweiz stellen die Hausärzte die Basis der ambulanten medizinischen Grundversorgung sicher; dabei arbeiten sie für verschiedene Aufgaben mit anderen Berufsgruppen wie Physiotherapeuten, Spitex und so weiter zusammen. Im System der freien Zugänglichkeit (freie Arztwahl der Versicherten) übernehmen jedoch auch andere Facharztgruppen aus Bereichen wie Rheumatologie, Psychiatrie, Kardiologie und Gynäkologie relevante Anteile der Grundversorgung. Auch die ambulanten Einrichtungen vieler Spitäler leisten einen Beitrag zur Grundversorgung.
2. Die Grundversorger haben in den letzten Jahren, mit verschiedensten Partnern, enorme personelle und zeitliche Ressourcen in die Neugestaltung des Gesundheitssystems investiert: Case- und Disease-Management, Hausarzt-Modelle, integrierte Netzwerke, HMOs, Budgetmitverantwortung, Instrumente zur Erfassung der Morbidität (Thurgauer Morbiditätsindex) und Instrumente zur Qualitätsentwicklung (SwissPep, Quali-med.net, EQUAM) sind einige Beispiele solcher Initiativen [4], die nachhaltigen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des Gesundheitssystems haben werden. Versuche, diese Systementwicklung, welche bisher gezwungenermassen auf privater Basis erfolgt, zu finanzieren, werden aber gelegentlich auch von differenzierten Medien diffamiert und als eigennützige Bereicherung dargestellt3. 3. Die medizinische Grundversorgung kann auf dem Land nicht mehr lange durch Schweizer Hausärzte aufrechterhalten werden. Der Haus-
2 Zitat aus einem Brief (Begründung eines IV-Entscheides) der Sozialversicherungsanstalt (SVA) Zürich vom Mai 2004 an einen Patienten: «..., wohingegen Hausärzte in ihren Stellungnahmen aufgrund des Vertrauensverhältnisses dazu neigen, die subjektiven Angaben gegenüber den objektiven Befunden zu stark zu gewichten. Deshalb kann auf die Einschätzung der Hausärzte nicht abgestützt werden.»
3 So warf der Kassensturz am 8. Juni 2004 dem Ärztenetzwerk zmed vor, es lasse sich seine Arbeiten im Bereich von Managed Care und Netzwerkentwicklung durch Dienstleistungsprojekte mit Ärztelieferanten finanzieren.
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arztberuf verliert an Attraktivität, die junge Generation fehlt. 4. Die Akademisierung der Grundversorgung und der Pflegeberufe befindet sich in der Schweiz in einem erbärmlichen Zustand. Es fehlt deshalb eine mittel- bis langfristige Strategie für die Rolle der medizinischen Grundversorgung in der Schweiz. 5. Der Forschung in der Grundversorgung und in den Pflegeberufen werden marginale Geldmittel zur Verfügung gestellt; eine Forschungskultur in der Grundversorgung, die dem gemischt naturwissenschaftlichgeisteswissenschaftlichen Ansatz dieser Disziplin entspricht, wird nur ansatzweise gefördert [4–6]. 6. Die Daten für ein Wissensmanagement in der ärztlichen Praxis, in der Gesundheitspolitik und in der Forschung fehlen, da bis heute keine universitäre Basis für das Fachgebiet Allgemeinmedizin besteht, die eine langfristige Strategie entwickeln könnte.
Konsequenzen für die Schweiz
Die obige Liste der Schwachpunkte zeigt, in welchen Bereichen in der Schweiz weitere Massnahmen und Investitionen zur Förderung der Grundversorgung nötig wären: ■ realistische Mitverantwortung und Mitgestaltungsmöglichkeiten für Grundversorger. ■ Systementwicklung durch Netzwerke in Kooperation mit Partnern der Industrie, mit Universitäten, mit Versicherungen und mit Bundesämtern. Da Netzwerke als Unternehmen betriebswirtschaftlich arbeiten, benötigen sie den Freiraum, Kooperationen für Investitionen eingehen zu können. ■ Akademisierung der medizinischen Grundversorgung und der Pflegeberufe mit gleichzeitigem Aufbau eines Lehrkörpers, der eine Vorbildfunktion für die Studenten einnimmt, wie auch eines interdisziplinären Forschungsnetzes. ■ Aufbau moderner Datenbanken, die der Arzt für das Wissensmanagement in der Sprechstundensituation, aber auch für die Patienteninformation nutzen kann. Um die erheblichen logistischen, strukturellen, personellen und inhaltlichen Investi-
tionen tätigen zu können, ist eine Kooperation der Grundversorger mit den Universitäten, Bundesämtern, Gesundheitsbehörden und Versicherungen erforderlich. ■ Um den Nachwuchs sicherzustellen, muss die seit Jahren objektiv bestehende finanzielle Schlechterstellung der Grundversorger rasch korrigiert werden. Die Beispiele von England und Kanada zeigen, welche katastrophalen Folgen Einkommenseinbussen und zunehmende Einschränkungen der ärztlichen Tätigkeit für das Gesundheitssystem haben. Die genannten Massnahmen, welche auf gesundheitspolitischer Ebene umzusetzen sind, bedingen auch strukturelle und organisatorische Anpassungen in den Praxen. So muss die Qualitätssicherung verbessert werden, und die Voraussetzungen für den Einsatz moderner Datenbanken müssen geschaffen werden.
Fazit
Die eindrücklichen Erfolge der Veterans Health Administration in den USA lassen vermuten, dass auch in der Schweiz Investitionen in die ambulante Grundversorgung die Voraussetzungen für eine gute integrierte Versorgung verbessern könnten. Dafür spricht auch die Entwicklung in verschiedenen anderen europäischen Ländern, in denen staatlich und universitär koordinierte Programme mit einer klaren Strategie für die ambulante Medizin (sowie der Wille der entsprechenden Fachgesellschaften zur Umsetzung struktureller Verbesserungen) bestehen: In Schweden, in den Niederlanden und in Grossbritannien liegen die Nutzungszahlen für elektronische Krankengeschichten bei den Grundversorgern zwischen 88 und 91 Prozent. Es sind jeweils über 95 Prozent der Kollegen online. Das Budget des National Health Service in Grossbritannien für Informationstechnologie für die nächste Dekade beträgt über 6 Milliarden Pfund. In Deutschland arbeiten Professoren für Allgemeinmedizin mit ihren InstitutsmitarbeiterInnen in staatlichem Auftrag daran, die grundversorgergerechte Codierung
ICPC-2 wirklich praxistauglich zu
machen. Deren breite Anwendung
im Alltag ist zum Beispiel in den Nie-
derlanden die Grundlage für viele
Forschungsarbeiten im ambulanten
Umfeld.
Die Erfahrungen dieser Länder zei-
gen auf, welches Potenzial koordi-
nierte strukturelle Massnahmen
auch in der Schweiz entfalten könn-
ten. Sorgfältig zu prüfen sind aller-
dings die Anreizsysteme für eine frei-
willige Nutzung und Umsetzung
solcher Massnahmen auf Ärzteseite;
zentral verordnete Obligatorien
oder die Verknüpfung der Leistungs-
abgeltung mit einer Liste strukturel-
ler Vorgaben bergen erhebliche Ge-
fahren für eine konstruktive
Entwicklung.
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Autoren:
Dr. med. Michael Peltenburg
Medizinischer Geschäftsleiter zmed Grütlistrasse 36 8002 Zürich
E-Mail: Michael.Peltenburg@hin.ch Internet: www.zmed.net
Dr. med. Marco Zoller
Facharzt Allgemeine Medizin FMH Limmattalstrasse 177 8049 Zürich
E-Mail: mzoller@dplanet.ch Internet: www.hausarzt.ch;
www.zmed.net
Literatur:
1. Ashton CM, Souchek J, Petersen NJ, Menke TJ, Collins TC, Kizer KW et al.: Hospital use and survival among Veterans Affairs beneficiaries. N Engl J Med 2003; 349 (17): 1637–1646.
2. Starfield B: Is US health really the best in the world? JAMA 2000; 284 (4): 483–5.
3. Amelung VE, Schumacher H: Managed Care. Neue Wege im Gesundheitsmanagement. Gabler, Wiesbaden, 2000: 34.
4. Peltenburg M: Zukunft von Managed Care. SÄZ 2004; 85 (20): 1036–1039.
5. Peltenburg M: Forschung in der Hausarztmedizin, ein Projekt der SGAM und FIAM 1993– 1996, unterstützt von der SAMW. SÄZ 1997; 78 (17): 629–631.
6. Tschudi P, Marty T, Steurer J, Wirz U: Forschung in der Grundversorgung: Spät kommt sie, doch sie kommt! Schweiz Rundsch Med Prax 2004; 93 (6): 185–187.
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