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INTEGRIERTE VERSORGUNG
Integrierte Versorgung – wo liegen die Barrieren?
Die Gründe, warum sich die
integrierte Versorgung in der
Schweiz bisher nicht durch-
gesetzt hat, sind vielfältig.
Der folgende Beitrag skizziert
aus Sicht zweier ExpertInnen
des Bundesamts für Gesund-
heit Hindernisse und Lösungs-
ansätze in den Bereichen der
ökonomischen Anreize, der
Bildung sowie der Forschung
und Entwicklung.
Marie-Therese Furrer, Felix Gurtner
D ie epidemiologische und demografische Entwicklung, die zunehmende Spezialisierung der Medizin und des Gesundheitswesens und die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Einsatzes begrenzter Ressourcen haben international ein grosses Interesse an integrierter Versorgung geweckt. Internationale Systemanalysen weisen darauf hin, dass die Integration mangelhaft ist und gefördert werden muss [1, 2]. Es existiert sogar eine internationale wissenschaftliche Zeitschrift zu diesem viel versprechenden Ansatz: das «International Journal of Integrated Care» (siehe www.ijic.org). Dennoch kann sich die integrierte Versorgung nicht durchsetzen. Wo liegen die Hindernisse? Dies soll im Folgenden für die Bereiche «Finanzierung und ökonomische Anreize»,
«Aus-, Weiter- und Fortbildung» sowie «Forschung, Entwicklung, Evaluation» dargestellt werden. Die Betrachtungen konzentrieren sich auf die Schweiz, werden aber ergänzt mit internationalen Beobachtungen und Tendenzen.
Finanzierung und ökonomische Anreize
Das Finanzierungssystem ist durch die Trennung zwischen ambulantem und stationärem Bereich geprägt, sowohl in der sozialen Krankenversicherung als auch in der obligatorischen Unfallversicherung. Zwar sind in beiden Sozialversicherungen Elemente vorhanden, welche auf die Leistungserbringung integrierend wirken. So ermöglicht das Sachleistungsprinzip in der Unfallversicherung das Case Management durch die Versicherungsärztinnen und -ärzte, und das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) bietet einen gewissen Freiraum für Managed Care zur Förderung einer integrierten Versorgung. Doch genügen die ökonomischen Anreize für eine vermehrte Integration?
«Managed-Care-
Modelle werden von vielen
Versicherten in erster Linie
mit der eingeschränkten
Wahl assoziiert und nicht
mit der guten Qualität
»bei tieferen Kosten.
Ein Hindernis für vermehrte Integration bildet unter anderem die Art der Vergütung der Leistungen. Die ambulanten Leistungen werden sowohl
Marie-Therese Furrer
Felix Gurtner
durch die obligatorische Unfallversicherung als auch durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung gemäss der Tarifstruktur für Einzelleistungen TarMed vergütet. Seitens der Leistungserbringer bestehen hiermit geringe ökonomische Anreize, sich einem Managed-CareModell anzuschliessen, ausschlaggebend ist vielmehr das persönliche Interesse an der besonderen Art der
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Zusammenarbeit. Lediglich für den stationären Aufenthalt im Spital schreibt das KVG die Vergütung in Form von Pauschalen vor. Pauschalen für Behandlungsketten über die Spitalgrenzen hinaus gibt es jedoch kaum. Das KVG sieht in Artikel 43 zwar die Möglichkeit von prospektiven Versichertenpauschalen vor, dieses Modell spielt bisher aber in der Praxis nur eine marginale Rolle. Auch seitens der Versicherer sind Schranken zu überwinden: Will ein Versicherer ein für den Versicherten attraktives Managed-Care-Modell anbieten, muss sich dieses durch hohe Qualität und/oder tiefere Prämien auszeichnen. Erreichen kann dies der Versicherer nur, wenn er mit genügend Leistungserbringern einen Vertrag hat, was angesichts der ökonomischen Anreize für die Leistungserbringer nicht selbstverständlich ist. Zudem muss die Risikostruktur es dem Versicherer gestatten, Einsparungen zu erzielen, welche er in Form von tieferen Prämien an die Versicherten weitergeben kann. Mit dem Argument «gute Versorgungsqualität» zu werben, kann ihn für kranke und «teure» Versicherte attraktiv machen und seine Risikostruktur ungünstig beeinflussen. Schliesslich sind auch auf Seiten der Versicherten Hindernisse auszumachen: Zur Prämiensenkung haben die Versicherten die Wahl zwischen Modellen mit einer höheren Franchise und solchen mit eingeschränkter Wahl der Leistungserbringer. Managed-Care-Modelle werden von vielen Versicherten in erster Linie mit der eingeschränkten Wahl assoziiert und nicht mit der guten Qualität bei tieferen Kosten. Damit die ManagedCare-Modelle eine bessere Chance haben, muss sich diese Wahrnehmung ändern, allerdings nicht nur seitens der Versicherten, sondern auch seitens der Ärzteschaft. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Revision des KVG soll die Anreize für integrierte Versorgung verbessern. In Abstimmung mit den Revisionsvorhaben in anderen Bereichen des KVG übernahm der bundesrätliche Vorschlag eine Reihe von Anliegen einer Expertengruppe [3], welche Korrekturen im Anreizsystem
vorgeschlagen hatte. Das Ziel der Gesetzesänderung ist es, den «integrierten Versorgungsnetzen» (wie der Ansatz, der gefördert werden soll, im Gesetzesentwurf genannt wird) bessere Bedingungen zu bieten, indem eine grössere Nachfrage von Seiten der Versicherten entstehen, innovative Ärzte und Spitäler
«Im Bereich der Aus-,
Weiter- und Fortbildung
besteht eine erfreuliche
»Aufbruchstimmung.
den nötigen Freiraum für die Entwicklung von lokalen und regionalen Kooperationsmodellen erhalten und die Versicherer ein bezüglich Prämien und Versorgungsqualität attraktives Versicherungsprodukt schnüren können sollen, das sich in grosser Zahl «verkaufen» lässt. Inwieweit der Gesetzesentwurf in der Vernehmlassung und im Parlament Bestand haben wird, ob die Gesetzesänderungen die beabsichtigte Wirkung entfalten können und ob weitere Änderungen erforderlich sind, wird sich zeigen.
Professionalisierung
Eine integrierte Versorgung erfordert entsprechend ausgebildete und befähigte Berufsleute. Es stellt sich die Frage, ob die Fähigkeit zu interdisziplinärem Handeln und spezifische Kompetenzen, insbesondere des Case Managements, im Rahmen der Aus-, Weiter- und Fortbildung genügend vermittelt werden. Diesbezüglich lassen sich in der Schweiz einige viel versprechende Entwicklungen ausmachen: Der Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die universitäre Ausbildung in den medizinischen Berufen enthält als Novum ausformulierte Ausbildungsziele. Gemäss diesen Ausbildungszielen soll das Studium – neben dem selbstverständlichen medizinisch-wissenschaftlichen Rüstzeug – unter anderem auch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen vermitteln. Im Reformcurriculum der Medizinischen Fakultät Genf ist diese neue Ausrichtung bereits weit gehend realisiert.
Es besteht ein wachsendes Angebot an Nachdiplom- und Weiterbildungskursen, die Managementkenntnisse und -fertigkeiten vermitteln und sich an Ärzte in Weiterbildung oder an künftige Case-Manager unterschiedlicher beruflicher Herkunft richten. Diese Initiativen sind allerdings jüngeren Datums. Teilweise ist ihnen eine Berufsfeldanalyse und Bedarfsabklärung vorausgegangen [4]. Im Frühjahr 2004 haben sich Interessierte aus dem Gesundheits- und Sozialwesen im Verein «Netzwerk Case Management» organisiert, der insbesondere die Förderung und Professionalisierung des Case Managements im Gesundheits- und Sozialwesen zum Ziel hat (siehe www.netzwerk-cm.ch). In diesem Bereich besteht also eine erfreuliche Aufbruchstimmung. Die Entwicklung ist aber noch jung, sodass man derzeit noch von einem Mangel an professionellen Kompetenzen ausgehen muss.
Forschung, Entwicklung, Evaluation
Organisatorische Ansätze im Gesundheitswesen stellen Innovationen dar, die gleich wie pharmazeutische oder technische Ansätze auf Forschung basieren, im experimentellen Rahmen entwickelt werden und in der breiten Anwendung sorgfältig auf Wirkung und Wirtschaftlichkeit evaluiert werden müssen. In der Realität kann die Forschung und Entwicklung im Bereich der Organisation des Gesundheitswesens allerdings schwerlich mit jener im Bereich von Technologien im engeren Sinne mithalten. Ein Vergleich der Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten über je eine bildgebende technische und eine organisatorische Innovation, die beide im Jahr 1969 erstmals in der wissenschaftlichen Literatur aufgetaucht sind und die beide von hoher gesundheitspolitischer Relevanz sind, illustriert dies eindrücklich (Tabelle 1). Ein möglicher Grund für das Ungleichgewicht liegt in der Methodologie, indem pharmazeutische oder technische Ansätze standardisiert sind und in der Regel in rando-
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Tabelle 1:
Vergleich der Publikationstätigkeit über Positron Emission Tomography (PET) und Stroke units1, 1966 bis 2002 (Quelle: OECD [5])
Positron Emission Tomography (PET)
Stroke Unit
Anzahl wissenschaftliche Publikationen
19 708
Erste Publikation
1969
490 1969
Anzahl ökonomische Publikationen 455
35
Erste ökonomische Publikation 1979
1979
Anzahl HTA*
33
6
* HTA = Health Technology Assessments (d.h. systematische Reviews der medizinischen und ökonomischen Literatur inkl. Bewertung im Lichte der lokalen/nationalen Gegebenheiten)
misierten kontrollierten Studien evaluiert werden können. Die Evaluation von organisatorischen Innovationen muss oft auf nichtexperimentelle Methoden geringerer Aussagekraft zurückgreifen, und die Übertragbarkeit der Resultate auf andere Settings oder gar auf andere Gesundheitssysteme ist mitunter mit grossen Fragezeichen verbunden. Eine so genannte «review group» innerhalb der Cochrane Collaboration
«Ein Handicap besteht
darin, dass Entwicklungen
im Bereich der integrierten
Versorgung kaum
patentierbar oder
»verkäuflich sind.
befasst sich speziell mit Problemen der Interpretation und methodischen Weiterentwicklung derartiger Evaluationen (Effective Practice and Organisation of Care Group, siehe www.epoc.uottawa.ca). Ein weiteres Handicap der integrierten Versorgung besteht darin, dass diesbezügliche Entwicklungen in der Regel nicht oder nur zu einem geringen Grad patentierbar und verkäuflich sind (eine Ausnahme bilden Informatiklösungen zur Unterstützung der Integration). Damit haben pri-
1 Stroke units sind interdisziplinäre Teams zur raschen integrierten Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation nach Schlaganfall. International ist wissenschaftlich sehr gut dokumentiert, dass stroke units bessere Ergebnisse erzielen als unkoordinierte Teams. Einige Zentrumsspitäler in der Schweiz haben virtuelle stroke units gebildet, welche in den bestehenden Strukturen die Behandlung von Schlaganfallpatienten gemeinsam im Sinne einer Behandlungskette durchführen.
vate Geldgeber, welche die Forschung und Entwicklung vorfinanzieren, hier eine geringere Bedeutung als etwa in der forschenden Industrie. Entwicklungsarbeiten werden in erster Linie durch die Kostenträger finanziert, zum Beispiel durch grosse Managed-Care-Organisationen in den USA, durch den Staat in England oder durch grosse Krankenversicherer. Auch in der Schweiz spielen die Versicherer als Innovationsförderer eine wichtige Rolle, sie stehen aber vor dem bereits erwähnten Zielkonflikt: Die Innovationen dürfen den Versicherer für kranke und «teure» Versicherte nicht zu attraktiv machen, denn der Risikoausgleich zwischen den Krankenversicherern berücksichtigt nur Alter und Geschlecht, nicht jedoch die Krankheitslast im Versichertenkollektiv. Innovative Versicherer riskieren somit einen Konkurrenznachteil. Eine Erweiterung der Kriterien für den Risikoausgleich steht derzeit nicht zur Diskussion. Impulse für Innovationen gehen auch von Kantonen aus (z.B. Rehabilitationsplanung in der Ostschweiz) oder von grossen Spitälern (z.B. stroke units1).
Schlussfolgerung
Die Hindernisse für eine vermehrte Integration der Gesundheitsversorgung sind vielfältig, sie sind teilweise grundsätzlicher und universaler, teilweise lokaler Natur. Bessere Kenntnis der Hindernisse und der Lösungsansätze ist Voraussetzung dafür, dass sich die Rahmenbedingen insgesamt verbessern. Isolierte Korrekturversuche am System entfalten wenig Wirkung oder sogar paradoxe Wirkun-
gen; nötig ist ein auf einem gemeinsamen Verständnis basierendes und aufeinander abgestimmtes Vorgehen. ■
AutorInnen:
Marie-Therese Furrer
lic. rer. pol. Bundesamt für Gesundheit Kranken- und Unfallversicherung
Sektion Tarife und Leistungserbringer
3003 Bern E-Mail:
marie-therese.furrer@bag.admin.ch
Felix Gurtner
Dr. med. / MSc Bundesamt für Gesundheit Kranken- und Unfallversicherung Sektion Medizinische Leistungen
3003 Bern E-Mail: felix.gurtner@bag.admin.ch
Literatur:
1. Feachem R, Sekhri N, White K, et al.: Getting more for their dollar: a comparison of the NHS with California’s Kaiser Permanente. BMJ, Jan 2002; 324: 135–143.
2. The OECD Health Project. Towards High Performing Health Systems. OECD: Paris, 2004.
3. Teilrevision des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung. Teil Managed Care. Erläuternder Bericht. Bundesamt für Gesundheit, Bern: 2004. Internet: www.bag.admin.ch/kv/projekte/d/index.htm
4. Die Case-Managerin/der Case-Manager: ein neuer Beruf. Interview mit Heidi Longerich. Managed Care, 2000; 8: 20–23.
5. Health Technology and Decision Making. OECD: Paris, 2004.
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