Transkript
INTEGRIERTE VERSORGUNG
IGOMED Thun:
Zwischenbilanz nach sieben Jahren
In Thun entstand bereits 1997
ein Versorgungs- und Versi-
cherungsmodell, das wesent-
liche Anforderungen an die
integrierte Versorgung er-
füllt. Der ehemalige Präsident
des beteiligten Ärztevereins
berichtet aus Ärztesicht über
die bisherigen Erfahrungen.
Ueli Hagnauer
E ine qualitativ gute und trotzdem kostengünstige medizinische Versorgung kann nur realisiert werden, wenn die ganze Behandlungskette miteinbezogen wird, wenn die ambulanten und stationären Leistungserbringer gut zusammenarbeiten. Diese Überzeugung führte 1997 zur Entstehung des Versorgungs- und Versicherungsmodells IGOMED/Qualimed (siehe Kasten), das im Gegensatz zu den üblichen Hausarztmodellen auch die praktizierenden Spezialisten und die Spitalärzte miteinbezieht. Der Vereinsgründung und dem Vertragsabschluss waren im Bezirksverein intensive Diskussionen über Vorund Nachteile von eigentlichen Hausarztmodellen vorausgegangen (Hausarzt- bzw. Gatekeepermodelle gestatten Spezialarztkonsultationen nur mit Überweisung durch den Hausarzt oder im Notfall). Schliesslich einigten wir uns darauf, in einem Netzwerkmodell den direkten Zugang der Patienten auch zu den IGOMED-Spezialärzten zu erlau-
ben. Dies geschah mit der Begründung, dass eine Triage durch den Hausarzt zwar meist sinnvoll ist, dass eine direkte Spezialarztkonsultation in ausgewählten Fällen aber durchaus adäquat und kostengünstig sein kann, sofern der Informationsfluss zum Hausarzt funktioniert. Weiter war schon damals klar, dass die hohen Kosten in der Regel nicht an der Schnittstelle Hausarzt/Spezialist anfallen. Sie entstehen beim Übertritt vom ambulanten ins stationäre System sowie bei ambulanten Spitalkonsultationen, im Rahmen der Hightech-Medizin und vor allem bei Arbeitsunfähigkeit und bei vorzeitiger Invalidisierung. Schliesslich wollten wir die Spezialärzte auch deshalb in den Verein und ins Modell einbeziehen, weil wir das gute Klima im ambulanten System erhalten, weiterhin optimal zusammenarbeiten und damit – nicht zuletzt – unnötige Hospitalisationen vermeiden wollten.
Durchführung
Zur Umsetzung dieser Grundideen setzten wir den Schwerpunkt auf Kooperation und Transparenz: ■ Kooperation: Um Spitalaufenthalte zu vermeiden oder abzukürzen, intensivierten wir die Zusammenarbeit im ambulanten Sektor und bemühten uns um eine möglichst gute, aber restriktive Einweisungspraxis. Wir legten Wert auf eine optimale Vorbereitung ambulanter, teilstationärer und stationärer Eingriffe, auf Förderung der ambulanten und teilstationären Chirurgie, auf gute Vorbereitung der Austritte und auf eine Verbesserung der Nachsorge. Mindestens ebenso wichtig waren klimatische Faktoren:
Ueli Hagnauer
Durch gegenseitiges Kennenlernen im Alltag und in der Projektarbeit entstand eine Kultur der Zusammenarbeit, welche Zuweisungen vereinfacht, aber auch formlose telefonische oder direkte Absprachen zur Optimierung der Behandlung und der Schnittstellen ermöglicht. Das Fallseminar vom Donnerstagmorgen im Spital Thun, an dem praktizierende und Spitalärzte teilnehmen, hat sich etabliert. Es leistet seit Jahren gute Dienste zum fachlichen Austausch, zur optimalen Patientenbetreuung gerade im Bereich der Schnittstellen sowie für informelle Zweitmeinungen, Röntgenoder Aktenkonsilien, die für Kassen und Patienten nach wie vor kostenlos sind. ■ Transparenz: Im Rahmen von IGOMED/QualiMed stellt die Helsana seit 1997 jedem koordinierenden Arzt die monatlichen Kostendaten seiner Versicherten zur Verfügung. Vorher waren die Ärzte nur über das relativ kleine Segment der in der eigenen Praxis entstehenden Kosten informiert. Dank Quali-
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INTEGRIERTE VERSORGUNG
Kasten:
IGOMED: Interessengemeinschaft für optimierte medizinische Versorgung: ein Verein von Ärztinnen und Ärzten; mit dem Ziel einer optimalen und qualitativ hoch stehenden Versorgung der Bevölkerung, unter ökonomischem Einsatz der Mittel. IGOMED hat mit der Helsana per 1. Januar 1997 einen Vertrag abgeschlossen, der es erlaubt, das Versicherungsprodukt QualiMed anzubieten.
QualiMed: Versicherungsprodukt der Helsana. Versicherte, die sich bereit erklären, primär einen IGOMED-Arzt (Hausarzt oder Spezialisten) zu konsultieren, wählen dieses Versicherungsprodukt und erhalten 15 Prozent Rabatt auf ihre Versicherungsprämie. Ein von den Versicherten gewählter koordinierender Arzt (meist der Hausarzt) hat die Aufgabe, den Überblick über die medizinischen und ökonomischen Daten zu behalten.
Med haben sie nun den Überblick über die Kosten der ganzen Behandlungskette. Und Transparenz ist bekanntlich die Grundvoraussetzung, um medizinisch und ökonomisch vernünftig triagieren und handeln zu können. Insgesamt führte die gewählte Strategie aus Sicht der Ärzte zu vielen erfreulichen Resultaten; doch es gab auch Wermutstropfen:
Erfreuliche Resultate
Erfreulich sind die folgenden Ergebnisse: ■ Dank der Zusammenarbeit im Netz haben sich die lokale Zusammenarbeit und das lokale Klima deutlich verbessert. Dies wird auch für die Patienten sicht- und erlebbar. Der verbesserte Informationsfluss bei Über- und Einweisungen erhöht nicht nur die Qualität, sondern auch die subjektiv erlebte Sicherheit. In vielen Fällen werden so unnötige Konsultationen von weiteren Ärzten oder gar Notfallstationen vermieden und dadurch wesentliche Kosten gespart: Ein Patient, der weiss, dass sein Problem mit allen Unterlagen am Fallseminar mit den zuständigen Spezialisten besprochen wird, wird kaum von sich aus eine unkoordinierte Irrfahrt von Spezialist zu Spezialist antreten. Wir sind überzeugt,
dass dies sinnvoller und effizienter ist als eine strenge Kontrolle der Überweisungen. ■ Gemäss Vertrag hat die Helsana das Recht, jederzeit eine Konferenz der behandelnden Ärzte einzuberufen, wenn ihr nicht klar ist, warum in einem Einzelfall hohe Kosten entstanden sind (in diesem Fall würde die Helsana den Ärzten ein Sitzungsgeld von 200 Franken pro Stunde bezahlen). Von dieser Möglichkeit hat sie jedoch bisher nie Gebrauch gemacht. Offensichtlich arbeiten die IGOMED-Ärzte so gut und kostengünstig, dass sich derartige Sitzungen erübrigen! ■ Im alters- und geschlechtskorrigierten Kostenvergleich fällt, gemäss den Berechnungen der Helsana, das QualiMed-Kollektiv Jahr für Jahr durch tiefere Kosten auf (Daten von 2002): Vergleichskollektiv: 3173 Fr. pro Versicherten und Jahr (= 100%) QualiMed: 2450 Fr. pro Versicherten und Jahr (= 77%). ■ Provisorische Daten der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion zeigen, dass die Region Thun/Oberland West nach dem Emmental am wenigsten Spitaltage pro Einwohner aufweist (nur 54% bzw. 52% des Kantonsdurchschnitts!). ■ Die QualiMed-Versicherten profitieren weiterhin von einem Rabatt von 15 Prozent auf den Prämien der Grundversicherung. (Der gleiche Rabatt wurde in den ersten Jahren auch auf die Zusatzversicherungsprämien gewährt. Er wurde leider per Januar 2000 durch die Helsana abgeschafft.) ■ IGOMED hat bisher für die Helsana sehr kostengünstig gearbeitet: Abgesehen von Sitzungsgeldern hat unser Netz in (allzu?) selbstloser Manier keine Mittel für den Eigengebrauch verlangt, während praktisch alle anderen Netze pro Mitglied und Monat bis zu einen Franken erhalten. ■ Das Projekt führte zu sehr positiven Reaktionen der lokalen und kantonalen Medien. Von dieser «Gratis-PR» profitierten die Krankenkasse und die Ärzte. Die Kran-
kenkasse Helsana konnte in der Region ihren Mitgliederbestand ausbauen, während sie anderswo ebenso wie die anderen grossen Kassen Mitglieder verlor. ■ In der Pionierzeit der ersten QualiMed-Jahre entwickelte sich eine erfreuliche Zusammenarbeit zwischen den Ärzten und einigen innovativen Mitarbeitern der Helsana (Agentur Thun und Managed-CareAbteilung Zürich). Alle Beteiligten erlebten konkret, dass Kassen und Ärzte nicht Gegner sind, sondern Partner mit vielen gemeinsamen Zielen.
Wermutstropfen
Eher unerfreulich sind die folgenden Feststellungen: ■ Im Gesundheitswesen sind leider viele Daten nicht vorhanden oder nicht zugänglich. So wissen wir auch nach bald sieben Jahren noch nicht, wie unsere Region im Vergleich zu anderen Regionen dasteht. Der Vergleich unseres lokalen Modellkollektivs mit auswärtigen Kollektiven wäre aber wichtig, um «Trittbrettfahrereffekte» so gut wie möglich zu erfassen («Trittbrettfahrereffekt» bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die lokalen Nicht-Modell-Versicherten ebenfalls von Verbesserungen profitieren. Dies ist erfreulich für sie und für das Gesundheitswesen generell, vermindert aber in der Statistik den prozentualen Spareffekt des Modells). ■ Wir überblicken zwar die Heilungskosten unserer Patienten, nicht aber die wesentlich gewichtigeren sozialen Folgekosten (Arbeitsunfähigkeit, Invalidität, Produktivitätsverluste). ■ Die QualiMed-Versicherten weisen vor allem im stationären Sektor nachweisbar tiefere Kosten auf, mit Einsparungen von 27 bis 40 Prozent je nach Jahr. Da die allgemeine Spitalabteilung zu rund 50 Prozent vom Kanton subventioniert wird, spart hier der Steuerzahler mit. Dies ist für ihn und für den verarmten Kanton Bern hoch erfreulich, aber die Krankenkasse spürt diesen Teil der Einsparung nicht. ■ Leider wurden Versuche mit neuen Versicherungsmodellen bisher
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nie mit prospektiv-randomisiertem Studiendesign geplant (was zugegebenermassen schwierig wäre). Umso wichtiger ist es, die Versicherten im Versicherungsmodell und diejenigen im Vergleichskollektiv demografisch möglichst genau zu charakterisieren. Die Daten zur Alters- und Geschlechtsstruktur wurden von Anfang an erhoben und in die Auswertung einbezogen. Auf weitere demografische Daten, etwa zu den eminent wichtigen Faktoren Morbidität oder Stadt-Land-Verteilung, warten wir aber leider bis heute vergeblich1. Ein weiterer Wermutstropfen ist es für die Ärzte, dass sich die Spannungen in der Zusammenarbeit mit der Krankenkasse gemehrt haben: ■ Ein Problem in der ursprünglich partnerschaftlich geplanten Zusammenarbeit ist, dass die eine Seite (die Kasse) die Daten besitzt, die andere (die Ärzte) nicht. Diese Daten-Unparität hat zur Folge, dass die «DatenHabenichtse» (die Ärzte) bezüglich Datenauswertung von der datenbesitzenden Kasse abhängig sind: Wer die Daten hat, bestimmt, welche
1 Aus der Zeitreihe der Analysen wissen wir, dass anfänglich 9900 Versicherte ins Vergleichkollektiv einbezogen wurden, in späteren Jahren rund 13 000. Da sicher nicht so viele Nicht-Modell-Versicherte neu zur Helsana kamen, vermuten wir, dass das geografische Einzugsgebiet des Vergleichkollektivs geändert wurde. Entsprechende Fragen blieben jedoch leider bis heute unbeantwortet.
Auswertungen gemacht werden, für welche Auswertungen das Personal fehlt und welche Auswertung man sogar als Verhandlungspfand benützen kann. ■ Der IGOMED-Vorstand stellt nicht ohne Stolz fest, dass die meisten Grundversorger und viele Spezialärzte der Region Vereinsmitglieder geworden sind und sich am Modell beteiligen. Auf Krankenkassenseite gibt es dagegen einige massgebliche Anhänger des Prinzips «teile und herrsche». Sie befürworten neben der Abschaffung der freien Arztwahl (auch Abschaffung des Kontrahierungszwangs genannt) Modelle mit weniger Ärzten, die durch Konkurrenz Kosten sparen sollen. Dieser Ansatz hätte aus Sicht von IGOMED zahlreiche schwer wiegende Nachteile, vor allem für die Patienten. IGOMED ist davon überzeugt, und dazu braucht es keine grossen Rechenkünste, dass es besser ist, mit derzeit 104 Ärzten und 5500 Versicherten 23 Prozent der Kosten zu sparen, als mit nur 20 Ärzten und 1000 Versicherten. ■ Insgesamt ist es schwierig, langfristig mit einer grossen, historisch gewachsenen Krankenkasse zusammenzuarbeiten. Hinderlich sind die unübersichtliche Struktur, die oft nicht optimale interne Kommunikation, der häufige Personalwechsel
und der damit verbundene Weggang motivierter «Pioniere der ersten Stunde». So fehlt die Kontinuität, und es wird schwierig, immer wieder neue Krankenkassenmitarbeiter zu informieren und zu motivieren.
Fazit
Zusammenfassend ist IGOMED
trotz der genannten Wermutstropfen
nach wie vor der Meinung, dass der
1997 gewählte Ansatz medizinisch,
«klimatisch» und ökonomisch rich-
tig ist. Das Modell stösst bei Patien-
ten, Ärztinnen und Ärzten und sogar
bei Politikern und vielen Kassen-
funktionären auf eine sehr gute Ak-
zeptanz. Zudem hat auf Kranken-
kassenseite mittlerweile ein gewisser
Generationenwechsel stattgefunden.
Dies veranlasst uns zur Hoffnung,
dass in den nächsten Jahren wieder
eine konstruktive Zusammenarbeit
möglich wird, die allen Seiten zugute
kommt.
■
Autor:
Dr. med. Ueli Hagnauer
Innere Medizin FMH ehem. Präsident IGOMED
Mühlemattweg 16 D 3608 Thun
E-Mail: uhagnauer@bluewin.ch
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