Transkript
E-HEALTH
Selbsthilfe-Chats
Selbsthilfe-Chats sind neuere
Formen von Selbsthilfe. Dank
dem Internet können sich
beispielsweise Parkinson-
PatientInnen täglich in Echt-
zeit austauschen. Chats sind
leicht zugänglich, Alltag und
Krankheit werden bespro-
chen, Ironie und Witz haben
ihren Platz, und die Kontakte
werden häufig auch im realen
Leben weitergeführt. Chats
scheinen die herkömm-
lichen Selbsthilfegruppen zu
ergänzen.
Brigitte Casanova
P sychologische Beratungen per E-Mail und Selbsthilfe-Chats1 haben sich schnell verbreitet. Chats sind eine elektronische Kommunikationsform, die sehr attraktiv wirkt, weil sie anonym ist und immer Gesprächspartner verfügbar sind. Wenn regelmässig mit derselben Gruppe von Menschen gechattet wird, kann auch in der virtuellen Welt ein intensiver Austausch stattfinden: Gefühle entwickeln sich, Schwierigkeiten oder Gedanken werden mitgeteilt, aber auch über All-
1 Chat: Im Internet angebotenes Medium, mit dem online Kontakte hergestellt und Informationen ausgetauscht werden können. Es ermöglicht ein Gruppengespräch im virtuellen Raum.
tägliches kann «gesprochen» werden. Auch Selbsthilfevereinigungen nutzen Chats zum Austausch. Wie Chats ablaufen, welche Themen besprochen werden und welche Funktionen sie erfüllen, hat Stephan Matthies am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Magdeburg anhand des Parkinson-Chats (siehe Kasten 1) der Parkinson-Selbsthilfegruppe Parkinson-Line genauer untersucht.
Online-Selbsthilfe
Online-Selbsthilfegruppen bieten laut Matthies einige Vorteile: Sie sind ortsunabhängig und durchgängig erreichbar, was für abgelegen wohnende oder zeitlich beanspruchte Menschen sehr hilfreich ist. Sie sind unverbindlich, was es Neulingen ermöglicht, zu schnuppern; Erfahrene finden jedoch einen vertieften Austausch. Der Computer bietet zwar keine Face-to-Face-Kommunikation, die Menschen sitzen sich nicht gegenüber, aber er erweitert die kommunikativen Möglichkeiten: Gerade für Behinderte kann es erleichternd sein zu kommunizieren, ohne mobil sein zu müssen, oder zu kommunizieren, ohne dass die Behinderung gleich offensichtlich wird. Kontakte mit Behinderten auf der ganzen Welt sind möglich. Zudem gibt es Schreibhilfen, die Tastatur ist teils einfacher zu bedienen als ein Schreibstift, oder jemand anders kann für einen schreiben, wenn ein starker Tremor (Zittern), ein Symptom der Parkinson-Krankheit, einen Chat zu verunmöglichen droht. In den virtuellen Gemeinschaften von Selbsthilfegruppen bilden sich Normen und Regeln, Positionen und Rollen wie in natürlichen Umgebun-
gen auch. Die Identität soll im Selbsthilfe-Chat nicht gewechselt werden. Die Chatter der untersuchten Parkinson-Gruppe treffen sich öfters auch persönlich.
Virtuelle Gemeinschaft im Gespräch
Was genau wird diskutiert in einem Parkinson-Selbsthilfe-Chat? Wie läuft ein Chat ab? Der erste Eindruck der Gesprächsausschnitte, die Stephan Matthies gesammelt und untersucht hat, weist darauf hin, dass es ein normales Gruppengespräch mit vielen alltäglichen Bestandteilen ist. Jede Chatterin und
Kasten 1
Der Parkinson-Chat
Der Parkinson-Chat ist ein geschlossener Chat, der nur mit einem Passwort «betreten» werden kann. In Echtzeit kann in diesem virtuellen Raum kommuniziert werden. Der Teilnehmer oder die Teilnehmerin wird bei der Anmeldung gebeten, sich einen «Nickname» zu geben, dieser kennzeichnet den Teilnehmenden im Chat und repräsentiert ihn auch. Bei der Anmeldung wird ersichtlich, wer alles im Chat ist. Der Teilnehmer gibt einen Gesprächsbeitrag in seinen Computer ein, und Sekunden später erscheint dieser Text auf den Bildschirmen der anderen Teilnehmenden. Eine zeitgleiche Kommunikation, im Gegensatz zu E-Mail, kommt zu Stande. Der Chat ist regelmässig am Abend geöffnet. Der Parkinson-Chat hat eine eigene Netiquette (ein Set von Benimmregeln): Der Umgang soll respektvoll und freundlich sein, die Nicknames sollen niemals gewechselt werden, es soll keine falsche Identität vorgetäuscht und es soll mit allen gesprochen werden. Internetadresse der Parkins-on-Line: www.parkinson-selbsthilfegruppe.de
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jeder Chatter wird von allen begrüsst, Neuankömmlinge werden behutsam empfangen und nach ihrer Identität befragt. Alltagserfahrungen werden ausgetauscht, von Ferien wird erzählt oder man berichtet, wie es gerade geht. Es wird gewitzelt und gehänselt. Schaut man genauer hin, können die folgenden funktionellen Elemente ausgemacht werden, welche Selbsthilfe-Chats charakterisieren und sie teils von den üblichen Chats unterscheiden (ein Chatausschnitt ist im Kasten 2 abgedruckt):
Abschieds- und Begrüssungsszenen Die bewussten Begrüssungs- und Abschiedsrituale sind Bestandteil der Chatkommunikation. Diese Rituale fördern die soziale Bindung, helfen Neuankömmlingen, sich der Gruppe zu nähern und bieten Schutz in schwierigen Situationen.
Austausch von Alltagserfahrungen Der Austausch über Dinge, die nicht im Zusammenhang mit der Krankheit stehen, hilft, sich besser kennen zu lernen. Alltagserfahrungen und Small Talk bauen Spannungen ab und erzeugen Interesse und Solidarität. Sie eignen sich auch gut, um in Kontakt zu kommen.
Gespräche über das Wohlbefinden Im Chat wird oft nach dem körperlichen oder seelischen Wohlbefinden gefragt. Die gegenseitige Information hilft, den eigenen Zustand einzuordnen und zu sehen, dass Aufs und Abs dazu gehören. «Wohlbefinden steht oft auch eng mit einer guten Laune in Verbindung. Zielgerichteter und angenommener Spass lässt in bestimmten Situationen die Leiden vergessen und steigert das Zusammengehörigkeitsgefühl. Und gerade darin liegt eine der Stärken von Selbshilfegruppen»2, so erklärt Matthies die meist positiv getönten Gespräche.
Ironie, Witz und Humor Spass, Witz und Hänseln haben ihren festen Platz in der Chatkommunika-
2 Matthies, 2001, S. 135. 3 Stereotaktische Operation: Operation am Gehirn durch
ein kleines Bohrloch durch die Schädeldecke, meist um das starke Zittern (Tremor) zu unterbinden. 4 Matthies, 2001, S. 136–137.
Kasten 2
Chatausschnitt: «dann bin ich wenigstens nicht der einzige biertrinkende parkichatter»
Der folgende Chatausschnitt ist ein Gespräch zwischen Joe, Klaus und Lena. Joe erkundigt sich bei Klaus nach seiner Rohkostdiät, die er wegen dem Parkinson einhält, und bei Lena nach ihrem Befinden. Lena ist nicht im Bild übers Klaus’ Diät, sie denkt, es gehe ihm ums Abnehmen. Dies korrigiert Klaus «nicht wegen abnehmen lena wegen parki». Anschliessend fragt Lena, wie sich dies auf die Parkinson-Krankheit auswirkt: «und wie geht’s dem parki dabei klaus». Klaus antwortet: «dem geht es prima er aergert mich wa er kann». Ironie, personifizierte Krankheit («parki»), aufeinander eingehen, einfühlen, solidarisch sein, viele für den Parkinson-Chat typische Phänomene sind in diesem kurzen Gesprächsausschnitt enthalten.
Chatausschnitt4: 487 joe: klaus wie schmeckt das hasenfutter 488 Lena: schoen klaus 489 joe: lena hat sich parki bei dir verschlechtert 490 Lena: hasenfutter? 491 KlausC: grrmmmpppff schlecht bis ich mag es langsam 492 Lena: joe bei mir ist es ein auf und ab 493 KlausC: rohkost lena 494 joe: klaus haelst du einen strengen ernaehrungsplan ein 495 Lena: armer klaus, bist du beim abnehmen 496 KlausC: fast joe 497 KlausC: nicht wegen abnehmen lena wegen parki 498 joe: und immer noch apfelschorle – und kein bierchen? 499 Lena: aber noch nicht sehr lange klaus? 500 KlausC: 1 klitzeklitzekleines hefe doch ja 501 Lena: und wie geht’s dem parki dabei klaus 502 KlausC: ca 2 wochen lena 503 joe: dann bin ich wenigstens nicht der einzige biertrinkende parki-chatter 504 KlausC: dem geht es prima er aergert mich wa er kann
tion. Dies schafft gute Laune, sorgt für Nähe und Gemeinschaft. Lachen wird eine positive Wirkung auf die Selbstheilungskräfte und auf das Stressgefühl zugeschrieben. Ebenfalls beliebt sind Wortspiele. Die Parkinson-Krankheit wird als «Parki» bezeichnet, oder personifiziert mit James, dem Vornamen des Mannes, nach dem die Krankheit benannt ist (James Parkinson). Die Teilnehmenden setzen sich so mit der Krankheit auseinander und schaffen eine gemeinsame Ebene, die von Aussenstehenden nicht betreten wird.
Umgang mit der Krankheit Wie kann ich mit der Krankheit umgehen, wie mit den Symptomen klarkommen? Dies sind häufige Themen im Chat. Dabei wird ganz Unterschiedliches besprochen: Die Chatter berichten von der eigenen Therapie, sie beurteilen Medikamente, sie erzählen von ihren Schluckbeschwerden, von Depressionen oder vom durcheinander geratenen Wärmehaushalt, und sie geben einander
Tipps. Sie diskutieren über alternative Therapien, über Sport oder stereotaktische Operationen3. Sie machen einander auf Patientenrechte aufmerksam. Die Teilnehmenden bestärken einander, und gemeinsam stellen sie sich den Problemen, sie machen aber auch mal einen Witz darüber.
Persönliche Treffen Die untersuchte Parkinson-Gruppe trifft sich auch in der realen Welt. Es können Treffen zu zweit sein, oder in der ganzen Gruppe, zum Teil auch mit den Ehepartnern. Die Treffen können anlässlich des Referats eines Experten stattfinden, oder die Gruppe macht einen Wochenendausflug.
Ergänzung zu den herkömmlichen Selbsthilfegruppen
Im Chat werden häufig Alltagsthemen besprochen, diese sind jedoch real, nicht ein Jux, wie es in andern Chats der Fall sein kann. Die individuellen Probleme finden Gehör, die Chatter gehen offen und ehrlich mit-
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Kasten 3
Pilotprojekt Selbsthilfe-Foren in der Schweiz
KOSCH, die Anlaufstelle zur Koordination und Förderung von Selbsthilfegruppen in der Schweiz, entwickelt in einem Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit dem «Schweizerischen Beobachter» Selbsthilfeforen auf dem Internet. In Foren ist der Teilnehmer oder die Teilnehmerin im Gegensatz zum Chat nicht ständig online im Gespräch, sondern es findet ein öffentlicher Mailwechsel statt. Im Projekt SelbsthilfeForen werden die Methoden der Selbsthilfebewegung in themenspezifischen Internetforen angewandt. Bereits online sind die Foren zu Essstörungen, chronischen Schmerzen, Depressionen und ungewollter Kinderlosigkeit.
Weiterführende Internetadressen: www.beobachter.ch; www.kosch.ch
einander um, sind verständnisvoll und versuchen die Situation aktiv zu
gestalten, so beurteilt Matthies die Gespräche. Krankheitsbewältigung, emotionale Unterstützung durch die Gruppe, gegenseitige Beratung und auch der Austausch von Alltagserfahrungen sind zentral. Der Chat erscheint als eine Ergänzung zu den herkömmlichen Selbsthilfegruppen und bietet einige Vorteile dank der elektronischen Kommunikation. Dies bestätigt auch Silvia Gysel, Projektleiterin Selbsthilfeforen der Stiftung KOSCH (Koordination und Förderung von Selbsthilfegruppen Schweiz). Gerade Menschen mit tabuisierten oder schambesetzten Thematiken sowie Menschen mit Mobilitätsschwierigkeiten würden von den neuen Plattformen im Internet profitieren. Gleichzeitig würden durch das Internet junge Menschen angesprochen, die eher selten in Selbsthilfegruppen zu finden seien. Gysel sieht jedoch auch die Gefahr für Leute mit Kon-
taktschwierigkeiten, dass der Selbst-
hilfe-Chat die Begegnungen und Be-
ziehungen im realen Leben ersetzen
könnte. Andererseits kämen gerade
über das Internet auch immer wieder
persönliche Kontakte zu Stande. Ins-
gesamt beurteilt Gysel Selbsthilfe-
Chats positiv: «Ein sorgfältiger und
überlegter Aufbau von themenspezi-
fischen Selbsthilfe-Chats kann be-
troffenen Menschen neue Möglich-
keiten und Chancen eröffnen.»
(Siehe auch Kasten 3.)
s
Autorin:
Brigitte Casanova
Redaktion «Managed Care»
Literatur:
Matthies, Stephan (2001). Parkinson-Selbsthilfegruppe im virtuellen Raum. Eine konversationsanalytische Untersuchung von Chatkommunikation. Magisterarbeit am Institut für Erziehungswissenschaften, Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg.
IN EIGENER SACHE
Rücktritt von Leo Buchs aus dem Redaktionellen Beirat
Leo Buchs
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Leo Buchs ist Ende 2003 vom Redaktionellen Beirat und Redaktionsausschuss der Zeitschrift «Managed Care» zurückgetreten. Leo Buchs war ein Mann der ersten Stunde: Er war dabei, als die Zeitschrift 1997 gegründet und lanciert wurde. Seine profunden ManagedCare-Kenntnisse und seine praktischen Erfahrungen machten ihn zu einer tragenden Person im Redaktionellen Beirat und im Redaktionsausschuss. Leo Buchs hat sechs Schwerpunktthemen als Pate betreut: Die Schwerpunkte «Managed Care und Daten» und «Managed Care in Deutschland», zudem engagierte er sich viermal für das Heft zum Sym-
posium. Er hat sehr konstruktiv mitgearbeitet, viele Sitzungen geleitet und war dabei sehr kollegial und zuvorkommend. Die Zeitschrift «Managed Care» gibt es nun bereits seit sechs Jahren und ist in dieser Zeit zu einer angesehenen Informationsquelle geworden. An diesem Erfolg ist Leo Buchs wesentlich beteiligt. Der Redaktionelle Beirat möchte sich bei Leo Buchs für sein grosses Engagement bedanken und wünscht ihm für die Zukunft alles Gute.
Für den Redaktionellen Beirat Ruedi Wartmann