Transkript
Seite der Pflege
PflegewissenschaftlerInnen in der Praxis
von Lyn Singer Lindpainter, Medical Doctor,
Bachelor of Science in Nursing, Registered Nurse
Lehrbeauftragte am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel
«A dvanced Clinical Nursing Practice» ist eine Pflegerolle, bei der sich Pflegefachpersonen mit universitärer Ausbildung auf spezifische Patientengruppen oder klinische Sachfragen spezialisiert haben. Bessere Health Outcomes, weniger Spitalaufenthalte und tiefere Kosten sprechen für das neue Praxisfeld, welches die ärztliche Betreuung ergänzt.
Im Jahr 2000 wurde das Institut für Pflegewissenschaft (IPW) an der Universität Basel gegründet. Seither wird zum ersten Mal an einer Schweizer Universität ein Studiengang in Pflegewissenschaft angeboten. Das Curriculum führt zum Titel «Master of Science in Nursing». Im Herbst 2003 haben die ersten Studierenden abgeschlossen und suchen – als Pflegende mit einem Mastertitel – in der Schweiz und im benachbarten Ausland ihren Platz im Gesundheitswesen. Welche Rolle werden diese Pflegepioniere in der Schweizer Gesundheitslandschaft spielen? Das Gesundheitswesen ist bis jetzt stark auf Akutbehandlung und -pflege ausgerichtet. Die demografischen und epidemiologischen Entwicklungen führen dazu, dass es mehr Menschen gibt, die an chronischen Krankheiten leiden. Eine medizinische Langzeitbetreuung ist komplex und fordert auch von der Pflege neue interdisziplinäre Ansätze und Strategien.
1 Herzinsuffizienz: unzureichende Funktion des Herzens.
2 Diuretika: entwässernde Medikamente.
Advanced Clinical Nursing Practice Studierende am IPW werden dazu ausgebildet, eine in England, Kanada und in den Vereinigten Staaten bereits jahrzehntelang etablierte Pflegerolle auszuüben, die als «Advanced Clinical Nursing Practice» (ANP) bezeichnet wird. Die Studierenden spezialisieren sich dabei auf die Pflege von spezifischen Patienten- und Klientengruppen (zum Beispiel Transplantationspatienten, ältere Patienten) oder auf spezielle klinische Sachfragen (zum Beispiel Wundpflege). ANP sind Pflegefachpersonen mit einer universitären Ausbildung auf Stufe Masters oder Doktorat. Sie wirken in interdisziplinären Teams und arbeiten in unterschiedlichen Institutionen (beispielsweise in der Gemeinde, in Spitälern, Polikliniken, Rehabilitationsabteilungen oder Pflegeheimen). Diese PflegespezialistInnen verfügen über hoch entwickelte Pflegefertigkeiten, ein vertieftes Wissen und über die Fähigkeit, Forschungsresultate anzuwenden. Sie können systematisch überprüfen, wie sich die Pflege auswirkt. Dadurch verbessern sie die Gesundheitsergebnisse (health outcomes) in der betreffenden Patientengruppe. ANP sind befähigt, Teams zu führen, Projekte zu leiten, neue Versorgungsansätze zu entwickeln und bei ethischen Fragen zu argumentieren. Studien zeigen, dass Patienten und Familien ärztliche Verordnungen und Ratschläge besser befolgen und dass sich ihr Gesundheitszustand verbessert, wenn sie gezielte Empfehlungen von ANP erhalten und von diesen überwacht werden. Interventionen von ANP können zu weniger Spitalaufenthalten, weniger Komplikationen, besserer Lebensqualität, grösserer Patientenzufriedenheit und tieferen Kosten im Gesundheitswesen beitragen.
Zwei Beispiele aus der Praxis Die tägliche Arbeit einer ANP lässt sich an zwei Beispielen erläutern:
1. Menschen mit Herzinsuffizienz1 ANP, die sich darauf spezialisiert haben, Menschen mit chronischer Herzinsuffizienz zu betreuen, arbeiten als Partner von Kardiologen und Hausärzten. Sie instruieren die Patienten darüber, wie die verschiedenen Medikamente einzunehmen sind und wie sie die Symptome erkennen und überwachen können. Sie erklären, weshalb der Salz- und Wasserkonsum eingeschränkt werden soll und wie das täglich gemessene Gewicht zu interpretieren ist. Diese Patienten weisen eine hohe Rate von wiederholten Spitaleintritten sowie eine erhöhte Sterblichkeit auf. ANP können Patienten als Präventionsmassnahme zu Hause besuchen, ihren Gesundheitszu-
stand beurteilen und das Behandlungsschema mit ihnen und ihrer Familie besprechen. Verschlechtert sich der Zustand eines Patienten, kontaktiert die ANP-Pflegefachperson sofort den zuständigen Arzt, oder sie verabreicht die Diuretika2 nach dem vom Arzt verordneten Schema. In Schweden gibt es an 90 Prozent der Spitäler Herzinsuffizienz-Kliniken, die von ANP geleitet werden.
2. Gebrechliche alte Menschen Geriatrisch geschulte ANP evaluieren und überwachen daheim lebende, gebrechliche alte Menschen. Sie koordinieren die Behandlungen und Therapien (Case Management) und klären ab, ob der Patient sturzgefährdet oder mangelernährt ist, ob eine Inkontinenz besteht oder ob der Patient verwirrt ist. ANP erfassen auch Zeichen von Depression und/oder Angstzuständen. Ferner kann die Sicherheit in der Wohnung erhöht oder es können akute Krankheiten durch Impfungen (zum Beispiel gegen Grippe oder Lungenentzündung) verhindert werden. ANP arbeiten eng mit den Patienten und/oder mit deren Angehörigen sowie dem behandelnden Arzt zusammen, um Komplikationen vorzubeugen und zu verhindern, dass die Patienten noch gebrechlicher werden. Unter den Studierenden ist das Interesse an diesem Pflegebereich gross.
Ergänzung zur ärztlichen Betreuung ANP ergänzen die ärztliche Betreuung, sie ersetzen sie jedoch nicht. Sie tragen dazu bei, qualitativ bessere Gesundheitsergebnisse kostenneutral – oder gar mit Einsparungen – zu erzielen. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen ANP und Ärzten führt nicht unbedingt zu weniger Arztkonsultationen, vermeidet jedoch oft teure Spitalaufenthalte. Die Entwicklung von ANP-Praxisfeldern scheint logisch und wünschenswert, nicht nur aus Kostengründen. In der Schweiz werden StudienabgängerInnen des Instituts für Pflegewissenschaft bei diesen spannenden Entwicklungen eine führende Rolle spielen.
Autorinnen: Lyn S. Lindpaintner, MD, RN Annemarie Kesselring, PhD, RN
Sabina De Geest, PhD, RN Institut für Pflegewissenschaft
Universität Basel Bernoullistrasse 28
4051 Basel E-Mail: sabina.degeest@unibas.ch
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