Transkript
FORTBILDUNG
Infektion mit Kuhpocken
Bei verkrustenden Hautblasen an diese Zoonose denken
Die exklusiv humanspezifischen und oft tödlichen Pocken (Variola) sind dank effektiver Impfkampagnen wohl ausgestorben. Ihre «kleinen Schwestern» – nicht ganz korrekt als «Kuhpocken» bezeichnet – tummeln sich aber weiterhin auch in heimischen Populationen von Kleinnagern. Von denen können sie nicht nur auf Katzen und andere Tiere, sondern gelegentlich auch auf den Menschen überspringen.
WERNER STINGL
Kuhpockenvirus-Infektion beim Menschen
(Foto: Prof. Dr. H. Meyer, München)
Die Bezeichnung «Kuhpocken» ist etwas irreführend, denn das natürliche Reservoir der ursächlichen Viren sind Kleinnager, etwa Gelbhals- oder Rötelmäuse. Von denen können sie auf zahlreiche andere Tiere und auch auf den Menschen überspringen, so Prof. Dr. med. vet. Gerd Sutter, Institut für Infektionsmedizin und Zoonosen der Tierärztlichen Fakultät der Universität (LMU) München. Während die Kuhpocken früher vor allem bei Kühen auffielen und sie so zu ihrem Namen kamen, spielen sie in der modernen Landwirtschaft bei Rindern praktisch keine Rolle mehr. Weit häufiger trifft es heute frei laufende Katzen, die sich über meist asymptomatisch infizierte Nager anstecken und dann ihrerseits als Infektionsquelle für den Menschen infrage kommen (Fallbeispiel im Kasten 1). Statt von «Kuhpocken» ist deshalb oft auch von «Katzenpocken» die Rede. Für beide
Kasten 1:
War es die Schmusekatze?
Ulzerationen mit Schwellungen im Gesicht und am Hals — eine aktuelle Kasuistik
Bei der 17-jährigen Patientin, die sich in der dermatologischen Ambulanz des Universitätsklinikums in Frankfurt am Main vorstellte, entwickelten sich seit zwei Wochen Ulzerationen mit Schwellungen im Gesichtsbereich und am Hals. Sie war bereits ambulant und vergebens mit Antibiotika vorbehandelt. In der Untersuchung fielen neben dem Hautbefund auch die deutlich tastbaren regionalen Lymphknotenschwellungen auf. Die Patientin berichtete darüber hinaus über starke lokale Schmerzen im betroffenen Areal. Der Allgemeinzustand der fieberfreien Patientin war gut. Bei der klinischen Inspektion zeigten sich teilweise scharf, teilweise unscharf begrenzte Ulzerationen, berichtete Gustav Hauck vom Universitätsklinikum Frankfurt am Main auf der diesjährigen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Dermatologische Infektiologie und Tropendermatologie e.V. (ADI-TD). Teilweise waren auch nekrotische Veränderungen im Zentrum zu erkennen. Im Aufnahmelabor zeigte sich ein leicht erhöhtes CRP, die Leukozyten lagen im Normbereich.
Nachdem bereits zwei Jahre zuvor ein ähnlicher Fall in Frankfurt aufgetreten war, wurde die Verdachtsdiagnose einer Kuhpockeninfektion gestellt. Als mögliche Infektionsquelle kam die Katze der Patientin in Betracht. Deswegen wurde auch die entsprechende Diagnostik durchgeführt. Goldstandard sei die Realtime-PCR für Orthopoxviren, berichtete Hauck. Dieser Test fiel bei der Patientin positiv aus. Die anschliessende Sequenzierung ergab die höchste Verwandtschaft mit Kuhpocken. Die zusätzlich durchgeführte elektronenmikroskopische Untersuchung von Biopsien war allerdings negativ.
Im weiteren Verlauf wurde lokal antientzündlich behandelt, gegen die Schmerzen nahm die Patientin Ibuprofen ein. Es gebe bis anhin noch keine zugelassenen spezifischen Therapien, so Hauck. Ein sehr grosser Defekt an der Wange, bei dem sich die Nekrose gelöst hatte und eine tiefe Wunde hinterliess, wurde gespült und die Sekundärheilung abgewartet. Die MRT-Untersuchung zeigte in diesem Bereich eine Ausbreitung der Wundhöhle in die Tiefe des Mundbodens, die bis zum Kehlkopf und zur Parotis sondierbar war. Später wurde dieser Defekt gesichtschirurgisch versorgt.
Zusammenfassend stellte Hauck fest, dass es nicht immer die Schmuseratte sei, die die Kuhpocken auslöst. Es gebe auch andere frei laufende Tiere,
wie Katzen und Hunde, die die Kuhpocken übertragen können. Wichtig sei es, an die Möglichkeit einer Kuhpockeninfektion zu denken.
AZA
24 SZD 5/2015
Infektion mit Kuhpocken
Zoonosen ist aber das gleiche, primär bei Nagern vorkommende, jedoch traditionell immer noch meist als Orthopoxvirus bovis benannte Virus verantwortlich. Übertragen werden die Erreger durch direkten Kontakt lädierter Hautstellen mit infiziertem Gewebe, infizierten Sekreten beziehungsweise Ausscheidungen und wahrscheinlich auch durch Tröpfcheninfektion.
Falsche Therapie schlimmer als keine Therapie
Gegen Kuhpocken gibt es ausser einer symptomatischen Behandlung und Antibiotikagaben zur Abwehr bakterieller Sekundärinfektionen keine Therapie. Im Normalfall ist die Erkrankung selbstlimitierend und nach wenigen Wochen – abgesehen von eventuell zurückbleibenden vereinzelten Pockennarben – folgenlos überstanden. Besonders bei Immunsupprimierten sind aber schwere bis letale Verläufe möglich. Während auch die meisten tierischen Fehlwirte eine Kuhpockeninfektion gut überstehen, werden aus Zoos und Zirkussen immer wieder tödliche Verläufe bei einigen Spezies wie Elefanten oder Nashörnern berichtet. Wahrscheinlich kam das Kuhpockenvirus in den Heimatländern dieser Tiere nicht vor und spielte deshalb in der phylogenetischen Evolution ihres Immunsystems keine prägende Rolle. Wenngleich der Spontanverlauf beim Menschen im Regelfall gutartig ist, sollte man bei suspekten Symptomen (Kasten 2) an die Möglichkeit einer Kuhpockeninfektion denken und den Verdacht im mikrobiologischen Labor abklären lassen. Denn weitaus schlimmer als keine Therapie kann die falsche Therapie sein. Wer etwa bei dermalen Pockenläsionen irrtümlich glaubt, ein hartnäckiges Ekzem vor sich zu haben, und mit Kortikoiden behandelt, schwächt damit die lokale oder auch systemische Immunabwehr und kann damit den Krankheitsverlauf erheblich verschlimmern.
Zunahme infizierter Menschen befürchtet
Da es für Kuhpocken beim Menschen keine Meldepflicht gibt und ein Grossteil der Erkrankungen wohl verkannt wird, ist zur humanen Epidemiologie bis heute wenig bekannt, so Sutter weiter. Die Inzidenz dürfte allerdings höher sein, als die sporadischen Kasuistiken vermuten lassen. Auch zur Verbreitung bei Katzen ist noch Licht ins Dunkel zu bringen. Gemäss kleineren Untersuchungen weisen bis zu 2 Prozent aller frei laufenden Katzen Antikörper gegen die tierischen Pockenviren auf. Einige Experten befürchten, dass Kuh- beziehungsweise Katzenpocken beim Menschen in der Häufigkeit und in Einzelfällen womöglich auch in der
Kuhpocken-Infektion im Frühstadium an der Schulter, veursacht durch den Kontakt mit einer infizierten Schmuseratte
(Bild: Dr. Christian Becker,
Helios Klinikum Bielefeld;
Erstpublikation der Kasuistik
Dtsch Arztebl Int 2009;
106(19): 329–34)
Kasten 2:
Suspekt: Hautläsionen plus grippale Allgemeinsymptome
Erkrankt ein Mensch an Kuh- beziehungsweise Katzenpocken, imponieren in der Regel lokalisierte, singuläre genabelte Blasen mit einem Durchmesser von 1 bis 3 Zentimetern. Die oft juckenden Hauterscheinungen entwickeln im weiteren Verlauf ein schwärzliches, nekrotisierendes Zentrum, verkrusten und heilen nach 6 bis 8 Wochen narbig ab. Häufig sind zudem Begleitödem und regionale Lymphadenopathie sowie als Allgemeinsymptome Fieber, Abgeschlagenheit und Gelenkschmerzen. Bei entsprechender Symptomatik sollte gezielt nach suspekten Kontakten zu Haustieren wie Katzen oder «Schmuseratten» gefragt werden. Um eine Kuhpockeninfektion mit Sicherheit nachzuweisen beziehungsweise auszuschliessen, ist eine virologische Untersuchung von Krustenmaterial oder Vesikelflüssigkeit angezeigt. Zudem kann das Serum auf Antikörper gegen Orthopockenviren untersucht werden, wobei hier falschpositive Befunde infolge einer früheren Impfung oder Infektion sowie die ausgeprägten Kreuzreaktivitäten zwischen verschiedenen Orthopoxviren zu bedenken sind. Laut Robert-KochInstitut, Berlin, spielt die Serologie in der Akutdiagnostik nur eine untergeordnete Rolle. Wenngleich die Erkrankung im Normalfall selbstlimitierend und komplikationslos verläuft, sind bei Immunsupprimierten oder Atopikern schwere generalisierte oder sogar letale Verläufe denkbar. Erhöhte ophthalmologische Gefahr geht von augennahen Pockenläsionen aus.
Quelle: Epidemiologisches Bulletin Nr. 6/2009.
Schwere zunehmen könnten. Dies deshalb, weil seit
Mitte der Siebzigerjahre nicht mehr gegen Variola
geimpft wird. Bekanntlich war das Impfvirus eine
Laborversion des Kuhpockenvirus. Es schützte nicht
nur kreuzreaktiv vor den schweren, exklusiv humanen
Pocken, sondern selbstverständlich auch vor den
näher mit ihm verwandten Kuhpocken. Bei den nach
1975 Geborenen und damit Ungeimpften ist ein
solcher Schutz aber nicht mehr vorhanden (Anm. d.
Red.: In der Schweiz werden seit 1972 keine syste-
matischen Pockenimpfungen mehr durchgeführt).
Grund zur Panik besteht wohl dennoch nicht. Denn
wie beschrieben ist der natürliche Kuhpockenverlauf
im Normalfall eher mild. Wer eine Infektion durchge-
macht hat, dürfte den Immunstatus ehedem Geimpf-
ter – oder sogar einen besseren – haben und vor
einer erneuten Ansteckung geschützt sein.
L
Werner Stingl
SZD 5/2015
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