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Titel
Familienverbot
Untertitel
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Lead
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Datum
Autoren
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Rubrik
ARSENICUM
Schlagworte
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Artikel-ID
17321
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Arsenicum: Familienverbot

Kaum zu fassen, aber mit zunehmendem Berufsalter nähere ich mich den Überzeugungen der Psychoanalyse an: Die Mutter ist an allem schuld! Ich werde sogar noch radikaler. Nicht nur Mütter, sondern beide Eltern, Schwiegermütter und am besten der ganze Verwandtschafts-Clan sollten behördlich verboten werden. Denn was die Patienten so erzählen, lässt einen an Karl Kraus’ Aphorismus denken, dass am Wort «Familienbande viel Wahres» sei. Echte Verbrecher sind sie zuweilen, auch wenn sie selbst meist Opfer waren. Daher ist tröstlich, dass immer noch ein paar Ausserfamiliäre miterziehen. Dies war vielleicht auch die Überlegung von Johann I. von PfalzZweibrücken, eines trotz seiner Gehbehinderung sehr leistungsfähigen Regenten, der unter einem Schulden machenden Vater und einem streng religiösen älteren Bruder litt. Unterstützung fand er vor allem bei seinem Hauslehrer – den sein Vater entliess. 1592 führte Johann I. als weltweit Erster die allgemeine Schulpflicht ein. Was er nicht wissen konnte: Es gibt nicht nur engagierte, kinderliebende Pädagogen, sondern auch desinteressierte oder sogar sadistische Lehrer. Auch Heimerziehung ist nicht immer das kleinere Übel. Der Grundgedanke, hilflose Kinder nicht ganz alleine der Macht ihrer Familie zu überlassen, ist trotzdem beachtenswert. Doch das Streben des Staates – oder der religiösen Gemeinschaft –, die jungen Menschen in ihrem Sinne zu formen, kann je nach ideologischer Ausrichtung auch bedenklich sein. Glücklicherweise spielt immer noch die Genetik mit, haben Kinder trotz aller Erziehungs- und Indoktrinierungsversuche ihre eigene Persönlichkeit. Es ist erstaunlich und ermutigend, wie es Menschen oft schaffen, sich trotz

eines feindlichen Umfeldes gut zu entwickeln. Aber einfach haben es die jungen Leute nicht. Egal, wie die Eltern auch sind: Das Leben als Kind und Jugendlicher ist und bleibt schwer. Sind die Eltern lieblos und inkompetent oder gar brutal und ausbeutend, dann hat das Kind einen schwierigen Start und trägt vermutlich lebenslang Traumata mit sich herum. Sind Vater und Mutter liebevoll und beschützend, dann gibt es ein erschreckendes Erwachen, wenn das Kind den häuslichen Kokon verlässt und in eine alles andere als heile Welt kommt. Wenn die Kleinen in die Praxis kommen und man übermächtigen Eltern erst mal klarmachen muss, dass auch eine Sechsjährige das Recht hat, ein paar Minuten allein mit dem Doktor zu sprechen, der sich für die Ätiologie der vielen Hämatome am Körper interessiert, muss der Hausarzt oft seinen Zorn zurückhalten. Oder wenn die fragile Coolnessfassade des Teenies bröckelt, wenn ihm Tränen in die Augen schiessen, während er die komplexe Welt des Heranwachsenden schildert, dann ist man für jedes Jahr dankbar, welches einen von dieser schwierigen Zeit trennt, die man selbst in bittersüsser Erinnerung hat. Als Hausarzt ist man nicht Psychotherapeut, sondern kann die Patienten nur zu einem solchen weiter überweisen, was ich auch oft mache. Unsere Rolle beschränkt sich darauf, zu trösten, zu ermutigen, praktische Tipps zu geben. Man staunt, mit wie viel Liebe Kinder an ihren unmöglichen Eltern hängen. Man ist erschüttert, wenn Achtzigjährige über Unrecht weinen, das ihnen angetan wurde, obwohl der familiäre Täter seit sechzig Jahren im Grab liegt. Das Gras ist über den bösen Onkel gewachsen – über die Untat aber noch lange nicht. Dann stellt sich die Frage, ob man mit

Exploration und Therapie alte Wunden wieder aufreisst oder schwärende seelische Verletzungen endlich mal weit im Gesunden ausräumt. Gelegentlich kann man Schlimmeres verhindern und sollte dies auch tun. Als ich gerade frisch die Praxis eröffnet hatte, hatte ich zwei schlaflose Nächte, weil ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich eine Anzeige machen sollte. Dann tat ich es – voller Zweifel. Der Bericht der Sozialarbeiter, die das Messie-Elternhaus daraufhin überprüft und die Elfjährige und den Siebenjährigen aus der menschenunwürdigen Dreckbude gerettet haben, erschütterte mich. So schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Die kleine Patientin kam später wieder in meine Praxis, deutlich besser ernährt, entlaust und mit geheilter Krätze. Es zerriss mir fast das Herz, wenn sie wehmütig sagte, dass – wenn sie gerade nicht betrunken und rohypnolisiert waren – der Papi so lustige Lieder auf dem Handörgeli gespielt und das Mami leckere Spaghetti mit Dosentomatensauce gekocht hat. Das sei schön gewesen. Ihr kleiner Bruder vermisse das auch und weine sehr viel bei den Pflegeeltern. Heute ist sie eine junge Frau mit einem Beruf, der ihr Freude macht. Sie führt eine gute Ehe mit einem liebevollen Mann und ist eine wunderbare Mutter. Wir reden nicht mehr über ihre Vergangenheit. Ein- oder zweimal habe ich das Thema angeschnitten, doch sie hat es sofort beendet. Es ist Vergangenheit, und wir lassen sie vergangen sein – als Hausärzte ohne psychoanalytischen Auftrag dürfen wir das.

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ARS MEDICI 23 I 2015