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Neue Antiepileptika
Teil 1: Indikationen, Interaktionen und Verträglichkeit
JOURNAL OF THE AMERICAN MEDICAL ASSOCIATION
Im letzten Jahrzehnt sind
neue Antiepileptika auf den
Markt gekommen, welche die
Therapieoptionen erweitert
und verbessert haben. Eine
Beurteilung der Substanzen
unternimmt ein Artikel im
JAMA.
Patienten mit Epilepsien benötigen oft eine Langzeittherapie. Mehrheitlich gelingt es, mit Antiepileptika die Betroffenen anfallsfrei zu halten, doch 30 bis 40 Prozent werden auch unter Kombinationstherapie – wenn auch seltener – Anfälle erleiden. Viele Epileptiker werden auf lange Sicht vom Hausarzt (mit)betreut. Das zeigen Daten aus den USA. Doch wie Befragungen ergeben haben, fühlt sich nur jeder zweite Allgemeinarzt ausreichend vertraut mit Medikamenten. Bis Anfang der Neunzigerjahre hatten es die Ärzte zumindest hinsichtlich der Auswahl des Antiepileptikums weniger schwer. Zur Verfügung standen nämlich lediglich Phenobarbital (z.B. Luminal®), Primidon (Mysoline®), Phenytoin (z.B. Epanutin®), Carbamazepin (z.B. Tegretol®) und Valproinsäure (z.B. Convulex®) – allesamt in ihren Einsatzgebieten wirksame Medikamente, jedoch nicht selten von eingeschränkter Verträg-
lichkeit. Inzwischen sind einige neue Antiepileptika hinzugekommen, die zumeist besser verträglich sind und ein breiteres Aktivitätsspektrum aufweisen. Die Behandlungsoptionen haben sie erweitert, aber auch den Bedarf an zusätzlichen Kenntnissen. Genau diese neuen Antiepileptika stellen die JAMA-Autorinnen Suzette M. LaRoche und Sandra L. Helmers vor. Sie adressieren ihren Beitrag ausdrücklich an Allgemeinärzte. Auf der Grundlage einer ausgiebigen Literaturrecherche machen sie Angaben zu Wirksamkeit, Pharmakokinetik und Verträglichkeit. Dabei schicken sie eines voraus: In den vorliegenden Studien wird die Wirksamkeit der Antiepileptika tendenziell unterschätzt, was damit zu tun hat, dass oft Patienten mit refraktären Epilepsien untersucht wurden, die nicht die Masse der im Praxisalltag vorkommenden Patienten widerspiegeln. Die Toxizität wird dagegen eher überschätzt, unter anderem weil in den Studienplänen oft schneller auftitriert wird als empfohlen. Hinzu kommt die Besonderheit, dass relativ wenige der neuen Substanzen in Monotherapie untersucht wurden – ein Umstand, der zu häufiger Off-Label-Anwendung geführt hat.
Felbamat (Taloxa®) Als Felbamat 1993 in den USA zugelassen wurde, war der Enthusiasmus zunächst gross. Die Substanz zeichnet sich nämlich durch eine hohe Wirksamkeit aus. Die Zulassung erfolgte zur Monotherapie und Kombinationsbehandlung partieller Anfallsleiden bei Erwachsenen und auch bei Kindern mit generalisierter Epilepsie mit Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS). Das LGS ist eine Epilepsieform mit schweren kognitiven Dysfunktionen, begleitet von verschiedenen Anfällen, darunter auch ato-
Merk-
sätze
q Neue Antiepileptika weisen besonders bei jenen Patienten Vorteile auf, die unter den herkömmlichen Antiepileptika Nebenwirkungen beklagen und weiterhin Anfälle erleiden.
q Neue Antiepileptika zeichnen sich nicht nur durch ein breites Wirkspektrum, sondern (mit Ausnahme von Felbamat) auch durch eine hohe Sicherheit und Verträglichkeit aus.
nische Anfällen (Drop Attack), die oftmals therapieresistent sind. Mit Felbamat als Add-on-Therapie lassen sich die Anfälle um etwa 30 Prozent reduzieren. Doch die Euphorie schlug ein Jahr später in Ernüchterung um. Unter der Therapie war es vereinzelt zu lebensbedrohlichen aplastischen Anämien und zu Leberversagen gekommen. Man schätzt die Inzidenz dieser Nebenwirkungen auf 1:8000. Felbamat blieb dennoch auf dem Markt, allerdings nicht mehr als Erstlinienmedikament. Vielmehr kommt es bei schwer refraktären Anfällen nach genauem Abwägen von Risiken und Nutzen in Betracht.
Gabapentin (Neurontin®) ist ebenfalls nunmehr etwa zehn Jahre auf dem Markt. Es ist in den USA indiziert zur Kombinationsbehandlung bei partieller Epilepsie mit und ohne sekundäre Generalisation bei Personen ab drei Jahren. In der Schweiz ist die Substanz aber auch zur
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Neue Antiepileptika
Monotherapie bei partiellen und sekundär generaliserten Anfallsleiden zugelassen. Gabapentin ist vermutlich das am meisten eingesetzte Kombinationstherapeutikum bei Epileptikern. Das liegt an dem breiten Wirkspektrum, der Sicherheit und Verträglichkeit, der einfachen Handhabung und dem Fehlen von Arzneimittelinteraktionen. Die Tagesdosis beträgt 900 bis 4800 mg, zumeist auf drei Dosen verteilt. Schwindelgefühl, Ermüdung und Somnolenz sind öfter auftretende Nebenwirkungen, die sich vielfach aber innerhalb der ersten zwei Wochen zurückbilden. In der Postmarketing-Phase wurde zudem geringfügigen Gewichtszunahme als mögliche Begleitwirkung erkannt. Ernsthafte Organschädigungen sind bis heute nicht dokumentiert.
Lamotrigin (Lamictal®) ist ebenfalls ein Breitspektrum-Antiepileptikum. Lamotrigin ist indiziert als Zusatztherapie zur Behandlung von partieller Epilepsie mit oder ohne sekundär generalisierte tonisch-klonische Anfälle und bei primär generalisierten tonisch-klonischen Anfällen. Lamictal wird nicht empfohlen als initiale Monotherapie zur Behandlung von Kindern, bei welchen erstmals eine Epilepsie diagnostiziert wurde. Ansonsten gilt: Ist die Kontrolle der Epilepsie unter zusätzlicher Verabreichung von Lamotrigin erreicht, können die anderen Antiepileptika abgesetzt und Lamotrigin als Monotherapie weitergeführt werden. Das Antipepileptikum muss wegen der Gefahr von Hautrötungen besonders langsam auftitriert werden. Diese Nebenwirkung tritt bei jedem zehnten Patienten auf. Bei etwa 4 Prozent muss die Substanz deswegen abgesetzt werden. Bei 0,3 Prozent der Erwachsenen kann sich ein lebensbedrohliches Steven-Johnson-Syndrom entwickeln. Diese Daten beruhen aber auf Studien, in denen eine höhere Dosen als gemeinhin üblich verwendet wurden. Zudem hat eine jüngere Studie bei 73 Fällen gezeigt, dass das Risiko für ein StevensJohnson-Syndrom geringer ist als unter Phenobarbital, Phenytoin und Carbamazepin. Die Gefahr von Hautrötungen ist höher bei gleichzeitiger Gabe von Valproin-
säure, weil diese den Metabolismus von Lamotrigin verlangsamt. Lamotrigin hat insgesamt den Vorteil eines breiten Wirkungsspektrums mit minimaler Sedierung und fehlenden Arzneimittelinteraktionen. Zu beachten ist, dass es mindestens acht bis zwölf Wochen dauert, bis die Erhaltungsdosis erreicht ist.
Topiramat (Topamax®) ist ebenfalls ein Antipileptikum mit breiter Wirkung, das als Zusatztherapie bei Erwachsenen und Kindern ab zwei Jahren mit partiellen Anfällen, primär generalisierten Epilepsien und LGS eingesetzt werden kann. Es muss auch langsam aufdosiert werden, beginnend mit einer geringen Dosis von 25 oder 50 mg täglich, die wöchentlich um diese Dosis erhöht wird. Die Zieldosis beträgt etwa 400 mg zweimal täglich. Nebenwirkungen, die häufiger als unter Plazebo beobachtet wurden, sind Ataxie, Konzentrationsmängel, Verwirrtheit, Schwindel und Müdigkeit, vor allem bei Patienten, die mehr als 600 mg täglich einnehmen und die rasch innerhalb von drei bis vier Wochen auftitriert wurden. Überempfndlichkeitsreaktionen oder Organschäden sind nicht beobachtet worden. Topiramat hat keinen Einfluss auf andere Antiepileptika, bei gleichzeitiger Einnahme der «Pille» mit niedrigem Östrogengehalt kann es aber zu Abbruchblutungen und unerwünschten Schwangerschaften kommen. Auch Carbamazepin, Barbiturate, Oxcarbazepin und Phenytoin können die Wirksamkeit von Kontrazeptiva herabsetzen. Das Nierensteinrisiko soll bei Langzeittherapie mit Topiramat etwas erhöht sein, leichte Gewichtsabnahme ist möglich. Insgesamt sprechen für die Substanz aber das geringe Interaktionspotenzial und fehlende schwere Nebenwirkungen.
Tiagabin (Gabitril®) wird eingesetzt zur Kombinationstherapie partieller Epilepsien bei Patienten ab zwölf Jahren. Die Substanz zeichnet sich durch eine geringe Halbwertzeit aus. Bei zwei bis vier Einnahen pro Tag ist die Wirksamkeit gewährleistet. Begonnen wird
die Therapie meist mit 4 mg pro Tag, anschliessend erhöht man die Dosis wöchentlich bis auf 32 oder 64 mg täglich. Tiagabin wird über das ZytochromP-450-System abgebaut, induziert das Enzymsystem jedoch nicht, weshalb kaum mit Interaktionen zu rechnen ist. Die gleichzeitige Anwendung von Phenobarbital oder Carbamazepin reduziert aber die Halbwertzeit von Tiagabin. In sehr seltenen Fällen kann unter Tiagabin ein nonkonvulsiver Status epilepticus (v.a. Absenzen) ausgelöst werden.
Levetiracetam (Keppra®) ist zugelassen zur Kombinationstherapie von partiellen Epilepsien bei Erwachsenen. Die Substanz hat ein günstiges pharmakokinetisches Profil und eine gute Verträglichkeit. Die Therapie wird mit 500 mg begonnen und schrittweise auf die Zieldosis von etwa 1000 bis 3000 mg angehoben. Levetiracetam bietet den Vorteil einer günstigen Pharmakokinetik und einer hohen Sicherheit auch bei rascher Auftitrierung. Zu den häufigeren Nebenwirkungen, die wohl nicht dosisabhängig sind, zählen Somnolenz, Asthenie und Kopfschmerzen. Auch Agitiertheit und Angst können bei manchen Patienten auftreten.
Oxcarbazepin (Trileptal®) ist ein Analogon von Carbamazepin. Zugelassen ist es zur Behandlung von partiellen Anfällen mit oder ohne sekundär generalisierte tonisch-klonische Anfälle sowie bei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen bei Erwachsenen und Kindern im Alter ab fünf Jahren. Die Substanz bietet eine vergleichbare Wirkung wie Carbamazepin, hat aber ein geringeres Interaktionspotenzial und ist besser verträglich – mit Ausnahme der Hyponatriämien, die bei 23 Prozent auftreten können, aber nur sehr selten zum Abbruch der Therapie führen. Die häufigeren Nebenwirkungen in klinischen Studien waren dosisabhängig und umfassen unter anderem Ataxie, Schwindel, Übelkeit und Ataxie. Oxcarbazepin interagiert nicht mit anderen Antiepileptika, auch nicht mit Warfarin (Marcumar) und Cimetidin.
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Neue Antiepileptika
Unterschiedliche Wirksamkeit der neuen Antiepileptika?
Bislang gibt es keine randomisierten und kontrollierten Studien, die Wirksamkeit und Verträgichkeit von neuen Antiepileptika direkt miteinander vergleichen. Obwohl die Substanzen im Rahmen der Zulassung als Add-on-Therapie mit ähnlichem Studiendesign getestet wurden, machen unterschiedliche Populationen und verschiedene Titrationsschemata einen Vergleich unmöglich. Dennoch existiert eine Metaanalyse von Marson et al., in der randomisierte Studien mit Gabapentin, Lamorigin, Tiagabin, Topiramat, Vigabatrin und Zonisamid (i.d. Schweiz nicht im Handel) verglichen wurden mit Plazebo, und zwar als Add-on-Therapie bei Patienten mit refraktärer partieller Epilepsie. Dabei hatte Topiramat die höchste Responderrate. Ausserdem zeigte die Untersuchung, dass unter Lamotrigin und Gabapentin die Abbruchrate nicht höher war als unter Plazebo. Die vorliegenden Daten erlauben es dem Arzt nach Meinung der Autorinnen jedoch nicht, eine evidenzbasierte Therapieentscheidung zu treffen. Die Ergebnisse deuten aber an, dass es sehr wohl Unterschiede zwischen den Substanzen gibt, die «in künftigen Studien deutlicher differenziert werden könnten».
Überlegenheit gegenüber den alten Substanzen?
Obwohl es keine umfassenden Untersuchungen gibt, in denen alte und neue direkt miteinander verglichen wurden, spricht einiges dafür, dass die neuen Antiepileptika Vorteile aufweisen, meinen die Autorinnen. So sind Gabapentin, Lamotrigin und Ox-
carbazepin mit Carbamazepin verglichen worden (als Monotherapie bei partieller Epilepsie), wobei sich eine bessere Verträglichkeit bei ähnlicher Wirksamkeit herausstellte. Die meisten der neuen Antiepileptika verursachen keine Leberenzyminduktion und sie interagieren nicht mit anderen (hepatisch) metabolisierten Medikamenten, anders als etwa Phenobarbital, Phenytoin oder Carbamazepin. Nachteilig sind lediglich die höheren Kosten. Derzeit, so die Autorinnen, sei eine überlegene Kosteneffektivität der neuen Antiepileptika nicht bewiesen.
Routine-Monitoring erforderlich?
In der Epilepsietherapie ist das Monitoring durch Messung der Wirkstoff-Serumspiegel breit etabliert, weil man glaubt, die Dosis so besser einstellen zu können. Allerdings bleibt dabei unbedacht, dass die in der Literatur genannten «therapeutischen Bereiche» durchaus öfter nicht mit der Reaktion des einzelnen Patienten übereinstimmen. Deshalb gilt für alle (auch die neuen) Antiepileptika, dass ein Auftitrieren bis zur gewünschten Wirksamkeit immer notwendig ist. Ein Serum-Monitoring ist zumeist nur erforderlich, wenn ein Therapieerfolg ausbleibt und es abzuklären gilt, ob beispielsweise mangelnde Compliance dahinter steckt. Weil viele der traditionellen Antiepileptika ernsthafte Blutbildungs- und Leberschäden hervorrufen können, sind entsprechende Laboruntersuchungen zu Therapiebeginn und später zur Kontrolle notwendig. Unter den neuen Antiepileptika ist Felbamat das einzige Medikament, das ernst zu nehmende Nebenwirkungen hat, die zwar selten sind, doch einen töd-
lichen Ausgang nehmen können. Ein komplettes Blutbild und Leberenzym-Bestimmung sind also zu Beginn und später in regelmässigen Abständen angezeigt.
Was tun bei Niereninsuffizienz und Lebererkrankungen?
Für die meisten neuen Antiepileptika liegen
pharmakokinetische Studien bei Patienten
mit Leber- und Nierenschäden vor. Allein
unklar ist ihre klinische Aussagekraft. Ge-
rade für Patienten mit Lebererkrankungen
existieren keine entsprechenden Empfeh-
lungen. Es gilt aber, dass Gabapentin und
Levetiracetam keinen signifikanten Leber-
stoffwechsel durchlaufen und deshalb re-
lativ sicher bei Leberkranken sein dürften.
Diese beiden Substanzen werden vor-
zugsweise über die Niere ausgeschieden,
weshalb die Dosis bei Patienten mit Nie-
reninsuffizienz verringert werden muss.
Die Hersteller geben in der Packungsbei-
lage entsprechende Anweisungen, die auf
der Kreatinin-Clearance basieren.
Die Eliminations-Halbwertzeit von Topira-
mat und Oxcarbazepin ist bei Nieren-
insuffizienz verlängert, spezielle Anwen-
dungsempfehlungen liegen aber nicht
vor. Bei Felbamat, Lamotrigin und Tiaga-
bin liegen keine ausreichenden Daten bei
Niereninsuffizienten vor.
q
Suzette M. LaRoche, Sandra L. Helmers: The new antiepileptic drugs. JAMA 2004; 291: 605–614.
Uwe Beise
Interessenkonflikte: keine
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