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Titel
Die Wiederentdeckung des Datenschutzes
Untertitel
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Lead
Nachdem der Zug längst aus dem Bahnhof gefahren ist und er sein Ziel fast erreicht hat, nämlich den gläsernen Patienten zu schaffen, werfen sich einige tollkühne Ärzte im Bahnhof über die leeren Gleise. Sie bringen das Kunststück fertig, einerseits lautstark um das sehr, sehr tote Patientengeheimnis zu trauern, und sich gleichzeitig unverzagt an die Reanimation der bereits putriden Leiche zu machen. Ausserdem muss natürlich der Schuldige gefunden werden, der wegen Tarmed die Datenschutzlosigkeit akzeptiert hat.
Datum
Autoren
-
Rubrik
BERUF - PRAXIS - POLITIK - GESELLSCHAFT — ARSENICUM
Schlagworte
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Artikel-ID
17208
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Die Wiederentdeckung des Datenschutzes

Nachdem der Zug längst aus dem Bahnhof gefahren ist und er sein Ziel fast erreicht hat, nämlich den gläsernen Patienten zu schaffen, werfen sich einige tollkühne Ärzte im Bahnhof über die leeren Gleise. Sie bringen das Kunststück fertig, einerseits lautstark um das sehr, sehr tote Patientengeheimnis zu trauern, und sich gleichzeitig unverzagt an die Reanimation der bereits putriden Leiche zu machen. Ausserdem muss natürlich der Schuldige gefunden werden, der wegen Tarmed die Datenschutzlosigkeit akzeptiert hat. Dies ist kein Problem: Es grenzt ja bald schon an Gewohnheitsrecht, FMHPräsident Hans Heinrich Brunner jederzeit als Sündenbock, Prügelknabe oder Beschimpfungsobjekt zu benutzen – wobei es völlig egal ist, ob er etwas mit dem jeweiligen Thema zu tun hat oder nicht. Laut lamentiert wird auch darüber, dass «nie irgendjemand irgendetwas» unternommen habe. Sind Herr Yves Guisan, Herr Peter Bachmann und Frau Simonetta Sommaruga etwa NiemandInnen? Die selbsternannten Ritter und Retter des medizinischen Datenschutzes übersehen bei ihrem heroischen Einsatz einige Kleinigkeiten. Zum Beispiel gültige Verträge sowie gesetzliche Vorschriften, die bereits auf das KUVG aus dem Jahre 1911 zurückgehen und die schon damals die Offenlegung von Diagnosen, Therapien und so weiter verlangten. Im KVG wurde

dann – wohlgemerkt zugunsten der versicherten Personen und zum Schutze des Patientengeheimnisses – ausdrücklich der Vertrauensarzt mit einer wichtigen «Filterfunktion» betraut. Es besteht seither die Möglichkeit für den behandelnden Arzt und den Patienten, bei heiklen Diagnosen den Code U = Vertrauensarzt informiert, anzuwenden. Noch erstaunlicher ist es, dass die hippokratischen Kämpfer nicht berücksichtigen, dass bereits der Briefkopf des Arztes auf dem Rechnungsformular oder die Rezeptformulare einiges über das mutmassliche Leiden aussagen, wegen dessen sich der/ die PatientIn in Behandlung begeben hat. Selbstverständlich kann der Facharzt für Urologie, Kompetenzzentrum Andrologie und Fertilitätsberatung, auch nur wegen einer banalen Zystitis aufgesucht worden sein. Auch der Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH kann nur wegen Einschlafstörungen konsultiert worden sein. Der Apotheker wirdstoisch das Rezept für Antabus, Campral und Surmontil einlösen – aber vermutlich nicht denken, dass die Hauptdiagnose seines Kunden eine seborrhoische Dermatitis ist. Seit Jahren verwenden zudem die Schweizer Spitäler den ICD-9/ICD-10 Code. Natürlich grinst man auf den Stockzähnen, wenn man die Antwort des Bundesrates vom 7. Dezember 2001 auf die Interpellation Sommaruga liest, in der er

noch festhielt: «Es wäre unverhältnismässig, die Leistungserbringer zu verpflichten, auf den Arztrechnungen systematisch einen Diagnosecode aufzuführen, der detaillierte Angaben zum Gesundheitszustand der versicherten Person erteilt.» Da fragt man sich, wie detailliert es denn sein darf. Beziehungsweise, ob es nicht doch eine gewisse Menge an Details braucht, damit eine andere Forderung des Datenschutzgesetzes im Artikel 5, nämlich die Richtigkeit der Daten, gewährleistet wird. Die guteidgenössische Kompromisslösung heisst «Tessiner Code» und weckt behagliche Assoziationen an Vino und Sonnenstube. Tatsächlich sagt der Tessiner Code eigentlich gar nichts aus. Ob das so sinnvoll ist, sei dahingestellt. Resignierend nimmt der altgediente Hausarzt zur Kenntnis, dass zumindest das Ausplaudern durch Versicherungspersonal nach wie vor strafbar ist, dass es das Patientengeheimnis schon lange nicht mehr wirklich gibt, dass dies den meisten PatientInnen aber herzlich egal ist und sie fröhlich über ihre Warzen, Wunden und Wehwehchen plaudern. Sarkastisch, wie man als altgedienter Hausarzt nun mal geworden ist, stellt man sich die Frage, ob es den wackeren Kämpfern denn wirklich um Datenschutz, und nicht eher um den Schutz von lukrativen Mauscheleien und Pfründen geht …

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