Transkript
BERICHT
IBS: Was steckt dahinter, und was hilft?
Neue pathophysiologische Konzepte und Behandlungen für das Reizdarmsyndrom
Während das Reizdarmsyndrom (irritable bowel syndrome, IBS) vor 60 Jahren noch als psychische Erkrankung galt, konzentrieren sich neuere pathophysiologische Konzepte, wie die «Low-FODMAP»-Diät, auf verschiedene körperliche Funktionsstörungen. PD Dr. Daniel Pohl, Leiter der Sprechstunde «Funktionelle Magen-Darm-Erkrankungen» am Universitätsspital Zürich informierte an der Fortbildung Medidays Zürich 2015 über diese Diät sowie neue Ansätze zur medikamentösen Therapie bei IBS.
Alfred Lienhard
Die Ansichten zur Pathophysiologie des IBS haben sich in den vergangenen 60 Jahren immer wieder stark verändert: O Von etwa 1950 bis 1960 wurde das
IBS als rein psychische Erkrankung aufgefasst. O Von etwa 1960 bis 1980 wurden funktionelle Magen-Darm-Erkrankungen (IBS, funktionelle Dyspepsie) mit Motilitätsstörungen erklärt. Es wurden zwei IBS-Subtypen mit
MERKSÄTZE
O Neuerdings wird eine nicht inflammatorische Bindegewebserkrankung mit IBS-Beschwerden in Verbindung gebracht.
O Die FODMAP-arme Diät gilt als wichtigste Neuerung; sie hilft besonders Patienten mit blähungsbetontem IBS.
O Chloridkanalaktivatoren eignen sich zur Behandlung des obstipationsbetonten IBS-C.
O Bei diarrhöbetonten IBS-D können Gallensäurebinder (z.B. Colestyramin) oder in schweren Fällen Ondansetron (off-label) versucht werden.
verlangsamter beziehungsweise zu schneller Darmpassagezeit als Ursache der Beschwerden unterschieden: der obstipierte (IBS-C) und der diarrhöbetonte Subtyp (IBS-D). O Von etwa 1980 bis 2000 rückte das Konzept der viszeralen Hyperalgesie in den Vordergrund. IBS-Patienten spüren Dehnungsreize des Rektums (im Rektum aufgeblasener Ballon) bereits dann, wenn Kontrollpersonen noch nichts spüren. Bei IBSPatienten lösen Stimuli, die für Kontrollpersonen nicht schmerzhaft sind, Schmerzen aus. O Seit der Jahrtausendwende interessiert sich die Forschung für die Dysregulation von Interaktionen zwischen dem zentralen und dem lokalen, enterischen Nervensystem (brain-gut axis). Zudem werden neuroimmunologische Phänomene, Veränderungen des Mikrobioms, Einflüsse der Ernährung und der Genetik und seit Kurzem auch Zusammenhänge mit Bindegewebsveränderungen erforscht.
FODMAP-arme Diät: die wichtigste
Neuerung in der IBS-Therapie
Dass sich ein Reizdarmsyndrom postinfektiös nach einer bakteriellen Gastroenteritis bemerkbar machen kann, ist keine neue Erkenntnis. Derzeit werden
intensiv Veränderungen des Mikrobioms erforscht, die als Komponente zum IBS beitragen, aber nicht die alleinige Erklärung darstellen. Genetik und Epigenetik des IBS seien ein komplexes Feld, so der Referent. Beim IBS bestehe eine familiäre Häufung, aber auch das soziale Lernen stelle einen wichtigen Faktor bei der Entwicklung des IBS dar. Ein erhöhtes IBS-Risiko besteht auch bei Partnern von IBS-Patienten, wie kürzlich in einer schwedischen FallKontroll-Studie gezeigt wurde (1). Rund vier von fünf IBS-Patienten berichten, dass Nahrungsmittel bei ihnen Symptome auslösen, sagte der Referent. Während man früher meist von Nahrungsmittelintoleranzen gegenüber Einzelsubstraten (z.B. Laktose oder Fruktose) ausging, wurde das Intoleranzenspektrum neuerdings mit dem interessanten FODMAP-Konzept erheblich erweitert. Das Konzept postuliert, dass Intoleranzen gegenüber einer ganzen Gruppe fermentierbarer Kohlenhydrate und Zuckeralkohole (FODMAP = fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole) bei der Entstehung von IBS-Symptomen wichtige Rollen spielen (Kasten). Diese Bestandteile der Ernährung sind: O im Dünndarm schlecht absorbierbar O osmotisch aktive kleine Moleküle
(laxativer Effekt) O im Dickdarm durch Bakterien
schnell fermentierbar (Flatulenz durch Gasbildung, Schmerzen durch Drucksteigerung auf die Darmwand)
Susan Shepherd und Peter Gibson von der Monash University, Victoria, Australien, stellten die FODMAP-Hypothese erstmals vor zehn Jahren auf. Im Jahr 2008 konnten die australischen Autoren dann in einer randomisierten, plazebokontrollierten, doppelblinden Provokationsstudie nachweisen, dass
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Kasten 1:
Was sind FODMAP?
O Oligosaccharide – Fruktane wie Fruktooligosaccharide (z.B. in Weizen, Zwiebeln) und Inulin (z.B. in Artischocke) – Galaktane (z.B. in Linsen, Bohnen)
O Disaccharide wie Laktose (z.B. in Milch und Milchprodukten)
O Monosaccharide wie Fruktose (z.B. in Apfel, Honig)
O Polyole – Sorbit (z.B. E 420, in Kirsche, Blumenkohl) – Mannit, Maltit, Isomaltit (z.B. E 967, E 421, E 965, E 53)
Kasten 2:
«Joint-hypermobility»-Syndrom und IBS
O nicht inflammatorische Bindegewebserkrankung
O synonym mit Ehlers-Danlos Typ III
O charakterisiert durch übermässige Gelenkbeweglichkeit, Hyperextensibilität der Haut, muskuloskelettale Symptome
O autosomal-dominant vererbt mit inkompletter Penetranz und variabler Expression
O häufig, aber unterdiagnostiziert
O assoziiert mit funktionellen MagenDarm-Erkrankungen (z.B. IBS).
FODMAP in der Ernährung – in Form von Fruktose und Fruktanen – bei IBSPatienten Symptome auslösen können und dass die Behandlung mit einer FODMAP-armen Diät eine nachhaltige Symptombesserung erreichen kann (2). Manche Patienten sind überzeugt, dass sie Gluten schlecht vertragen, obschon sie nachgewiesenermassen keine Zöliakie haben. Wahrscheinlich geht die Besserung ihrer Beschwerden nicht auf das Konto ihrer glutenfreien Ernährung, sondern ist vielmehr der verringerten Aufnahme von FODMAP zu verdanken. Bei vielen glutenfreien Nahrungsmitteln sei nämlich der Gehalt an FOD-
MAP geringer, so der Referent. Definitionsgemäss bessert eine glutenfreie Diät die Beschwerden von Patienten mit NCGS (non-celiac gluten sensitivity), obschon sie nicht an einer Zöliakie erkrankt sind. In einer randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten «Cross-over»-Studie erhielten in Australien Patienten mit NCGS und IBS während 2 Wochen eine FODMAP-arme Diät (3). Bei allen Patienten besserten sich dabei die gastrointestinalen Symptome. Danach wurden sie während je einer Woche mit drei Diäten mit unterschiedlichem Glutengehalt provoziert. In den meisten Fällen wurde dabei kein für Gluten spezifischer oder dosisabhängiger Effekt ausgelöst. Bei rund der Hälfte der Patienten, die in seine IBS-Sprechstunde kommen, bestehe ein «Joint-hypermobility»-Syndrom, berichtete der Referent (Kasten 2). Neuerdings wird diese nicht inflammatorische Bindegewebserkrankung mit IBS-Beschwerden in Verbindung gebracht (4).
Neue medikamentöse
Behandlungsmöglichkeiten
Die Chloridkanalaktivatoren Linaclotid und Lubiproston benutzen neuartige Wirkmechanismen und eignen sich als potente Medikamente zur Behandlung von Obstipationsbeschwerden. In grossen Studien konnte die Wirksamkeit beider Substanzen bezüglich der Stuhlregulation und des abdominellen Dyskomforts belegt werden. Von Swissmedic wurde Linaclotid bei Erwachsenen zugelassen zur symptomatischen Behandlung des mittelschweren bis schweren Reizdarmsyndroms mit Obstipation (IBS-C). Es handelt sich um einen Guanylatzyklase-C-Rezeptor-Agonisten, der an der luminalen Oberfläche des Darmepithels an den Rezeptor bindet. Linaclotid verringert viszerale Schmerzen und aktiviert einen Kanal, der Chlorid und Wasser ins Darmlumen einströmen lässt. Lubiproston wurde von Swissmedic bei Erwachsenen zur Behandlung der chronischen idiopathischen Obstipation und der opiatinduzierten Obstipation zugelassen. Lubiproston aktiviert den Chloridkanal direkt, sodass Chlorid und Wasser ins Darmlumen sezerniert und der Stuhl verflüssigt werden. In der Schweiz ist das Medikament in Weich-
kapseln zu 24 Mikrogramm erhältlich (in den USA 8 µg). Der Referent machte auf die Limitatio aufmerksam, die in der Spezialitätenliste für Lubiproston besteht: Die Therapie ist nur für Patienten über 18 Jahre vorgesehen, die nicht auf eine Vorbehandlung mit mindestens zwei Laxanzien verschiedener Klassen über einen Zeitraum von mindestens 9 Monaten angesprochen haben. Falls die Behandlung nach 4 Wochen nicht erfolgreich war (Zunahme der Stuhlfrequenz um ≥ 1 Darmentleerung pro Woche), muss das Präparat abgesetzt werden. Die maximale Therapiedauer beträgt 52 Wochen. Für eine längere Therapie ist eine Kostengutsprache durch den Krankenversicherer nach vorgängiger Konsultation des Vertrauensarztes erforderlich. Gallensäurebinder (z.B. Colestyramin) eignen sich aufgrund neuer Studien zur Behandlung eines diarrhöbetonten IBSD. Die Gallensalze werden gebunden, und der Stuhl wird fester. Ein Behandlungsversuch mit einem Gallensäurebinder sei nebenwirkungsarm und oft effektiv, so der Referent. Sein Fazit: «Diese Therapie schmeckt schlecht, ist aber sehr elegant und sehr günstig.» Er setzt Gallensäurebinder in der Regel auf die Nacht ein. Eine interessante Behandlungsoption bei IBS-D stellen serotoninrezeptormodifizierende Medikamente (z.B. Ondansetron) dar. Die starke antiemetische Wirkung von Ondansetron ist aus der Onkologie gut bekannt. Überdies reduziert der Wirkstoff, der auch als Generikum erhältlich ist, die Darmtätigkeit. Bei schweren Fällen von IBS-D oder funktioneller Dyspepsie kann ein «Offlabel»-Behandlungsversuch unternommen werden. Im Jahr 2011 publizierte Mark Pimentel, Cedars-Sinai Medical Center, Los Angeles, im New England Journal of Medicine, zwei viel beachtete Studien zur IBS-Behandlung mit dem darmselektiven Antibiotikum Rifaximin (TAGET 1 und 2). Diese Studien haben das Interesse an Veränderungen und Behandlungen der Darmmikroflora bei IBS neu stimuliert. Gemäss der Arzneimittelinformation (swissmedicinfo.ch) ist das Präparat Xifaxan® 550 mg in der Schweiz zur Verminderung des Auftretens von Episoden einer manifesten hepatischen Enzephalopathie bei Leberzirrhosepatienten registriert. Insgesamt
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1260 Patienten mit IBS ohne Obstipation erhielten in den beiden plazebokontrollierten Doppelblindstudien während 2 Wochen randomisiert entweder 3-mal täglich 550 mg Rifaximin oder Plazebo (5). Nach der Behandlung folgte ein 10-wöchiges Follow-up. In den Rifaximingruppen berichteten signifikant mehr Patienten (40,7%) in den ersten 4 Wochen des Follow-up über eine adäquate Besserung der IBSSymptome als in den Plazebogruppen (31,7%). Auch Blähungen besserten sich mit der aktiven Therapie signifikant häufiger als mit Plazebo (40,2 vs. 30,3%). Es konnte auch ein nachhaltiger Nutzen während mindestens 10 Wochen nach der kurzen Behandlungsdauer von 2 Wochen gezeigt werden.
Auf die Behandlung mit dem nur mini-
mal absorbierbaren Antibiotikum spre-
chen zwar nicht alle Patienten substan-
ziell an, aber zumindest eine Unter-
gruppe. Diese Antibiotikumtherapie
könne in ausgewählten Fällen einge-
setzt werden, kommentierte der Refe-
rent. Sie eigne sich aber ohne Nachweis
einer tatsächlichen bakteriellen Über-
wucherung nicht zum breiten Einsatz.
Die NNT (number needed to treat) von
11 bis 12 sei hoch, und es handle sich
um eine «Off-label»-Behandlung (Pa-
tient muss die Medikamentenkosten
selbst übernehmen).
O
Alfred Lienhard
Quelle: Vortrag von PD Dr. Daniel Pohl: IBS – neue Konzepte zur Pathophysiologie und Therapie. Medidays 2015, 31. August 2015 in Zürich.
Referenzen: 1. Waehrens R et al.: Risk of irritable bowel syndrome in
first-degree, second-degree and third-degree relatives of affected individuals: a nationwide family study in Sweden. Gut 2015; 64: 215–221. 2. Shepherd S et al.: Dietary triggers of abdominal symptoms in patients with irritable bowel syndrome: randomized placebo-controlled evidence. Clin Gastroenterol Hepatol 2008; 6: 765–771. 3. Biesiekierski JR et al.: No effects of gluten in patients with self-reported non-celiac gluten sensitivity after dietary reduction on fermentable, poorly absorbed, short-chain carbohydrates. Gastroenterology 2013; 145: 320–328. 4. Zeitoun JD et al.: Functional digestive symptoms and quality of life in patients with Ehlers-Danlos syndromes: results of a national cohort study on 134 patients. PLoS One 2013; 8(11): e80321. 5. Pimentel M et al.: Rifaximin therapy for patients with irritable bowel syndrome without constipation. N Eng J Med 2011; 364: 22–32.
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