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UPDATE I EVIDENZBASIERTE THERAPIE
PHYSIOTHERAPIE: IRRTÜMER GESTERN – FORTSCHRITTE MORGEN
Muskuloskeletale Beschwerden verursachen die grössten Kosten im Gesundheitswesen. Die Evidenz für die Physiotherapie ist gleich gut wie fürs Operieren – doch sie ist viel kostengünstiger. Die entscheidende Frage lautet: Was kann wie physiotherapeutisch behandelt werden?
Hannu Luomajoki
Das vielerorts immer noch ungebrochen gültige Paradigma eines ausschliesslich strukturorientierten Vorgehens ist heute veraltet. Es basiert auf der über 300 Jahre alten Hypothese von René Descartes und impliziert, dass Schmerzen grundsätzlich von einer Noxe in den Strukturen ausgehen. Nach dieser These wird auch heute routinemässig vorgegangen: Wenn das Knie oder die Schulter schmerzt und gleichzeitig das MRI einen strukturellen Schaden zeigt, wird die Korrelation zur Kausalität erklärt und als Folge relativ schnell operiert. Erscheint auf den ersten Blick plausibel – ist es aber mit Blick auf die heutige Evidenz nicht. Wissenschaftliche Studien haben klar nachgewiesen: • In den bildgebenden Verfahren zeigen Patien-
ten mit Beschwerden und Gesunde ohne Beschwerden gleich häufig strukturelle Befunde. Es gibt keinen Unterschied (1, 2). • Auf der anderen Seite konnte gezeigt werden, dass Operieren in vielen Fällen nicht effektiver ist als eine funktionelle Behandlung mit Physiotherapie.
Beispiel Knie: funktionelles versus operatives Vorgehen
Bei Knieoperationen sieht die Situation der Evidenz für die operative Vorgehensweise ziemlich düster aus. Bei Patienten mit Kniearthrose, die entweder eine arthroskopische Operation plus Physiotherapie oder ausschliesslich Physiotherapie
bekamen, waren die Resultate in Bezug auf Schmerz und Funktion in beiden Behandlungsgruppen vergleichbar. Bekannt ist auch, dass eine Kniearthroskopie bei Arthrosepatienten nicht besser abschneidet als eine Plazebooperation.
Arthroserisiko vergleichbar
Ähnliches bei Kreuzbandrissen: Studien zeigen, dass Patienten, die entweder eine Operation plus Physiotherapie oder nur Physiotherapie erhalten, gleich gute Resultate erzielen. Entsprechend empfiehlt das Schweizerische Medical Board, Kreuzbandrisse primär mit Physiotherapie zu behandeln, zumal auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis massiv zuungunsten der operativen Therapie ausfällt (3). Es gibt bereits Langzeitstudien, die der Frage nachgegangen sind, ob es bei der Behandlung von Kreuzbandverletzungen hinsichtlich Arthroseentwicklung einen Unterschied gibt zwischen primär operativ und primär konservativ behandelten Patienten. Bis zu einer Nachbeobachtungszeit von 15 Jahren zeigen sich bezüglich des Arthroserisikos keinerlei Unterschiede – das gilt für funktionelle Parameter, Probleme des Alltags wie auch für morphologische Unterschiede im Röntgenbild (4). Bei Meniskusbeschwerden ist das Bild ähnlich. Auch hier zeigte eine gross angelegte Studie, dass Physiotherapie genauso effektiv war wie eine Operation. Allerdings mussten 30 Prozent der
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konservativ behandelten Gruppe innert eines Jahres operiert werden. Die Endresultate ergaben keinen Unterschied, egal, ob die Nachoperierten in die Analyse miteinbezogen wurden oder nicht. Demgemäss könnten bis zu zwei Drittel aller Meniskusoperationen «eingespart» werden. Eine neue Studie zeigte auch hier, dass eine Plazebooperation gleich gut war wie eine «richtige» Operation. Zusammengefasst lässt sich sagen: Bei Kniebeschwerden scheint Physiotherapie im statistischen Durchschnitt genauso gute Resultate zu produzieren wie ein operatives Vorgehen – welches seinerseits postoperativ eine physiotherapeutische Behandlung erfordert. Laut Studienergebnissen sind die Resultate identisch. Das renommierte «New England Journal of Medicine» stellt fest: «Diese Resultate müssen dazu bewegen, die Praxis im Umgang mit Kniebeschwerden zu ändern» (5).
Beispiel Schulter: funktionelles versus operatives Vorgehen
Schulterbeschwerden sind neben Rücken- und Kniebeschwerden die grössten Kostenverursacher im Bereich des Bewegungssystems. Die häufigste Diagnose ist das «Schulterimpingement» (siehe auch Seite 38). Die Behandlungsoptionen sind eine «operative Dekompression des Gelenks» oder eine «konservative Therapie mit Physiotherapie». Mehrere Studien belegen übereinstimmend: Das physiotherapeutische Vorgehen ist gleich effektiv
Jahresstatistik und Kostenanalyse – eine aussagekräftige Auswahl
Gesamtkosten muskuloskelettale Krank-
heiten der Schweiz pro Jahr
21 Milliarden Franken
Arztkonsultationen wegen muskulärer
Beschwerden pro Jahr
10 Millionen
Anzahl Meniskusoperationen pro Jahr
18 500
Anzahl Arthroskopien Knie
8000
Anzahl Kreuzbandoperationen
8000
Anzahl Rückenoperationen
10 000
Anzahl Operationen Weichteile an der Schulter 10 000
Kosten einer MRI-Untersuchung
zirka 900 Franken
Kosten Operation plus Spitalkosten
10 000–20 000 Franken
Kosten 1 Serie Physiotherapie (9 Behandlungen) 400–500 Franken
Gesamtkosten für alle Physiotherapien pro Jahr 700 Millionen Franken
Anteil Physiotherapiekosten an den Gesamt-
kosten des Gesundheitswesen
2%
Evidenz und Effektivität Physiotherapie
Beide Massnahmen
versus Operieren bei den untersuchten
gleich effektiv
Beschwerden (Knie, Schulter, Rücken)
Quelle: Bundesamt für Statistik
wie das operative. Je eine norwegische, dänische und finnische Studie sind genau dieser Fragestellung nachgegangen und zum gleichen Resultat gekommen: Es gibt keine Unterschiede zwischen den beiden Vorgehensweisen. Auf der Kostenseite jedoch existieren sehr grosse Unterscheide: Die Physiotherapiebehandlung erwies sich bezüglich Kosten-Nutzen-Verhältnis klar überlegen.
Beispiel Rücken: funktionelles versus operatives Vorgehen
Der Rückenschmerz ist von allen Beschwerden des Bewegungssystems der am häufigsten vorkommende und der teuerste. Die Kostenexplosion startet bereits bei der übermässigen Diagnosestellung. Mehrere Studien haben seit den Neunzigerjahren nachgewiesen, dass die Aussagekraft der röntgenologischen Untersuchungen mager ist. Beispielsweise treten Diskushernien bei Gesunden gleich häufig auf wie bei Rückenschmerzpatienten. Die europäischen Leitlinien für Rückenschmerzen raten inzwischen von röntgenologischen Untersuchungen in den ersten 3 Monaten ab, sofern keine Lähmungserscheinungen oder ein Trauma vorliegen. Obwohl operative Eingriffe an der Wirbelsäule bereits eingehend studiert wurden – bis jetzt zirka 40 randomisierte Studien –, verglichen nur wenige Studien die Operation mit einer funktionellen Physiotherapie. Die meisten Studien verglichen verschiedene Operationstechniken miteinander. Das heisst, man geht von der Annahme aus, dass eine Operation nötig ist, ohne ebendiese Annahme zu hinterfragen. Wie bereits beim Knie und bei der Schulter weist auch beim Rücken die Mehrzahl der Studien darauf hin: Ein Jahr postoperativ zeigen sich keine Unterschiede zwischen den operativ versorgten und den physiotherapeutisch behandelten Gruppen.
Konsequenzen für die Physiotherapie: heute und morgen
Die aktuelle Studienlage weist eindeutig darauf hin, dass bei vielen orthopädischen Problemen durch die sehr viel günstigere Physiotherapie gleich gute Resultate erzielt werden können wie mit Operieren (6). Ein grundsätzliches Problem der Physiotherapie – welches auch in der häufig gehörten Kritik seitens der Ärzte zum Ausdruck kommt – besteht darin, dass die Therapie sehr heterogen ist. Das stimmt. Physiotherapeuten orientieren sich häufig ebenfalls an diesem veralteten strukturdominanten Modell. Therapeuten wenden häufig eine Methode an, die auf eine bestimmte Struktur zielt,
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seien es Muskeln (z.B. Trigger-Points), Gelenke (z.B. manuelle Therapie) oder strukturelle Verletzungen (z.B. Sportphysiotherapie). Fast jährlich kommt eine neue Methode heraus, welche verspricht, alle Probleme zu beseitigen … Ich denke da an die gegenwärtigen Hypes um Faszien oder Kinesiotaping. In Zukunft braucht die Physiotherapie zwei grundlegende Faktoren: standardisierte Assessments und standardisierte Behandlungsleitlinien. In der Befundung der Patienten soll das Hauptgewicht auf die Bewegungsfunktionen im Alltag gelenkt werden. Das passiert mit evidenzbasierten Assessments in Form validierter Fragebögen oder funktioneller Tests. Die evidenzbasierte Therapie macht zudem zwei Aspekte deutlich: 1. Jede Therapie sollte die Patientenedukation ein-
schliessen. Das bedeutet: Der Patient darf und soll wissen, was das Problem ist, was er selbst machen kann und soll, wie die Prognose ist und ob etwas Gefährliches vorliegt oder nicht (meistens ja nicht). Dabei gilt es Ängste, Missverständnisse, Nozeboeffekte zu vermeiden beziehungsweise zu berichtigen, den Patienten positiv zu motivieren und seine Selbstwirksamkeit zu verbessern. 2. Aktivität und Training sind unentbehrlich. Idealerweise werden gezielte Übungen mit generel-
ler Information und Tipps zu Kraft- und Ausdauertraining kombiniert. Hier kann man sich an der «Bewegungspyramide» des Schweizer Physiotherapieverband anlehnen.
Festlegung von Standards
Knie-, Schulter- und Rückenschmerzen sind subjektiv unangenehme und objektiv meist harmlose Kostentreiber. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass in einem Grossteil der Fälle mit ambulanter Physiotherapie, das heisst ohne Operation, gleich gute Resultate erzielt werden wie mit einem chirurgischen Eingriff. In Zukunft sollte die Physiotherapie konsequent Standards für Assessments wie auch für Therapien festlegen und einhalten, damit Patienten, Ärzte und Kostenträger genauer Bescheid wissen, was in der Physiotherapie passiert und was von der Therapie erwartet werden kann.
Literatur beim Verfasser.
Kontakt: Prof. Dr. phil. Hannu Luomajoki Dipl. Physiotherapeut OMT Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Departement Gesundheit, Institut für Physiotherapie Winterthur E-Mail: luom@zhaw.ch www.zhaw.ch/gesundheit
HANNU LUOMAJOKI ist Physiotherapeut. Nach dem Master in Physiotherapie in Australien, PhD in Finnland zum Thema Rückenschmerzen. Heute als Titularprofessor der ZHAW in Winterthur, Leiter des Masterprogramms für msk-Physiotherapie. Neben Lehrtätigkeit und Forschung tätig in eigener Praxis bei Medbase Archhöfe in Winterthur.
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Der Schweizerische Verband Orthopädischer Manipulativer Physiotherapie (svomp) ist die Fachgruppe von Physiotherapeuten, die sich mittels international anerkannten Ausbildungen auf dem Gebiet der manuellen/muskuloskeletalen Physiotherapie spezialisiert haben.
W WW. S V OM P. C H Bei Schmerzen und Funktionsstörungen des Bewegungssystems bieten svomp-Therapeuten sichere, wirksame und kostengünstige Behandlungen. Nebst passiven Mobilisationen ohne/mit Impuls integrieren sie früh aktive Übungen zur Verbesserung der Beweglichkeit, Koordination, Kraft und Ausdauer.
FAC H S P E Z I AL IS T M A NU A LT HE R AP E U T S V OM P®: Grundausbildung in Manueller Therapie (Kaltenborn-Evjenth, Maitland)
FA C H S P E Z IA L IS T M A NU A LT H E R AP E UT O MT S V O MP ®: Nachdiplomstudium in Orthopädischer Manueller Therapie (OMT) auf Masterniveau
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