Transkript
FORTBILDUNG
Metaphylaxe bei Urolithiasis
Allgemeine und spezifische Massnahmen zur Vorbeugung gegen Steinrezidive
Das Harnsteinleiden ist mit einer Prävalenz von rund 5 Prozent und einer Inzidenz von etwa 1,5 Prozent den Volkskrankheiten zuzurechnen. Zwar bilden die meisten Patienten im Laufe ihres Lebens nur einen oder zwei Harnsteine. Bei 20 bis 25 Prozent der Patienten treten Harnsteine jedoch rezidivierend auf, sodass eine Sekundärprophylaxe (Metaphylaxe) erforderlich ist. Je nachdem, wie hoch das Risiko für weitere Steinbildungen ist, genügt entweder eine allgemeine Metaphylaxe, oder es sind spezifische Massnahmen erforderlich, die sich nach der Art des Steins richten.
Gunnar Wendt-Nordahl
Prinzipiell lassen sich Steinpatienten einteilen in eine grosse Gruppe mit geringem Rezidivrisiko und eine kleinere Gruppe mit hohem Rezidivrisiko. Das individuelle Risiko eines Steinrezidivs ist dabei von vielen Faktoren wie der chemischen Steinzusammensetzung oder vorhandenen metabolischen oder genetischen Störungen abhängig.
MERKSÄTZE
O Das individuelle Risiko eines Steinrezidivs ist von Faktoren wie der chemischen Steinzusammensetzung oder vorhandenen metabolischen oder genetischen Störungen abhängig.
O Wird durch die Basisuntersuchung klar, dass es sich um einen Hochrisikopatienten handelt, folgt eine erweiterte, steinartspezifische metabolische Abklärung, die sich hauptsächlich auf eine Blutuntersuchung und die Analyse von 24-h-Sammelurin stützt.
O Kernmassnahmen der allgemeinen Metaphylaxe sind eine Steigerung der Trinkmenge sowie eine ballaststoffreiche und vorwiegend vegetarische Ernährung mit wenig tierischem Eiweiss und Kochsalz.
O Die spezifische medikamentöse Prophylaxebehandlung erfolgt in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Steinart.
Zunächst sind einige Basisuntersuchungen erforderlich. Grundlage ist die Analyse der chemischen Zusammensetzung des Konkrements. Aus diesem Grund sollten alle spontan abgegangenen oder im Rahmen endoskopischer Interventionen geborgenen Steine asserviert und einer Analyse zugeführt werden. Ausserdem gehören Anamnese, Sonografie der Niere und der ableitenden Harnwege, Routinelabor mit Elektrolyten und ionisiertem beziehungsweise um die Albuminkonzentration korrigiertem Kalzium, Harnsäure und Retentionswerte sowie eine Urinanalyse mittels Teststreifen zur Basisdiagnostik. Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko erhalten keine weitere Abklärung, sondern werden der sogenannten «allgemeinen Harnsteinmetaphylaxe» zugeführt.
Erweiterte Abklärung
Wird durch die Basisuntersuchung klar, dass es sich um einen Hochrisikopatienten handelt, folgt eine erweiterte, steinartspezifische metabolische Abklärung, damit er anschliessend eine gezielte pharmakologische Metaphylaxebehandlung erhalten kann (Abbildung). Die Gruppe der Hochrisikopatienten ist in der Tabelle dargestellt. Die erweiterte metabolische Diagnostik stützt sich neben einer Blutuntersuchung im Wesentlichen auf die Analyse von 24-h-Sammelurin, um die Ausscheidung von lithogenen und protektiven Substanzen im Urin zu messen. Dabei werden standardmässig zwei konsekutive 24-h-Sammelurine ausgewertet. Die Urinsammlung sollte unter häuslichen Bedingungen bei gewohnter Ernährung und normalem Verhalten erfolgen. In Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Steinart werden der Urin-pH-Wert, die Harndichte sowie die Ausscheidung von Kalzium, Oxalat, Magnesium, Phosphat, Harnsäure, Zystin und Zitrat ermittelt.
Allgemeine Metaphylaxe
Die Empfehlungen zur allgemeinen Harnsteinmetaphylaxe sollten grundsätzlich allen Urolithiasispatienten gegeben werden. Ziel ist es, durch allgemeine Verhaltens- und Ernährungsempfehlungen die Risikofaktoren der Harnsteinentstehung günstig zu beeinflussen. Diese Empfehlungen stützen sich im Wesentlichen auf eine Steigerung der Trinkmenge mit dem Ziel, das Urinvolumen zu erhöhen und damit die Konzentration lithogener Substanzen im Urin zu senken. Die Trinkmenge sollte hierbei auf 2,5 bis 3 l pro Tag gesteigert werden, um eine Diurese von 2 bis 2,5 l pro Tag zu erreichen. Neben einer gesteigerten Flüssigkeitszufuhr wird Steinbildnern eine ausgewogene Ernährung empfohlen. Sie sollte ballaststoffreich und vorwiegend vegetarisch sein. Die Zufuhr
ARS MEDICI 21 I 2015
1023
FORTBILDUNG
Harnstein
Harnsteinanalyse Basisdiagnostik
Nein
Risiko?
Ja
Niedrigrisikogruppe
Hochrisikogruppe
erweiterte metabolische Abklärung
allgemeine Harnsteinmetaphylaxe
spezifische Harnsteinmetaphylaxe
Abbildung: Algorithmus zur Risikoeinschätzung der Harnsteinbildung
Tabelle:
Hochrisikogruppe der Harnsteinbildner
O hoch rezidivierende Steinbildung (≥ 3 Steine innerhalb von 3 Jahren)
O Kinder und Jugendliche O genetisch determinierte Steinbildung (z.B. Zystinurie, primäre
Hyperoxalurie, renal-tubuläre Azidose, Xanthinurie, 2,8-Dihydroxyadeninurie) O Hyperparathyreodismus O gastrointestinale Erkrankungen (M. Crohn, Colitis ulcerosa, Malabsorbtion, Z.n. bariatrischer Chirurgie) O Infektsteinbildung O Harnsäure- und Uratsteinbildung (Gicht) O Brushitsteinbildung O Einzelnierensituation O Residualsteine nach vorangegangener Therapie (z.B. nach ESWL) O Nephrokalzinose O bilaterale grosse Steinmasse O positive Familienanamnese
von tierischem Eiweiss und Kochsalz sollte beschränkt werden. Die früher häufig gegebene Empfehlung, die Kalziumzufuhr zu reduzieren, ist wieder verlassen worden, da mehrere Studien gezeigt haben, dass eine Kalziumrestriktion paradoxerweise sogar zu einer vermehrten Bildung von Kalziumoxalatsteinen führt. Zudem sollte ein bestehendes Übergewicht normalisiert, Stress begrenzt und auf eine regelmässige körperliche Aktivität geachtet werden.
Spezifische Metaphylaxe
Vor der Einleitung einer medikamentösen Prophylaxebehandlung steht in jedem Fall die oben beschriebene erweiterte metabolische Untersuchung, um die Therapie spezifisch auf die zugrunde liegende Pathologie zuzuschneidern. Im Folgenden werden die spezifischen Metaphylaxekonzepte in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Steinart dargestellt.
Kalziumoxalatsteine Die Kalziumoxalatsteine (CaOx-Steine) stellen mit 70 bis 80 Prozent die häufigste Steinart dar. Risikofaktoren sind ein primärer Hyperparathyreoidismus, eine primäre Hyperoxalurie, eine renal-tubuläre Azidose oder Malabsorptionssyndrome, wie sie bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder nach Darmchirurgie auftreten können. Der Einsatz von Alkalizitraten (z.B. Uralyt U®; Blemaren® Lithurex®, Blanel® [nicht im AK der Schweiz]) in einer Dosierung von 9 bis 12 g pro Tag führt zu einer positiven Beeinflussung mehrerer Urinparameter. So wird die Ausscheidung von Zitrat als Hemmer der Steinbildung erhöht, während die Kalzium- und Oxalatausscheidung erniedrigt wird. Leider führen Nebenwirkungen wie Meteorismus, Diarrhö oder gastraler Reflux in Studien zum Therapieabbruch bei bis zu jedem zweiten Patienten. Thiaziddiuretika bewirken eine gesteigerte Rückresorption von Kalzium im distalen Nierentubulus und können daher die renale Kalziumausscheidung reduzieren. Da eine Hyperurikosurie nicht nur zur Bildung von Harnsäuresteinen führt, sondern durch Kokristallisation auch die Entstehung von CaOx-Steinen fördert, stellt in diesen Fällen die Behandlung mit Allopurinol in einer Dosierung von 100 bis 300 mg einen weiteren Ansatz in der Metaphylaxe dar. Magnesium schützt ebenfalls vor CaOx-Steinen, daher empfiehlt sich bei Nachweis einer verminderten Magnesiumkonzentration im Urin die Substitution von 200 bis 400 mg Magnesium.
Kalziumphosphatsteine Kalziumphosphatsteine machen ungefähr 5 bis 10 Prozent der Harnsteine aus. Da sich Kalziumphosphatsteine häufig entweder infektassoziiert oder im Gefolge von Stoffwechselstörungen wie einem primären Hyperparathyreoidismus oder einer distalen renal-tubulären Azidose bilden, müssen diese zunächst in der Basis- und erweiterten metabolischen Untersuchung ausgeschlossen werden. Liegt ein Harnwegsinfekt vor, sollte dieser zunächst antibiotisch behandelt werden. Bei primärem Hyperparathyreoidismus ist die Operation Therapie der ersten Wahl. Sonst empfiehlt sich bei Nachweis einer Hyperkalziurie die Gabe eines Thiaziddiuretikums. Ist der Urin-pH-Wert erhöht, ohne dass ein Harnwegsinfekt vorliegt, sollte der pH-Wert durch die Gabe von L-Methionin auf Werte zwischen 5,8 und 6,2 eingestellt werden.
Harnsäuresteine Harnsäuresteine machen ungefähr 10 Prozent aller Harnsteine aus und erscheinen auf konventionellen Röntgenbildern als nicht schattengebend. Da die Löslichkeit der Harnsäure in saurem Milieu abnimmt, bilden sich die Konkremente bevorzugt bei Urin-pH-Werten < 6 und erhöhter Harnsäureausscheidung. Daher lässt sich durch eine An-
1024 ARS MEDICI 21 I 2015
FORTBILDUNG
hebung des Urin-pH-Wertes der Bildung von Harnsäuresteinen entgegenwirken. Mithilfe von Alkalizitraten wird ein pH-Wert von 6,5 bis 6,8 angestrebt. Bei begleitender Hyperurikosurie wird die Harnsäureausscheidung durch Allopurinol 100 mg gesenkt.
Struvitsteine Struvitsteine bestehen chemisch aus Magnesium-Ammonium-Phosphat und bilden die klassischen Infektsteine, die durch Infektion mit ureasebildenden Keimen verursacht werden. Da an vorhandenen Restkonkrementen, zum Beispiel nach ESWL-Behandlung, Bakterien anhaften und so zu einer Reinfektion führen können, muss in jedem Fall eine komplette Steinsanierung erfolgen. Die weitere Therapie stützt sich auf die antibiotische Behandlung des zugrunde liegenden Harnwegsinfekts.
Zystinsteine Die Zystinsteinbildung beruht auf der autosomal-rezessiv vererbten Zystinurie, bei der es zu einer erhöhten Ausscheidung der extrem schlecht löslichen Aminosäure Zystin kommt. Die hoch rezidivierende Steinbildung kann auch die Nierenfunktion beeinträchtigen. Daher kommt der Metaphylaxebehandlung eine besondere Bedeutung zu. Diese stützt sich im Wesentlichen auf Urin-Alkalisierung und Harndilution. Die empfohlene Trinkmenge pro Tag beträgt für Erwachsene > 3,5 l, um ein Urinvolumen von 3 l zu erreichen.
Weiterhin sollte eine Alkalisierungstherapie mit Alkalizitra-
ten oder Natriumbikarbonat durchgeführt werden, da die
Löslichkeit von Zystin im alkalischen Milieu stark ansteigt.
Angestrebt werden Werte > 7,5. Sind diese Massnahmen
nicht ausreichend, oder liegt eine extrem hohe Zystinaus-
scheidung von > 3 mmol/Tag vor, wird zusätzlich der Chelat-
bildner Tiopronin (␣-Mercaptopropionylglycin, nicht im AK
der Schweiz) eingesetzt. Dieser spaltet durch Reduktion die
Disulfidbrücke im Zystinmolekül und überführt es somit in
das wesentlich besser lösliche Zystein.
O
Priv.-Doz. Dr. med. Gunnar Wendt-Nordahl Urologische Klinik Sindelfingen-Böblingen D-71065 Sindelfingen
Literatur: 1. Türk C et al.: EAU guideline on urolithiasis. Uroweb 2014, http://uroweb.org/wp-
content/uploads/22-Urolithiasis_LR.pdf. 2. Leitlinien zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis des Arbeitskreises
Harnsteine der Akademie der Deutschen Urologen, http://www.awmf.org/uploads/ tx_szleitlinien/043-025l_S2k_Urolithiasis_Diagnostik_Therapie_Metaphylaxe_ 2015-03.pdf. 3. Pearle MS et al.: Medical management of kidney stones: AUA guideline. J Urol 2014; 192: 316.
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 8/2015. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Eine Anpassung an Schweizer Verhältnisse erfolgte durch die Redaktion von ARS MEDICI.