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EDITORIAL
Verordnungswillkür – das bekannte Unwesen
Die Parlamente (Legislative) in Kantonen und Bund machen die Gesetze. Das Bestreben aller Beteiligten war in den letzten Jahren, die Gesetze aus Effizienzgründen möglichst «schlank» zu halten. Die Gesetze sollten nicht ermüdend lang und unüberblickbar werden und nicht noch die letzten Details generell regeln. Vielmehr sollten Regierungen (und Richter) einen angemessenen Interpretationsspielraum behalten und die Gesetzesauslegung so den abertausenden je unterschiedlichen Fällen anpassen können. Was gut gemeint war, zeigte nach und nach seine Tücken: Je schlanker die als Grundlage für das Handeln der Regierungen (Exekutive) dienenden Gesetze gehalten waren, desto umfangreicher und willkürlicher fielen die Verordnungen aus. Die Verwaltungen, die auf Basis der (schlanken) Gesetze die fürs Regieren massgeblichen, oft sehr detaillierten Verordnungen verfassten, erhielten plötzlich ungeahnten Interpretationsspielraum, den sie in politisch und ideologisch sensiblen Fällen durchaus in ihrem Sinn nutzen. Das Perfide daran: Der Gesetzgeber (Legislative) kann an den Verordnungen nur schwer etwas ändern. Ihre Ausarbeitung fällt in die Kompetenz der Regierungen, also der Verwaltung. Politisch kann man dem Gesetz zuwiderlaufende Verordnungen ausser über ein nur in wenigen Kantonen bestehendes «Verord-
nungsveto» nur mit einer Motion angehen, juristisch allenfalls über eine «abstrakte Normenkontrolle». Beides langwierig und zeitaufwendig. In der Praxis heisst das: Regierung und Verwaltung können schlanke Gesetze willkürlich weitgehend so interpretieren und über Verordnungen umsetzen, wie es ihnen passt. Müssen nicht – aber können. Beispiel Krankenkassen: Das Volk lehnte letzten Herbst mit grossem Mehr die Einführung einer Einheitskasse ab. Zum wiederholten Mal. Wir hatten bereits damals vorhergesagt, dass die politischen Kräfte, in deren Agenda die Einheitskasse ganz oben steht – die Sozialdemokraten –, nicht lockerlassen würden. Und so droht es zu kommen. Und zwar auf dem perfiden, weil kaum zu behindernden Weg über die Verordnungen zum Krankenversicherungsaufsichtsgesetz (KVAG). Denn für diese Verordnungen ist einzig und allein das BAG zuständig. In der Verordnung soll stehen, dass die Prämien der Krankenversicherer in jedem Kanton und in jedem Jahr kostendeckend sein müssen. Dies, obschon sich die Kosten des laufenden Jahres im Voraus gar nicht exakt bestimmen lassen. Die Versicherer umgehen diese unvermeidliche Unsicherheit, indem sie ihre Reserven in die Berechnung der Prämien einfliessen lassen. Das soll künftig verboten sein. Zudem dürfen die Reserven gemäss der geplanten Verordnung künftig nicht mehr «übermässig» sein. Und was «übermässig» ist, bestimmt – selbstverständlich das BAG. Mit dieser (geplanten) Verordnung zur Prämiengenehmigung erhielte das Bundesamt, also letztlich Bundesrat Berset, ein Befürworter der Einheitskasse, die Möglichkeit, in die Unternehmensführung der Krankenkassen einzugreifen, die Marktkräfte auszuschalten und die kleineren Kassen über die Kosten infolge unsinniger und unverhältnismässiger Überregulierung auszuschalten. Der Versuch, die Einheitskassen durch die Hintertür einzuführen, ist offensichtlich. Noch ist die Sache nicht entschieden. Es gilt, zweierlei im Auge zu behalten: die von Gesetz (und Volkswillen) nicht gedeckte Verordnung im konkreten Fall KVAG und ganz generell das Willkürpotenzial bei Verordnungen.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 21 I 2015
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