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Rasche Entwicklung, wenig klare Empfehlungen
Update zur Therapie der Multiplen Sklerose
Seit der Zulassung von Natalizumab im Jahr 2006 hat in der MS-Therapie die Ära der krankheitsmodifizierenden Therapien der zweiten Generation begonnen. Diese zeigen in klinischen Studien eindrucksvolle Wirksamkeit. Allerdings ist durch die Vielzahl der Optionen im klinischen Alltag und die Möglichkeit seltener, aber schwerwiegender Komplikationen die Wahl schwierig geworden.
Die Entwicklung der therapeutischen Optionen zur Behandlung der schubförmig verlaufenden MS ist eine Erfolgsgeschichte. Im Jahr 1993 wurde mit Interferon beta-1b das erste MS-Therapeutikum zugelassen. Etwas mehr als 20 Jahre später steht eine grosse Auswahl an Small Molecules und monoklonalen Antikörpern zur Behandlung der Erkrankung zur Verfügung. «Die Ära der zweiten Generation der krankheitsmodifizierenden MS-Medikamente begann 2006 mit der Zulassung von Natalizumab. 2011 folgte mit Fingolimod die erste orale Substanz, auf die in den vergangenen beiden Jahren mit Teriflunomid und Dimethylfumarat zwei weitere orale Optionen sowie der monoklonale Antikörper Alemtuzumab folgten. Schliesslich erreichte 2014 pegyliertes Interferon beta-1a die Zulassung, der monoklonale Antikörper Ocrelizumab wird vermutlich bald folgen», sagt Prof. Hans-Peter Hartung von der Universität Düsseldorf. Mit den zahlreichen verfügbaren und wirksamen Therapien ergeben sich auch neue Zielsetzungen beziehungsweise breiter gefasste Definitionen von Wirksamkeit. Hartung: «Mit der Verfügbarkeit der ersten krankheitsmodifizierenden Therapien versuchten wir, die Schubrate zu reduzieren und die Progression der Erkrankung zu verlangsamen. Mit der zweiten Generation wurde es möglich, die Krankheitsaktivität, zumindest soweit wir sie feststellen können, bei manchen Patienten völlig zum Erliegen zu bringen. Der Begriff NEDA – No Evidence of Disease Activity – wurde eingeführt. Mittlerweile streben wir auch bereits eine Verbesserung der körperlichen Behinderung und der Lebensqualität an.» Mit dem erweiterten Armamentarium stellen sich allerdings auch Fragen nach dem Stellenwert der einzelnen Therapien beziehungsweise nach Algorithmen für deren optimalen Einsatz. Diese sollten, so Hartung, nicht nur die wissenschaftliche und die klinische Evidenz berücksichtigen, sondern auch regulatorische Besonderheiten sowie die regionale Verfügbarkeit. Hartung: «Solche Algorithmen wurden mittlerweile entwickelt. Man kann sie nicht wirklich als evidenzbasiert bezeichnen, aber es wurde versucht, die Erkenntnisse aus den grossen klinischen Studien einzuarbeiten. In individualisierte Therapieansätze fliessen unterschiedliche Parameter ein. So zum Beispiel prognostische Faktoren, Krankengeschichte, Vortherapien, Krankheitsaktivität, Risikofaktoren und die Sichtweise des Patienten.»
Antikörper ermöglichen neue Therapieziele Einen entscheidenden Durchbruch in der Therapie der schubförmig verlaufenden MS hat, so Hartung, die Einführung von Natalizumab gebracht. Durch den α4-Integrin-Inhibitor rückte erstmals Freiheit von Krankheitsaktivität als Therapieziel in Reichweite. In Studien wurde dieses Ziel von rund einem Drittel der Patienten erreicht (1). Langzeitdaten zeigen, dass unter Natalizumab die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung der Behinderung (gemessen mit dem EDSS) grösser ist als das Risiko einer Verschlechterung (2). Alles in allem überwiegen, so Hartung, bei Natalizumab die Vorteile bei Weitem die Risiken, unter diesen ist das Risiko für eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) weitaus am schwerwiegendsten. Zum Glück sei es gelungen, die Prognose der PML bei rechtzeitiger Diagnose und Therapie deutlich zu verbessern. Die Mortalität liegt jedoch, so Hartung, nach wie vor bei rund 20 Prozent. Im Sinne einer Früherkennung von PML solle, wie Hartung betont, bei Patienten unter Natalizumab jedes neu auftretende neurologische Symptom als Alarmzeichen gewertet werden. Mit mittlerweile mehr als 400 000 Patientenjahren unter Therapie mit Natalizumab wurden bislang rund 500 Fälle von PML registriert. Nach aktuellen Zahlen besteht unter Behandlung mit Natalizumab ein PML-Risiko von 4:1000. Dieses Risiko ist nach aktueller Erkenntnis praktisch nur bei Patienten mit einem positiven Antikörpertiter gegen das JC-Virus (humanes Polyomavirus 2) relevant. Bei JCVAK-positiven Patienten steigt das PML-Risiko mit der Dauer der Behandlung mit Natalizumab, einem allfälligen Gebrauch von Immunsuppressiva und bei nicht immunsuppressiv vorbehandelten Patienten mit der Höhe des Titers von Antikörpern gegen JCV.
Hochwirksame orale Optionen in der MS-Therapie Eine orale Option in der MS-Therapie stellt Dimethylfumarat dar, ein Diester der Fumarsäure mit dem Alkohol Methanol. Dimethylfumarat wirkt immunmodulatorisch und vermutlich auch antioxidativ, wobei der Wirkmechanismus noch nicht endgültig geklärt ist. Die Wirksamkeit bei schubförmig verlaufender MS wurde in zwei Phase-III-Studien (DEFINE, CONFIRM) nachgewiesen. Die integrierte Analyse der beiden Studien zeigte eine Reduktion der jährlichen Schubrate um rund 50 Prozent (3). Alles in allem sei die Substanz sicher. Bei den meisten Patienten kommt es zu einem Abfall der Lymphozyten, deren Zahl jedoch bei der überwiegenden Mehrzahl der
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Patienten im normalen Bereich bleibt. Allerdings wurden auch unter Dimethylfumarat einzelne Fälle von PML beobachtet. Das Risiko sei jedoch, so Hartung, nicht mit demjenigen von Natalizumab vergleichbar. Eine weitere Substanz zur oralen MS-Therapie ist Teriflunomid, das die Neusynthese von Pyrimidin in den Mitochondrien hemmt. Da diese für sich schnell teilende Zellen wie die Lymphozyten bedeutsam ist, wird die Anzahl aktivierter B- und TLymphozyten im zentralen Nervensystem reduziert. Dabei kommt es zu keiner Depletion von Lymphozyten, da ruhende Zellen kein Ziel der Therapie sind. Mit Teriflunomid wird eine Senkung der Schubrate um rund 30 Prozent sowie eine signifikante Reduktion der Krankheitsprogression erreicht (4). Die sehr lange Halbwertszeit muss in Überlegungen zur Sicherheit mit einbezogen werden. Fingolimod war das erste orale Medikament, das zur Therapie der MS zugelassen wurde. Es wirkt als Sphingosin-1-Phosphat-Analogon und bindet an den Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor, der daraufhin von der Oberfläche von Lymphozyten verschwindet. Damit können T-Lymphozyten nicht mehr die Signale empfangen, die ihre Migration auslösen, und sie bleiben in den Lymphknoten zurück. In den Studien TRANSFORMS (5), FREEDOMS (6) und FREEDOMS II (7) wurden für Fingolimod signifikante Reduktionen der in der Bildgebung feststellbaren Läsionen, der Schubhäufigkeit (ca. 50%), der Krankheitsprogression und des Gehirnvolumenverlustes nachgewiesen – und zwar sowohl im Vergleich zu Plazebo als auch im direkten Vergleich zu Interferon beta-1a. Durch die Einführung des Brain Volume Loss als Endpunkt wurde auch die Definition von NEDA-4 geschaffen, was fehlende Krankheits-
«Ich meine, dass wir nicht die dia-
gnostischen Mittel haben, um sicher sagen zu können, ob die Krankheit aktiv ist oder nicht. Das ist für mich das beste Argument für einen ag-
gressiven Einstieg in die Therapie.»
aktivität inklusive fehlenden Verlustes an Gehirnvolumen bedeutet. Hartung: «Mit Fingolimod war die Chance, über zwei Jahre NEDA-4 zu erreichen, viermal höher als mit Plazebo.» Das Sicherheitsprofil ist günstig, allerdings sind auch unter Therapie mit Fingolimod Einzelfälle von PML aufgetreten. Das erst kürzlich in der MS-Therapie zugelassene Alemtuzumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper gegen das Glykoprotein CD52 auf der Zelloberfläche von B- und T-Lymphozyten. Untersucht wurde Alemtuzumab in den CAREMS-Studien im Vergleich zu subkutanem Interferon beta-1a, einmal bei unvorbehandelten (8), das andere Mal bei vorbehandelten (9) Patienten. Beide Studien zeigten die signifikante und deutliche Überlegenheit des Biologikums in Bezug auf die Schubrate, in der zweiten Studie (9) auch hinsichtlich der Behinderung. «Alemtuzumab ist eine sehr potente Erweiterung unseres therapeutischen Repertoires», betont Hartung. Es werde aber in seiner Indikation durch das vermehrte Auftreten von Infekten in den ersten Monaten nach der Verabreichung und durch die bis zu mehrere Jahre danach er-
höhte Inzidenz von sekundären Autoimmunkrankheiten eingeschränkt.
Welchen Stellenwert haben die Therapien der ersten Generation? Angesichts der Erfolge, die mit den krankheitsmodifizierenden Therapien der zweiten Generation erreicht werden, stellt sich zwangsläufig die Frage, welchen Stellenwert die klassischen Injectables, also Interferone und Glatirameracetat, heute noch haben. Dazu Prof. Ludwig Kappos, Chefarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Universitätsspital Basel: «Wenn wir in der MS-Therapie therapeutische Entscheidungen treffen, beruhen diese nicht nur auf den klinischen Studien, sondern auch auf klinischer Erfahrung. Und dazu muss man sagen, dass wir mit den älteren Substanzen mehr Erfahrung haben – sowohl hinsichtlich der Patientenzahlen als auch der Behandlungsdauer. Mittlerweile werden manche Patienten ja bereits seit 20 Jahren mit Interferonen behandelt.» Auch seien Vergleiche zwischen alten und neuen Therapien anhand der verfügbaren Evidenz nicht ganz einfach anzustellen, da sich die klinischen Studien nicht nur hinsichtlich der Wirksamkeit in den Verumgruppen unterschieden, sondern auch in Bezug auf die Ausgangswerte sowie das Ansprechen auf Plazebo. Auch die veränderten diagnostischen Möglichkeiten und Diagnosekriterien beeinflussten die Ergebnisse der Studien. Das könne durchaus auch den Eindruck einer verbesserten Prognose der MS erzeugen, der dann als Effekt der Therapie fehlinterpretiert werde. So zeigen auch neuere Interferon-Studien eine bessere Wirksamkeit als das in den älteren Untersuchungen beobachtet wurde. Um unterschiedliche Studien zu vergleichen, könne man entweder die Number Needed to Treat (NNT) in Bezug auf ein ausgewähltes Ereignis oder die Hazard Ratio heranziehen. Beides hat Nachteile. So führt ein hohes absolutes Risiko für das Eintreten eines Ereignisses leicht zu einer niedrigen NNT. Ist das absolute Risiko gering, bleibt die NNT auch bei einer wirksamen Intervention relativ hoch. Mit anderen Worten: In Hochrisikopopulationen wird relativ leicht eine niedrige NNT erreicht. Für die Hazard Ratio verhält sich das genau umgekehrt: Je weniger Ereignisse eintreten, desto leichter ist es, eine deutliche relative Risikoreduktion zu zeigen. Insofern sei es auch schwierig, die NNT aus älteren und neueren Studien zu vergleichen, zumal in den älteren Arbeiten tendenziell Populationen mit höherem Risiko untersucht würden. So lassen sich zuverlässige Aussagen letztlich vor allem aus den relativ wenigen direkten Vergleichsstudien ableiten. Kappos weist darauf hin, dass in diesen Studien zwar die Therapien der zweiten Generation überlegen waren, dass die Ergebnisse jedoch teilweise einen kritischen Blick verdienen. So war die CARE-MS-I-Studie nicht voll verblindet. Kappos: «Alemtuzumab war in dieser Studie zweifellos Interferon beta-1a überlegen, allerdings war es schwer, das Ausmass der Überlegenheit bei nicht voll verblindeter Studie zuverlässig zu quantifizieren, was in Verbindung mit dem erhöhten Risiko auch zu Diskussionen mit den Zulassungsbehörden führte.» Ein direkter Vergleich zwischen Interferon beta-1a und Teriflunomid wurde in der TENERE-Studie mit dem Endpunkt «Zeit bis zum Therapieversagen» durchgeführt. Dabei lagen die beiden Therapien gleichauf. Auch hinsichtlich der annualisierten Schubraten unterschieden sich die beiden Gruppen nicht signifikant. Allerdings zeigte die Studie in der Interferon-Gruppe eine höhere Abbruchrate wegen Nebenwirkungen (10).
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Klassische Injectables sind erste Wahl beim CIS Eine Domäne der Injectables der ersten Generation bleibt das klinisch isolierte Syndrom (CIS) – dies nicht zuletzt aus regulatorischen Gründen. Sowohl die Interferone als auch Glatirameracetat wurden für diese Indikation in mehreren Studien untersucht. Auch in diesen Studien unterschieden sich die Populationen hinsichtlich ihres Risikos. So wurden beispielsweise in die BENEFIT-Studie (mit Interferon beta-1b) auch Patienten mit multifokalen Läsionen und daher höherem Risiko eingeschlossen, während etwa in der CHAMPS-Studie (mit Interferon beta-1a i.m.) eine Population mit monofokalem CIS untersucht wurde. In allen Studien konnte durch die Therapie eine signifikante Reduktion des Risikos einer Progression zur MS nachgewiesen werden. Die BENEFIT-Studie verglich zudem auch zwischen sofortiger und verzögerter Intervention, da Plazebopatienten nach spätestens zwei Jahren eine aktive Therapie erhielten und in der Folge weiter beobachtet wurden. Dabei erwies sich der sofortige Beginn der Therapie als langfristig günstiger (11). Auch in der Auswertung der 5-JahresDaten (12) sowie in späteren Auswertungen nach 8 und 11 Jahren blieb der Vorteil der beim Auftreten der ersten Symptome behandelten Patienten erhalten.
Auf der Suche nach dem besten Therapiealgorithmus In der Praxis gelte es, Wirksamkeit und Risiken der verschiedenen Therapien sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Obwohl es auf Basis der heute verfügbaren Daten nicht möglich sei, einen exakten, evidenzbasierten Therapiealgorithmus zu definieren, gebe es eine Reihe von Empfehlungen, die sich auf Eskalation der Therapie stützten. Kappos bringt neben der Strategie der Eskalation auch jene der Induktion ins Spiel, von der besonders Patienten mit aggressivem Krankheitsverlauf profitieren dürften. Induktion bedeutet, dass die Behandlung mit starker Immunsuppression begonnen und bei Erreichen einer geringen Krankheitsaktivität mit einer reduzierten Erhaltungstherapie fortgesetzt wird. Kappos: «Die Rationale für eine frühe aggressive Therapie liegt in der Ver-
meidung von Schäden an Axonen und Neuronen, was auch den Weg für eine Reparatur reversibler Schäden ebnen könnte. Die BENEFIT-Studie hat gezeigt, dass ein einmal entstandener Nachteil nicht mehr aufgeholt wird. Es dürfte hier also ein Window of Opportunity geben. Wenn ein Patient einmal in das progrediente Stadium der Erkrankung eingetreten ist, könnte es zu spät sein, um überhaupt noch Therapieerfolge zu erreichen.» Für die Induktionstherapie steht heute Alemtuzumab, vielleicht in 2 bis 3 Jahren auch Ocrelizumab zur Verfügung. Offen ist die Frage, ob nach der Induktionsphase eine Strategie des Wait and See verfolgt oder eine Erhaltungstherapie gegeben werden soll. Kappos: «Ich meine, dass wir nicht die diagnostischen Mittel haben, um sicher sagen zu können, ob die Krankheit aktiv ist oder nicht. Das ist für mich das beste Argument für einen aggressiven Einstieg in die Therapie.» Allerdings fehlen Langzeitdaten zur Langzeitwirksamkeit der Induktionstherapie. Auch sind die Patientengruppen, die sich besonders für ein solches Vorgehen eignen, noch nicht exakt definiert. Aus diesem Grund wird nach wie vor mehrheitlich eine Strategie der Eskalation empfohlen, die mit etablierten, sicheren und wirksamen Therapien beginnt. Allerdings gehe man, so Hartung, dazu über, bei der schubförmig verlaufenden MS mit hoher Krankheitsaktivität Natalizumab, Fingolimod und Alemtuzumab als Optionen der ersten Wahl zu betrachten. Ist die Krankheit weniger aktiv, werden Dimethylfumarat, Glatirameracetat, die Interferone oder Teriflunomid empfohlen. Diesem Schema folgt beispielsweise die von DGN und KKNMS erstellte deutsche Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS (13). Nicht geklärt sind auch Fragen des Therapiemonitorings, ob ein Therapieversagen anhand der Schubrate, des Fortschreitens der Behinderung oder aus der Bildgebung diagnostiziert werden soll. Kommt es zum Therapieversagen, stellt sich die Frage, ob ein Switch innerhalb der gleichen Gruppe von Medikamenten empfehlenswert oder ob eine Umstellung der Therapie auf ein Therapeutikum der zweiten Generation vorzuziehen ist. Für beide Strategien gibt es Argumente. So wurde in CARE-MS-II-Studien zwischen Alemtuzumab und In-
Stufentherapie der Multiplen Sklerose gemäss Leitlinie der DGN und des KKNMS (13), online unter http://www.kompetenznetz-multiplesklerose.de/images/stories/PDF_Dateien/Leitlinie/dgn-kknms_ms-ll_20140813.pdf
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terferon beta-1a bei vorbehandelten Patienten verglichen, was einem Vergleich zwischen Switch und Eskalation entspricht, bei dem die Eskalation besser abschnitt. Für die praktische Entscheidungsfindung verweisen Hartung und Kappos auf mehrere publizierte und gewissermassen «eminenzbasierte» Algorithmen, so zum Beispiel auf jenen von Hauser (14), Sorensen (15) und der Multiple Sclerosis Therapy Consensus Group (16) sowie auf eine kanadische Empfehlung, die nach Versagen der Erstlinientherapie (Interferon oder Glatirameracetat) eine Einteilung nach Levels of Concern, also nach Risikogruppen, trifft und entsprechend ein unterschiedlich aggressives Vorgehen vorschlägt. Während bei geringem Risiko ein Switch innerhalb der gleichen Gruppe empfohlen wird, soll bei höherem Risiko eine Eskalation durchgeführt werden. Diese Eskalation kann im Sinne einer Induktionstherapie auch von einer Deeskalation gefolgt werden (17). Kappos: «Was wir benötigen, ist eine individualisierte Risikoabschätzung von der Diagnose an. Und wir müssen uns bewusst sein, dass die Evidenz zur Wahl der Therapie begrenzt ist, weil es nur wenige Head-to-head-Studien gibt.»
Neue Einsichten in die Genese der MS Ein besseres Verständnis der Genese der Multiplen Sklerose könnte auch der Schlüssel zu besseren Therapien sein. Diese ist nach heutigem Wissensstand multifaktoriell. Umwelt, genetische Disposition und immunologische Faktoren dürften in der Entstehung der Erkrankung zusammenspielen. «Häufig wird behauptet, dass wir nicht verstehen, wie Multiple Sklerose entsteht. Ich denke nicht, dass man das so sagen kann, es sind nur eben viele Faktoren, die zur Pathogenese beitragen. Man nimmt an, dass bei Personen, die aus genetischen Gründen eine niedrige Schwelle für pathologische Immunantworten aufweisen, die Krankheit durch bestimmte Umweltfaktoren ausgelöst werden kann», sagt Prof. Finn Sellebjerg, ärztlicher Leiter am Dänischen MS-Zentrum in Kopenhagen. Geforscht wird in viele Richtungen. Nach auslösenden Umweltfaktoren wird ebenso gefahndet wie nach verantwortlichen Genmutationen. In der Immunologie wird die Rolle sowohl von T- als auch von B-Lymphozyten und Non-Coding-RNA untersucht. In der Genetik der MS haben die Genome Wide Association Studies (GWAS) mit ihrem hypothesenfreien Ansatz völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Eine genetische Komponente
Take Home Messages
• Die Genese der MS ist nach heutigem Wissensstand multifaktoriell, wobei genetische Disposition, Umwelt und immunologische Faktoren zusammenspielen.
• Mehr als 20 Jahre nach der Einführung von Interferon beta-1b als erstes MS-Therapeutikum steht eine grosse Auswahl an Medikamenten mit nachgewiesener Effektivität zur Verfügung.
• Klassische Therapieziele bei MS sind die Reduktion der Schubrate und die Verlangsamung der Krankheitsprogression. Seit der Verfügbarkeit von Medikamenten der zweiten Generation wurde auch NEDA (No Evidence of Disease Activity) als Therapieziel eingeführt.
• Vergleiche zwischen alten und neuen Therapien sind wegen unterschiedlicher Ausgangswerte und veränderter diagnostischer Möglichkeiten anhand klinischer Studien nur begrenzt möglich. Direkte Vergleichsstudien gibt es nur wenige.
• Die Rationale für eine frühe aggressive Therapie liegt in der Vermeidung von neuronalen Schäden.
gilt heute als gesichert. Eine bahnbrechende Studie zur Genetik der MS wurde mit einer Kohorte von knapp 10 000 Patienten durchgeführt, 2011 prominent publiziert und fand eine grosse Zahl von Loci, an denen Mutationen mit einem erhöhten MS-Risiko assoziiert sind. Allerdings waren, wie so oft in den Resultaten von GWAS, die Assoziationen signifikant, aber schwach (18). «Alle diese Mutationen sind weitverbreitete Varianten, die jede für sich genommen sehr wenig zum MS-Risiko beiträgt», sagt Sellebjerg. Die Entwicklungen der technischen Möglichkeiten erlaubten schliesslich einen weiteren Schritt. Mit dem ImmunoChip wurde es möglich, in einer grösseren Population kostengünstig nach für Autoimmunität relevanten Mutationen zu suchen und obendrein Fine Mapping der identifizierten Loci zu betreiben (19). Gegenwärtig wird eine grosse Studie samt Metaanalyse durchgeführt, die in einem Kollektiv von mehr als 50 000 Patienten nach «MS-Genen» suchen soll. Sellebjerg: «Wir kennen nun ungefähr 150 genetische Varianten ausserhalb des humanen LeukozytenantigenSystems sowie rund 10 HLA-Varianten, die mit erhöhtem MS-Risiko assoziiert sind.» In weiteren Studien soll auch die Rolle bestimmter genetischer Varianten als Biomarker für MSPhänotyp, Prognose und Therapieansprechen untersucht werden. Auch die Suche nach Lifestylefaktoren geht weiter. Sellebjerg: «Wir wissen, dass Rauchen ein Risikofaktor ist, ebenso wie EBV-Infektion, Übergewicht und Vitamin-D-Mangel. Ergebnisse aus dem Tiermodell legen auch eine Rolle erhöhter Natriumaufnahme sowie der Darmbakterien nahe. Die Rolle des Mikrobioms wird gegenwärtig in mehreren Studien auch am Menschen untersucht.» Ebenfalls in den Fokus der MS-Forscher geraten ist in den vergangenen Jahren der B-Lymphozyt (20). Sellebjerg. «Wir haben Therapien, die sich gegen die B-Zelle richten. Der Einsatz solcher Therapien bei MS hat zu wichtigen Erkenntnissen über die Krankheit geführt.» So konnte für die Antikörper Rituximab und Ocrelizumab eine Wirksamkeit in der Behandlung der MS gezeigt werden. Allerdings sind die Hintergründe nicht ganz klar. Zwar konnten Autoantikörper gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) gefunden werden, doch treten diese nur bei einem kleinen Teil der MS-Population auf. Autoantikörper gegen den Kaliumkanal KIR 4.1 sind eine weitere Spur, welche die Rolle der B-Zelle bei MS erklären könnte. Sellebjerg betont auch die Fähigkeit der B-Zellen, T-Lymphozyten zu aktivieren. Auch das kann durch Rituximab ebenso beeinflusst werden wie die Produktion proinflammatorischer Zytokine (21). Abseits dieser hauptsächlichen Stossrichtungen der Forschung wurden in den vergangenen Jahren auch extravagante Theorien zur Pathophysiologie der MS publiziert. So vertritt beispielsweise eine kanadische Gruppe die Ansicht, MS sei primär eine neurodegenerative Erkrankung, in deren Verlauf es dann zur Aktivierung des Immunsystems komme (22). Sellebjerg bezeichnet die Theorie als «interessant», unterstreicht jedoch die gesicherte Bedeutung der Entzündung für die Progression der MS: «Ohne Inflammation gibt es keinen Schaden am Axon. Das beweist natürlich nicht, dass die Entzündung diesen Schaden bewirkt, aber es zeigt die deutliche Assoziation von Inflammation und neuronaler Schädigung.»
Reno Barth
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Quelle: Symposium 7 «Multiple sclerosis therapy moving forward/ where is the truth? Hopes and hazards» am EAN-Kongress, 23. Juni 2015 in Berlin.
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