Transkript
KONGRESS
Neue Entwicklungen in der MS-Forschung: T-Lymphozyten Toleranz lehren
Aktuelle Themen aus der Multiple-Sklerose-(MS-)Forschung nahmen auf dem 1. Europäischen Neurologenkongress in Berlin einen wichtigen Stellenwert ein. Mit besonderer Spannung wurden neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Immunmodifikation erwartet.
« D er erste Kongress der European Academy of Neurology in Berlin ist eine hervorragende Gelegenheit für MS-Spezialisten aus aller Welt, sich über aktuelle Anliegen und Ergebnisse der intensiven Forschung in unserem Fachgebiet auszutauschen», sagte Prof. Xavier Montalban, Krankenhaus Vall d’Hebron Barcelona, Präsident des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), im Rahmen des 1. EAN-Kongresses. Er wies zudem darauf hin, dass die vielen hochkarätigen wissenschaftlichen Sitzungen und Präsentationen auch ein Beleg für die erstaunlichen Fortschritte seien, die derzeit in der MS-Forschung stattfänden. Zu den wichtigen aktuellen Entwicklungen gehören die ständige Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten, die Bemühungen um eine massgeschneiderte, individualisierte Behandlung und neue Entwicklungen auf dem Gebiet der antigenspezifischen Immunisierung. Auch an der Highlights-Sitzung, an der die wichtigsten am EAN-Kongress 2015 präsentierten Studien zusammengefasst werden, spielte die MS eine wichtige Rolle. Prof. Dr. Andrew Chan, leitender Oberarzt am Katholischen Klinikum Bochum, präsentierte die wichtigsten MS-Abstracts.
Transdermale Applikation von Antigenen Prof. Chan unterstrich die Bedeutung einer Studie, die ein polnisches Forscherteam aus Lodz durchgeführt hat. Dieses untersuchte die Wirksamkeit transdermal applizierter spezifischer Myelinpeptide bei Patienten mit schubförmigremittierender MS. Die im Rahmen des EAN-Kongresses präsentierte Phase-I-Doppelblindstudie mit 30 Patienten zeigte eine deutliche Reduktion der Krankheitsaktivität durch diese neue Form der Immuntherapie, die eine «Reprogrammierung» von T-Zellen ermöglichen soll (1). Chan bezeichnet die transdermale Applikation von Antigenen mittels Pflaster als «völlig neuen Weg», dessen weitere Entwicklung nun mit
grosser Spannung erwartet werde. Die Studienpatienten zeigten sowohl eine dramatische Reduktion von 66,5 Prozent neuer gadoliniumanreichernder Läsionen als auch Verbesserungen anderer klinischer Endpunkte wie der jährlichen Schubrate. Als Mechanismus wird angenommen, dass die transdermal applizierten Peptide von dendritischen Zellen aufgenommen und in die Lymphknoten transportiert werden, wo es dann zum Kontakt mit T-Lymphozyten kommt. Auch Prof. Montalban bezeichnete die Studie als «beeindruckend» und hob hervor, dass hier der Weg geebnet wurde «zu neuen Verabreichungsformen von Peptiden – immer auf der Basis eines Immunisierungskonzeptes». Die Arbeit wurde mittlerweile prominent publiziert (2).
Langzeitprognose noch immer nicht optimal Ebenfalls einen hohen Stellenwert schreibt Chan zwei italienischen Studien zu, die sich mit der Langzeitprognose der Multiplen Sklerose unter klinischen Alltagsbedingungen und Standardtherapien auseinandersetzten. In einer der beiden Arbeiten wurde der Frage nachgegangen, welcher Anteil einer kleinen Kohorte von Patienten mit schubförmig verlaufender MS über zehn Jahre den Endpunkt NEDA (No Evidence of Disease Activity) erreicht (3), bis anhin gemessen anhand der drei Schlüsselparameter Schubfreiheit, MRT-(Magnetresonanztomografie-)Aktivität und Behinderungsprogression (NEDA-3). Leider traf das lediglich auf 8,8 Prozent der Patienten zu. Wurde der neue Endpunkt NEDA-4 gewählt, der zusätzlich einen im MR festgestellten Verlust von Gehirnvolumen einbezieht – ein Prädiktor für eine langfristige Krankheitsprogression –, so war das Ergebnis mit 5,5 Prozent noch schlechter. In der zweiten Arbeit wurde die prognostische Bedeutung von kognitiver Beeinträchtigung bei MS über zehn Jahre untersucht. Die Studie ergab, dass Patienten, die bei Diagnosestellung Anzeichen einer kognitiven Beeinträchtigung zeigten, sowohl ein dreimal höheres Risiko für
einen ungünstigen motorischen Outcome (definiert als EDSS4) aufwiesen als auch für eine Konversion zur sekundär progredienten MS (4).
Rolle der Astrozyten Neue Daten gibt es auch zur Rolle des von Astrozyten exprimierten Kaliumkanals Kir4.1. Autoantikörper gegen den Kaliumkanal KIR4.1 werden als Mechanismus diskutiert, über den die Betazelle in die Pathophysiologie der MS eingreifen könnte. Eine französische Gruppe fand Antikörper gegen Kir4.1 bei einem relativ hohen Prozentsatz von Patienten mit Neuromyelitis optica, jedoch bei keinem einzigen Probanden der Kontrollgruppe (5). «Wir haben bis anhin noch keine überzeugende Evidenz dafür, dass bei der Multiplen Sklerose ein spezielles Antigen oder eine Gruppe von Antigenen dominant für die Immunantwort verantwortlich ist. Aber eine stärker antigenbestimmte Erkrankung wie die Neuromyelitis scheint sich als ein sehr vielversprechendes Modell für dieses Therapiekonzept zu erweisen», kommentierte Montalban diese Daten.
REFINE-Studie Unter den klinischen Studien hebt Chan die praktische Bedeutung der REFINE-Studie hervor, die die Wirksamkeit und die Sicherheit von Natalizumab in unterschiedlichen Dosierungen verglich (6). Die Auswertung ergab, dass bei Unterschreiten der empfohlenen Dosis von 300 mg oder bei einer Verlängerung des Dosisintervalls die Wirksamkeit verloren geht. Hingegen erwies sich der Antikörper bei intravenöser und subkutaner Applikation als gleichermassen effektiv.
Neue Perspektiven in der Neuroprotektion Ein wichtiges Ziel der MS-Therapie ist die Neuroprotektion. Auf diesem Gebiet gibt es erste Erfolgsmeldungen für einen Einsatz mit dem Antikonvulsivum Phenytoin, dessen Wirkmechanismus vermutlich auf einer Hemmung von Natriumkanälen und der daraus folgenden Stabilisierung des Membranpotenzials beruht. Phenytoin wurde in einer Phase-II-Studie an Patienten mit akuter Optikusneuritis untersucht (7). Es zeigte sich eine protektive Wirkung sowohl auf die Makula als auch auf das Stratum nervosum retinae, das nach sechs Monaten in der Verumgruppe signifikant dicker war als bei Patienten in der Plazebogruppe. Die Autoren geben den protektiven Effekt mit 30 Prozent an.
4/2015
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
31
KONGRESS
Forscher vermuten, dass Phenytoin indirekt den Kalzium-Overload an Neuronen und Axonen reduziert und damit die Neurotoxizität begrenzt. Neuroprotektiv scheint auch das Vitamin Biotin zu wirken, das in hoher Dosis bei Patienten mit primär oder sekundär progredienter MS untersucht wurde (8). Die Ergebnisse waren ermutigend. «Aus der Intention-to-TreatPopulation erreichten 12 Prozent der Verumund 0 Prozent der Plazebopatienten den primären Endpunkt, nämlich eine Verbesserung ihrer Behinderung nach neun und zwölf Monaten», sagt Chan. ECTRIMS-Präsident Montalban kommentierte diese Ergebnisse im Rahmen der Pressekonferenz mit den Worten: «Eine Studie mit hoch dosiertem Biotin und eine andere mit Phenytoin zeigen ausreichend Hinweise für eine mögliche neuroprotektive Wirkung dieser Substanzen, sodass dem in weiteren Studien nachgegangen werden sollte.» Die Rationale für den Einsatz von Biotin liegt in dessen Bedeutung als Coenzym im Rahmen der Myelinsynthese und möglicherweise auch des Energiestoffwechsels.
Regeneration von Myelin Der ultimative Traum der MS-Forscher ist jedoch die Regeneration von Myelin. Leider gebe es, so Chan, gegenwärtig keine medikamentösen Therapien, mit denen dieses Ziel erreicht werden könne. Allerdings zeigt eine im Rahmen des EAN-Kongresses vorgestellte Studie, dass sich Remyelinisierung bei einem Teil der MS-Patienten unter Therapie sozusagen als Nebeneffekt ereignet hat. Die Forscher setzen während einer Positronen-Emissions-Tomografie (PET) das Kontrastmittel [11C]-PIB ein, um den Myelingehalt des Gehirns zu quantifizieren. Die Studie ergab, dass es im Beobachtungszeitraum von vier Monaten bei rund der Hälfte der untersuchten Patienten zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Remyelinisierung kam und dass diese mit einem günstigen Krankheitsverlauf assoziiert war. Chan betont in diesem Zusammenhang vor allem den Wert der PET mit [11C]-PIB als Methode zur Quantifizierung der Myelinschädigung (9).
Rehabilitation wirkt Aktuelle Arbeiten beschäftigten sich auch mit Fragen der Schadensbegrenzung im Sinne einer Rehabilitation bei fortgeschrittener beziehungsweise primär progredienter Erkrankung. Chan verwies auf eine spanische Arbeit, die mittels Computeranalyse spezifische Gangmus-
ter bei Patienten mit primär progredienter MS identifizierte. Die Analyse ergab, dass es im Gangmuster individuelle Versuche gegeben hatte, die jeweilige Schädigung des Gehirns zu kompensieren (10). Das ist klinisch insofern vielversprechend, da sich daraus auch individuelle Strategien bei der Rehabilitation ergeben könnten. Daran knüpft eine italienische Arbeit an, die die Wirksamkeit eines computergestützten Trainingsprogramms zur kognitiven Rehabilitation untersuchte. Die Arbeit zeigte nicht nur kognitive Verbesserungen durch das Programm, sondern auch deren Korrelation mit entsprechenden Veränderungen im f-MRI im Sinne verstärkter Aktivität im linken Frontallappen (11).
Wirksamkeit von Alemtuzumab ECTRIMS-Präsident Montalban hob auch die Bedeutung einer Extension der Studie CAREMS-II hervor, in der die Wirksamkeit von Alemtuzumab bei mit Interferon vorbehandelten Patienten untersucht wurde. Alemtuzumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper gegen das Glykoprotein CD52 auf der Zelloberfläche von B- und T-Lymphozyten. Dieser wurde in der CARE-MS-II-Studie mit subkutanem Interferon beta-1a verglichen und hat sich dabei als signifikant überlegen erwiesen (12). Nach dem Ende der Studie wurde im Rahmen einer Extension den Patienten aus der Interferongruppe ebenfalls die Behandlung mit dem Antikörper angeboten. Die Ergebnisse der Extension zeigten, dass auch nach einer zweijährigen Interferontherapie durch den Switch auf Alemtuzumab Verbesserungen in der Bildgebung erreicht werden konnten. So nahm die Zahl gadoliniumanreichernder Läsionen unter der Biologikatherapie ab, und Patienten, deren MS nach zwei Jahren Therapie mit Interferon aktiv war, wurden in zwei Jahren Therapie mit Alemtuzumab zu 68,2 Prozent frei von Krankheitsaktivität (13)
MS-«Revolution» unter Schweizer Mitwirkung Zu den spannendsten Entwicklungen in der MS-Forschung zählt für Montalban nicht zuletzt der Versuch, durch an autologe Blutzellen gekoppelte Myelinpeptide spezifische Immuntoleranz zu erzeugen. Eine erste Phase-I-Studie zu dieser Methode wurde kürzlich abgeschlossen (14). Im Rahmen eines Focused Workshop berichtete Prof. Roland Martin von der Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich, der einer
der Studienautoren ist, von den Ergebnissen
(15). In ETIMS (Etablierte Toleranz bei MS) wur-
den sieben Patienten mit schubförmig remit-
tierender MS und zwei Patienten mit sekundär
progredienter MS immunodominante Myelin-
peptide infundiert, die chemisch an mononu-
kleäre Zellen gekoppelt waren. Die Infusionen
waren nicht nur gut verträglich, mit höheren
Dosierungen wurde auch eine Abnahme der
antigenspezifischen T-Zell-Antwort bei MS-Pa-
tienten erreicht. Gegenwärtig wird laut Martin
das pharmazeutische Präparat weiter überar-
beitet. Eine multizentrische Phase-IIa-Studie ist
in Vorbereitung.
G
Reno Barth ist Journalist
und schreibt für Rosenfluh Publikationen.
Referenzen:
1. Selmaj K: MS-treatment with myelin skin patches. Focused workshop 1–3.
2. Walczak A et al.: Transdermal Application of Myelin Peptides in Multiple Sclerosis Treatment. JAMA Neurol. 2013; 70(9): 1105–1109.
3. De Stefano N et al.: Long-term assessment of No Evidence of Disease Activity (NEDA) in patients with relapsingremitting multiple sclerosis. Abstract O1109.
4. Moccia M et al.: Cognitive impairment predicts disability and progression in newly-diagnosed relapsing-remitting multiple sclerosis. Abstract O2222.
5. Ruiz A et al.: Potassium channel Kir4.1: a novel target for neuromyelitis optica autoantibodies? Abstract P3155.
6. Trojano M et al.: A randomized, blinded, parallel-group phase-2 study exploring the efficacy, safety, and tolerability of multiple natalizumab dosing regimens in patients with relapsing multiple sclerosis (REFINE). Abstract O1217.
7. Raftopoulos R et al.: Neuroprotection with phenytoin in acute optic neuritis: results of a phase II randomised controlled trial. Abstract O1214.
8. Tourbah A et al.: Effect of MD1003 (high doses of Biotin) in progressive multiple sclerosis: results of a pivotal phase III randomised double-blind placebo controlled study. Abstract O1216.
9. Bodini B et al.: Myelin regeneration improves clinical prognosis in multiple sclerosis: a longitudinal PET study with 11C-PIB. Abstract O1108.
10. Pulido-Valdeolivas I et al.: Instrumented gait analysis reveals walking pattern adaptation in patients with primary progressive multiple sclerosis: a hierarchical clustering approach. Abstract P3151.
11. Campbell J et al.: Feasibility and effectiveness of homebased, computerised cognitive rehabilitation in multiple sclerosis – a functional MRI study. Abstract O1213.
12. Coles AJ et al.: Alemtuzumab for patients with relapsing multiple sclerosis after disease-modifying therapy: a randomised controlled phase 3 trial. Lancet. 2012 Nov 24; 380(9856): 1829–39.
13. Barkhof F et al.: Alemtuzumab Decreases New Lesion Formation and Slows the Rate of Brain Athrophy in Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis Patients Previosusly Treated With Subcutaneous Interferon Beta-1a. Abstract L102.
14. Peschl P et al.: Antibody responses following induction of antigen-specific tolerance with antigen-coupled cells. Mult Scler. 2015 Apr; 21(5): 651–5.
15. Martin R.: Antigen-specific Tolerance in MS with Myelin Peptide Coupled Cells. Focused Workshop FW1-2.
Quellen: Erster Kongress der European Academy of Neurology, vom 20. bis 23. Juni in Berlin, Highlights Session und Pressekonferenz.
&32 4/2015
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE