Transkript
Ernährungsmedizin
Die Ressourcen der Psychologie in der Behandlung von Übergewicht und Adipositas
Wie hoch sind die Erfolgschancen bei
der Behandlung von Übergewicht und
Adipositas, Mitursache und Begleite-
rin vieler Krankheiten? Wer soll sie
behandeln? Wie erfolgreich können
Menschen dabei unterstützt werden?
Elisabeth Ardelt-Gattinger
Metaanalysen zeigen, dass die international geforderte Gewichtsabnahme von mehr als 5 kg, länger als 48 Monate gehalten, im Bereich von Übergewicht und Adipositas die Regel, im Falle morbider Adipositas (BMI > 40) aber die Ausnahme von zirka 3 Prozent darstellt (1). Im letzteren Fall erweist sich nur die chirurgische Intervention mit einer mittleren Gewichtsabnahme von etwa 30 kg als langfristig erfolgreich. Sowohl diese hohen Gewichtsabnahmen als auch die eher bescheiden anmutenden Ergebnisse konservativer Verfahren sind – da stimmt die internationale Literatur der letzten 20 Jahre völlig überein – nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit von Medizin, Ernährungs-, Sportwissenschaften und Psychologie zu erzielen.
Es handelt sich also um eine «chronic, lifelong metabolic condition.» (2), eine schwere chronische Krankheit mit steigender Tendenz und – entgegen den Behauptungen der Werbung – nicht um ein Problem, das mit einer Diät in wenigen Wochen zu lösen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Menschen mit einem BMI > 40 weder von Alkoholabhängigen noch von Rauchern oder Spielern in Bezug auf den Drang (Craving) nach übermässigem Konsum unterscheiden. Auch das Gefühl tatsächlicher Abhängigkeit, wie es im ICD 10 oder DSM IV formuliert ist, trennt die genannten Gruppen nicht signifikant. Im Übrigen sind Menschen mit Übergewichtsproblemen nicht per se psychisch kränker und unterscheiden sich auch in der Persönlichkeit nicht von Normalgewichtigen. Die
massiven Diskriminierungen durch die Umwelt können aber psychische Störungen wie Depressionen und Ängste hervorrufen. Sie bessern sich bei Gewichtsabnahme dramatisch (3).
Psychologen und Psychotherapeuten sind nicht frei von der Vorstellung, dass Übergewicht und Adipositas häufig durch psychische Probleme entstünden und man «nur an die Wurzeln des Leidens», an jene Stelle, «wo der Schutzpanzer aufgebaut» wurde, hinkommen und diese «bearbeiten» müsse, um hohe Gewichtsabnahmen zu erreichen. Die vorhandenen Evaluationen von Therapien zeigen, dass nur Psychotherapie, die themenzentriert und interdisziplinär auch auf der Verhaltensebene arbeitet, dauerhafte Erfolge erzielt (4).
Die Aufgabe der Psychologie/Psychotherapie besteht daher primär darin, den Betroffenen vernetzt mit den anderen professionellen Helfern Wissen und Techniken der Einstellungs- und Verhaltensänderung zu vermitteln. Die grundlegende Umstellung der Lebensgewohnheiten ist schwierig, aber in jedem Falle sinnvoll. Neuere Untersuchungen zeigen, dass im Bereich Adipositas von BMI 30–40 und Übergewicht eine gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung die medizinischen Komorbiditäten auch ohne Veränderung des Gewichts und natürlich noch mehr im Bereich des genannten statistischen Mittels der Abnahme von 5 kg senken und die Lebensqualität verbessern.
Die vorhandenen «Techniken» der Änderung von Denk- und Verhaltensmustern lassen sich nach den folgenden Fragen zusammenfassen: 1. Welche Vorstellungen und Gefühle
sind mit dem Übergewicht verbunden – was enthält unser Speicher? 2. Wie kann man dem vorhandenen Denksystem neue Elemente hinzufügen? 3. Wie lässt sich Verhalten ändern und stabilisieren?
Ad 1: www: essen & trinken & bewegen.at
Um mit Menschen effizient kommunizieren zu können, muss man sie – wie
es die Vertreter der systemischen Therapie nennen – dort abholen, wo sie stehen. Ebenso wie bei einem PC ist erst festzustellen, was auf der Festplatte ist, ehe man mit einem neuen Programm erfolgreich arbeiten und etwas ändern kann. Der Mensch ordnet ebenso neue Informationen in bestehende ein oder weist sie zurück, nur dass er es nicht so eindeutig anzeigt wie der PC. Noncompliance ist oft schwer zu erkennen.
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Abbildung 1: Kommunikation zwischen unterschiedlichen Programmen
Menschliche Wissensstrukturen sind etwa die so genannten «sozialen Repräsentationen» und die «Alltagstheorien». Soziale Repräsentationen sind von vielen Personen einer Bezugsgruppe (z.B. Schicht) geteilte Bilder im Kopf über Objekte, Sachverhalte et cetera. So haben etwa Kinder armer Eltern ein anderes Bild von Essen als Kinder reicher Eltern, oder ist das innere Bild des Übergewichtigen bei Afroamerikanern anders als bei Weissen et cetera.
Diese bildhaften Vorstellungen entstehen in öffentlichen Diskursen (Medien, Wirtshaustisch, Schulklassen …) und geben Sicherheit. Es ist wichtig für das Selbstbewusstsein, dass man über die Welt Bescheid weiss und sich darin orientieren kann. Änderungen erzeugen Dissonanz und rufen zwiespältige Gefühle hervor. Reine Edukation erzeugt häufig Bumerang-Effekte. Nur vorsichtig und quasi Stück für Stück können Einzelinformationen, als dazu passend präsentiert, von PatientInnen akzeptiert und hinzugefügt werden und schliesslich andere – unrichtige – ersetzen.
Ergänzt und quasi zusammengehalten werden diese Bilder durch Vorstellungen über Zusammmenhänge.
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Ernährungsmedizin
Abbildung 2: Schwierigkeiten der Verhaltensänderung
Ähnlich wie der wissenschaftlich ausgebildete Mensch hat auch der Laie Hypothesen über das Geschehen, die oben erwähnten so genannten «Alltagstheorien».
Im Vorgang des «Joining» – des Anpassens – mit PatientInnen ist darauf zu achten, dass strukturell grosse Unterschiede zwischen unseren Vorstellungen und der Wissensstruktur des anderen bestehen. So sind wissenschaftliche Theorien meist explizit, konsistent, deduktiv und gehen von Kovariation aus, während der Alltagstheoretiker implizite Aussagen macht,
die meist nicht widerspruchsfrei und vom Einzelfall abgeleitet sind, wobei Korrelationen als Kausalitäten gedeutet werden (5). Klassisches Beispiel ist die Aussage, dass die Grossmutter sehr fett und süss gegessen habe und erst krank geworden sei, als sie auf Anraten der ErnährungsexpertIn auf das so genannte gesunde Essen umgestellt habe, oder die Aussage des Adipösen: «Dicksein ist einfach erblich» – und 30 Minuten später: «In meiner Familie ist keiner dick».
Gegen solche Inhalte und Strukturen kann man mit dem eigenen wis-
senschaftlichen Wissen und der eigenen Überzeugung kämpfen und wird, wenn man es zu früh und zu heftig tut, – psychoanalytisch gesprochen – in den Widerstand der PatientInnen «rennen». Sie werden alles tun, um ihr angegriffenes Denksystem zu schützen und bestenfalls zum Schein kompliant sein. PatientInnen einer Kur, die abends stolz und trotzig «heimlich» essen gehen, sind uns allen vertraut.
Günstiger ist es daher in allen Fällen, vor allem zu Beginn einer Behandlung, mit einer ausgefeilten – auch für Nichtpsychologen erlernbaren – Fragetechnik vorzugehen. Diese sollte sich auf alle Facetten der zukünftigen Zusammenarbeit beziehen und auch die Gefühle der PatientInnen und eventuelle lebensgeschichtliche Wurzeln des heutigen Ess- und Bewegungsverhaltens erfassen.
Nach gut strukturierten Vorlagen kann man die verschiedenen kognitiven Vorstellungen wie auch Gefühle, Ängste und Hoffnungen vor der Therapie, den Aufwand, der dafür geleistet werden muss, das vermutete mögliche Ergebnis der Therapie und anderes abfragen (6).
Ernährungsmedizin
Situation
Anwesend
Einladung zum Essen: süsses Dessert
Familie
Alternative gleich
gleich
Tabelle: Beispiel für einen Beobachtungsbogen
Eigene Stimmung
Handlung
ambivalent, «… einmal wieder eine Torte!?»
Bedanken, Torte essen
Gedanken
«Ich kann nicht ablehnen; ein bisschen süss wird schon nicht schaden»
etwas aufgeregt, ambivalent
Bedanken, Krankheit erklären, um mageren Käse oder Obst als Dessert bitten
«Ich kann höflich ablehnen, besonders wenn ich es begründe, das versteht jeder»
Gefühle
Ärger danach, kein wirklicher Genuss
«Torte essen würde mir schaden!», Zufriedenheit, Genuss
Ad 2: Füge hinzu: «Essen kann Genuss bedeuten und Bewegen kann heissen, den Körper zu spüren und Stress abzubauen»
Wenn wir alle diese Vorstellungen und Gefühle im Gespräch mit den PatientInnen thematisiert haben, legen wir den Grundstein, über die Compliance, jenen mit «Folgen, Befolgen» identischen Begriff, hinauszukommen und – im Sinne des «Informed Consent» und «Informed Decision Making» – ein tragendes Arbeitsbündnis zu etablieren. Auch dieses gilt es immer wieder «upzudaten» und auf Brauchbarkeit und gefühlsmässige Akzeptanz zu hinterfragen.
Auf dieser Basis und mit der entsprechenden klientenzentrierten Gesprächstechnik sind PatientInnen eher bereit, auch die Informationen der Professionisten zu hören, Schritt für Schritt auszuprobieren und ihrem System hinzuzufügen.
Selbstbeobachtungstechniken sind ein weiterer Schritt, Selbstmanagement und die Motivation zu erhöhen. Diese erstrecken sich heute nicht mehr auf Ess- und Bewegungsprotokolle. Sie umfassen nach der klassischen Verhaltenstherapie auch die Beobachtung der auslösenden Situation, in der jemand zum Beispiel isst oder Sport treibt, sowie die angenehmen und unangenehmen kurzfristigen und langfristigen Konsequenzen, die extern und intern (Selbstverstärkung) sein können (7).
Das Problem des Menschen ist allerdings, dass kurzfristige Verstärker (Belohnungen/Bestrafungen) wesentlich stärker wirken, das heisst Verhalten effi-
zienter aufrecht halten als langfristige. Die oben stehende Grafik zeigt einsichtig, dass deshalb Verhaltensänderung oft ausgesprochen schwierig ist. Es bedarf intensiver kognitiver Umstellung, diese kurzfristig wirkenden Verstärker gegen langfristig wirkende auszutauschen.
Ad 3: Speichern: «Essen und Bewegen sitzen im Kopf und nicht in Bauch und Beinen»
Aus diesem Grund werden heute gerade bei kurzfristig selbstverstärkenden Tätigkeiten wie Essen oder «Faulsein» die Techniken der Beobachtung, Analyse und Veränderung der begleitenden Gedanken aus der kognitiven Verhaltenstherapie verwendet. Sie stellen auch die Basis des lebenslangen Selbstmanagements dar (8).
Man bittet PatientInnen, ihre Gedanken und Gefühle vor und nach unerwünschtem übermässigem Essen oder dem häufigen emotionsbestimmten Essen zu notieren. Diese Technik ist vor allem dann sinnvoll und notwendig, wenn es sich um Binge Eater handelt. Etwa 30 Prozent der Adipösen sind mit der Binge Eating Disorder komorbid (9). Diese Fressanfälle werden subjektiv sehr belastend erlebt und sind mit grosser Scham und Heimlichkeit verbunden. Protokolle der eigenen meist automatisch ablaufenden, häufig auch nicht klar bewussten Gedanken und Gefühle führen meist zu völlig neuen Erkenntnissen, die wiederum grundlegendere Änderungen nötig machen. Besonders der aus der Therapie der Sucht bekannte «Regelkreis der Gewohnheit» kann PatientInnen helfen zu sehen, dass es immer ei-
nen «point of no return» gibt, meist den so genannten «erlaubniserteilenden Gedanken»: «Heute esse ich das noch, aber morgen …» (10). Hilfreich sind auch die so genannten Ziel- und Plananalysen mit Fragen wie: «Wie viel will ich essen, wie viel will ich mich bewegen? Was will ich eigentlich im Leben, was sind meine Ziele/Werte? Wie stimmt mehr bewegen, anders essen mit diesen Zielen überein?» sowie Systemanalysen, die Strukturen für Fragen wie «Wie unterstützt mich mein soziales Netz, woran hindert es mich?» vorgeben (6).
Antworten auf all diese und andere Fragen, das Aufdecken von Regelkreisen des Versagens und des erneuten überzogenen Konsums, Anleitungen zur Änderung, manchmal aber auch Veränderungen im gesamten eventuell frustrierenden System der PatientInnen helfen, festgefahrene Verhaltensweisen zu ändern.
Vor der Anwendung von Verfahren der Konflikt- und Problemlösung ist ein neues Arbeitsbündnis zu formulieren, für das es genau zu prüfen gilt, ob der Mensch diese Änderung als Therapieziel wirklich will und akzeptiert. Es darf nicht zur «Verführung» in eine – über das ursprünglich abgesprochene Ziel hinausgehende – Änderung von Gewohnheiten im Bereich Essen und Bewegen kommen. PatientInnen haben aus guten und meist nachvollziehbaren Gründen diese Art der Konfliktlösung bisher vorgezogen.
Während einige Techniken auch von Angehörigen anderer Disziplinen eingeübt und übernommen werden können (11), gehören die letztgenannten Vorgehen in die Hände ausgebildeter
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PsychotherapeutInnen. Auch dies ga-
rantiert freilich nicht immer den Er-
folg.
Alle Disziplinen stehen letztlich vor
der eingangs erwähnten Tatsache, dass
zu viel, zu gut, zu leidenschaftlich es-
sen und sich zu wenig, zu ungern
bewegen unter den bekannten Rand-
bedingungen von gesellschaftlich ver-
einsamender Diskriminierung, Gene-
tik und unbeschränktem Angebot allzu
menschlich und sehr verständlich ist.
Essen und noch mehr Naschen ist wie
keine andere Aktivität auf der Welt mit
Emotionen, mit Kinderglück und Kin-
derstreichen verknüpft, was Änderun-
gen extrem schwierig macht.
I
Autorin: Prof. Elisabeth Ardelt-Gattinger Psychologisches Institut Universität Salzburg E-Mail: elisabeth.ardelt@sbg.ac.at
Hinweis:
Das nächste DESG-Seminar findet vom 17. bis 19. April 2005 in der Kartause Ittingen statt. Informationen unter: www.desg.ch.
Literatur: 1) Ardelt-Gattinger, E., Lechner, H. (2002): Psychologische Aspekte der Adipositaschirurgie, Zentralblatt für Chirurgie, 127: 1057–1063. 2) Müller, M., Maast, M. (2001): Die Kieler Adipositaspräventionsstudie. Kindheit und Entwicklung, 9 (2), 116–126. 3) Ardelt-Gattinger, E. et al. (2000): BMI 40 the Point of no Return In: Hell, E. & Miller, K.: Morbide Adipositas (173–192). Landsberg: Ecomed. 4) Ardelt-Gattinger E., Lengenfelder P., Lechner H. (2003): Evaluation interdisziplinär vernetzter Adipositas Therapie unter Berücksichtigung der Suchtkomponenten. 5) Bergold J., Flick U. (Hrsg.) (1987): Einsichten. Zugänge zur Sicht des Subjektes. Tübingen: DGVT. 6) Petermann, F. (1998): Compliance und Selbstmanagement. Göttingen: Hogrefe 7) Bartling, G. (1992): Problemanalyse im therapeutischen Prozess. 3. überarb. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. 8) Kanfer F.H., Reinecker H., Schmelzer P. (1997): Selbstmanagment-Therapie: Ein Lehrbuch für die klinische Praxis (2. überarbeitete Auflage). Berlin: Springer 9) De Zwaan M., Bach M., Mitchell J.E., Ackard D., Specker S.M., Pyle R.L., Pakesch G. (1995): Alexithymia, Obesity and Binge Eating Disorder. International Journal of Eating Disorders., Vol. 17 (2): 135–140. 10) Beck A.T., Wright F.D., Newmann C.F. & Liese B.S. (1997): Kognitive Therapie der Sucht. Bad Langensalza/Thüringen: Beltz PVU. 11) Ardelt-Gattinger E., Furrer J. (2003): Salutogene Verhaltensweisen im Umgang mit Diabetikern. DESG-Deutschschweiz.
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