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Kokkenimpfungen ins Basisprogramm
Ergänzende Impfempfehlung in der Praxis zu selten umgesetzt
Invasive Meningo- und Pneumokokkenerkrankungen bei Kindern sind mit Komplikationen wie Taubheit und Epilepsie sowie einer Letalität von etwa 10 Prozent assoziiert. Die neuen Konjugatimpfstoffe bieten einen nahezu 100-prozentigen typenspezifischen Schutz, die Impfung wird aber noch nicht ausreichend von Eltern und Ärzteschaft anerkannt. Experten fordern nun die Aufnahme dieser beiden Impfungen in das Schweizer Basisimpfprogramm.
M eningokokken seien bekapselte, gramnegative Diplokokkken mit 12 Serogruppen, wovon A, B, C, W und Y die bekanntesten seien, leitet Prof. Ulrich Heininger vom Universitäts-Kinderspital beider Basel seinen Vortrag ein.
Säuglinge: Irritabilität als Warnzeichen
Der Meningismus, also die Nackensteifigkeit, ist mit einer Häufigkeit von 95 Prozent bei allen Altersgruppen «nahezu
obligat», die fehlenden 5 Prozent stammen von jungen Säuglingen; deren Haupt-
sytmpom ist die Irritabilität. Weitere Warn-
symptome sind Übelkeit, Erbrechen oder
Bewusstseinstrübung. Und: «In unserem
Haus gilt für jedes Kind mit Krampfanfall
vor oder während der Hospitalisation der
Verdacht auf Meningitis, bis zum Beweis
des Gegenteils.»
Bei jedem sechsten bis siebten Betroffenen
kommt es trotz Behandlung als Komplika-
Ulrich Heiniger
tion zu Taubheit oder Beeinträchtigung des Hörvermögens, bei bis zu 10 Prozent treten
aufgrund der Vernarbungen epileptische Anfälle auf (vor allem
nach anhaltenden Krämpfen während der Hospitalisation). Die Letalität liegt auch 2015 «immer noch bei etwa 10 Prozent, bei septischen Verläufen etwas höher», erinnert Heininger.
Invasive Meningokokkenerkrankungen (IME) in der Schweiz
Laut BAG Bulletin 34/2011 gibt es in der Schweiz insgesamt zwischen 80 und 100 Fälle im Jahr, im Jahr 2000 war im Raum Gruyère ein Ausbruch mit 160 Fällen zu beobachten. Die höchste Inzidenz der IME liegt mit 10/100 000 Fällen im ersten Lebensjahr, vor allem nach 6 Lebensmonaten, «wenn der mütterliche Nestschutz verschwindet.» Danach gibt es noch einen Peak bei den 1- bis 4-Jährigen sowie den 15- bis 19-Jährigen; später liegt die Inzidenz bei etwa 1/100 000. «Insgesamt ist die Schweiz damit sicher als Niedrigrisikoland zu bezeichnen, doch das interessiert die Patienten natürlich überhaupt nicht. Meine erste wichtige Botschaft lautet daher: Invasive Meningokokkenerkrankungen sind selten, aber sehr gefährlich. Die Bevölkerung hat dementsprechend ein hohes Schutzbedürfnis» – was sich auch in den Einstellungen der Eltern widerspiegelt: Laut einer Umfrage erachten 75 Prozent
von 6000 Teilnehmern den Meningokokkenschutz durch eine Impfung als wichtig beziehungsweise sehr wichtig (1).
Blutkultur und empirische Therapie Die invasive Infektion wird mittels Blutkultur nachgewiesen; «in unserem Haus setzen wir diese Untersuchungsmethode bei Kindern mit hohem Fieber und Krankheitsgefühl oder bei Pneumonien und Arthritiden grosszügig ein.» Die Therapie entspricht grundsätzlich der bei Erwachsenen, bei Verdacht auf Meningitis oder Sepsis wird nach Entnahme der Blut- oder Liquorkultur empirisch die intravenöse Antibiotikagabe mit Ceftriaxon 100 mg/kg KG/Tag in einer Einzeldosierung eingeleitet; die Therapie dauert 4 bis 5 Tage und ist damit viel kürzer als noch vor 10 Jahren. «Daher lohnt es sich auch nicht, am zweiten oder dritten Tag nach Ergebnis der Blutkultur die Therapie umzustellen.»
Zytokinsturm abfangen Der erste Therapieschritt ist allerdings die Gabe von Kortikosteroiden. Warum? «Weil der Zytokinsturm, also die durch Bakterien induzierte Ausschüttung von Zytokinen, den Organismus schädigt. Und das kann man durch hochwirksames Dexamethason abfangen: 0,8 mg/kg/KG/Tag, in 2 Dosen über 2 Tage.» Entscheidend ist die Verabreichung des Dexamethasons vor der ersten Antibiotikagabe, denn diese führt innerhalb von 1 bis 2 Stunden zu einem Zerfall der Bakterien und damit zum gefürchteten Zytokinsturm.
Über ergänzende Impfungen informieren Unter www.ekif.ch sind die Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) abrufbar. Tabelle 5 führt die «ergänzenden Impfungen» an und damit auch die Meningokokkenimpfung gegen Gruppe C, «der erste verfügbare Konjugatimpfstoff», wie Heininger betont. Die erste Dosis wird im Alter zwischen 12 und 15 Monaten verabreicht, «früher war im Impfkalender dafür kein Platz. Wir wissen aber, dass bei Impfung von Kindern im Alter von 12 Monaten indirekt auch die jüngeren Kinder geschützt werden, da die Trägerrate im Nasopharynx reduziert wird und sich ein junger Säugling daher seltener bei älteren Geschwistern ansteckt.» Die zweite Dosis erhalten 15- bis 19-Jährige aufgrund des oben erwähnten zweiten Krankheitspeaks. Empfohlene ergänzende Impfungen sind übrigens definiert als Impfungen, «die einen optimalen individuellen Schutz bie-
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ten und bestimmt sind für Personen, die sich gegen klar definierte Risiken schützen wollen. Die Ärzteschaft hat ihre Patientinnen und Patienten über deren Existenz gemäss den Vorgaben des Schweizerischen Impfplans zu informieren», erklärt Heininger. «Wir Ärzte haben unseren Patienten gegenüber eine Aufklärungspflicht», so Heiniger weiter.
Konjugatimpfstoff für anhaltende Immunität Und warum Konjugatimpfstoffe? Der erste, 1990 eingeführte Konjugatimpfstoff gegen Hämophilus influenzae Typ B (HIB) bestand aus der Kapsel des Bakteriums – einem Polysaccharid – sowie einem Trägerprotein. «Doch das menschliche Immunsystem reagiert auf Polysaccharide nur mit einer schwachen, weil T-Zell-unabhängigen Immunantwort.» Ein gewisser Schutz ist damit zwar gegeben, jedoch bleibt bei einer Infektion mit dem entsprechenden Bakterium der Boostereffekt aus, ebenso bei nochmaliger Impfung. Durch das Konjugieren des Polysaccharids an ein Eiweiss wird das Immunsystem indes überlistet, es induziert nun eine T-Zell-abhängige Antwort. Diese T-Lymphozyten sorgen dafür, dass die antikörperbildenden B-Zellen zusätzlich auch Gedächtniszellen ausbilden – «und ‹Gedächtnis› ist das Schlagwort für anhaltende Immunität». Die Gedächtniszellen sind für den Boostereffekt zuständig, der bei Infektion mit dem Wildtyp eine rasche und effiziente Immunantwort erlaubt, mit «nahezu 100-prozentigem, typenspezifischem Schutz». Angezeigt ist diese Empfehlung altersunabhängig bei allen
Pneumokokkenimpfung zum 1. Geburtstag
Im Jahr 2000 wurde ein siebenvalenter Konjugatimpfstoff eingeführt, der gegen die Typen 4, 6B, 9V, 14, 18C, 19F und 23F gerichtet war. Seit 5 Jahren liegt nun eine Erweiterung des Impfstoffs vor, der weitere 6 Serogruppen abdecken kann, «damit verhindert die Impfung die Erkrankung mit 13 verschiedenen Pneumokokkenserogruppen. Dieser Einzelschutz ist nötig, da es keine Kreuzreaktivität zwischen den einzelnen Serogruppen gibt.» Die Impfung beginnt aufgrund der hohen Krankheitslast bereits im Alter von 2 Monaten mit der ersten Dosis, 4 Monate später folgt die zweite. Frühgeborene werden sogar dreimal geimpft – im zweiten, dritten und vierten Lebensmonat. «Äusserst wichtig ist die Auffrischimpfung am ersten Geburtstag, damit der Schutz auch anhält. Ein besseres Geburtstagsgeschenk kann das Kind nicht erhalten.»
Aufnahme ins Basisimpfprogramm gefordert Die Inzidenz bei der Zielpopulation der Unter-Zweijährigen liegt bei 20 Fällen pro 100 000 und ist damit doppelt so hoch wie bei Meningokokken. 2006 kam es mit der ergänzenden Impfempfehlung zu einem ersten Rückgang, 2010 erfolgte der Wechsel auf den 13-fachen Impfstoff, womit das Inzidenzniveau noch einmal deutlich absank. «Wir haben jetzt eine Inzidenz von 5 Fällen pro 100 000, das entspricht einem Nettorückgang von 75 Prozent – ein wirklich grosser Erfolg», so Heininger.
«Äusserst wichtig ist die Auffrischimpfung am ersten Geburtstag, damit der Schutz auch anhält. Ein besseres Geburtstagsgeschenk kann das Kind nicht erhalten.»
Personen mit einem definierten medizinisch erhöhten Risiko für invasive Infektionen (fehlende Milz, Störungen des Immunsystems), sowie Personen mit einem erhöhten Expositionsrisiko (Mitarbeiter in Laboratorien, Reisende in Länder mit höherem Risiko, Rekruten).
Pneumokokken: gefürchtete Invasivität Pneumokokken sind grampositive Kokken mit 93 Serotypen. Der Name ist der erstmaligen Isolierung aus Lungengewebe zu verdanken, die Übertragung erfolgt über Tröpfchen. Die lokale Ausbreitung verursacht Otitis und Sinusitis, wirklich gefürchtet ist die Invasivität; Pneumokokken können eine Sepsis auslösen und bei Absiedelung auch zu Meningitis oder Peritonitis führen. Auch hier erfolgt die Diagnose mittels Blutkultur, bei eitriger Meningitis natürlich auch Liquorkultur. «Der Erregernachweis bei perforierter Otitis media ist wichtig: Läuft Eiter aus dem Ohr, sollte immer ein Abstrich entnommen werden, man kann dann gezielt behandeln.» Die Behandlung der invasiven Pneumokokkeninfektion gleicht der von Meningokokken, dauert aber einige Tage länger: «Eine Woche i.v. im Spital ist das Minimum, da auch die Komplikationsrate höher ist als bei Meningokokken.» Bei lokal begrenzter Invasion wird Amoxicillin per os verschrieben, bei eitriger Arthritis eine 3- bis 5-tägige intravenöse Antibiotikabehandlung (plus Entlastung des Gelenks). Die Epidemiologie zeigt in der Schweiz einen ersten Peak in den ersten 4 Lebensjahren mit fast 100 Fällen, danach sinkt die Zahl aufgrund der erworbenen Immunität ab und steigt bei jungen Erwachsenen wieder etwas an; ein echter zweiter Peak ist um das 75. Lebensjahr herum zu beobachten.
Dennoch: Meningo- und Pneumokokkenimpfungen sind gegenüber den Impfungen im Basisimpfprogramm klar im Nachteil, wie eine Schweizer Studie zeigte: 94 Prozent der Kinder waren im Alter von 12 Monaten gegen DTP geimpft, aber nur 73 Prozent gegen Pneumokokken; ähnlich sah der Vergleich zwischen MMR- und Meningokokkenimpfung aus (2). Fazit von Heininger: «Ergänzende Impfungen sind schwieriger durchzusetzen, da sie in den Augen der Eltern und leider auch einiger Ärztinnen und Ärzte nicht denselben Stellenwert haben wie das Basisimpfprogramm. Kollegen versuchen daher, das Gremium der EKIF zu überzeugen, die Meningo- und Pneumokokkenimpfung ebenfalls in das Basisimpfprogramm zu verschieben.»
Lydia Unger-Hunt
Literatur: 1. Heininger U et al.: An internet-based survey on parental attitudes towards immunization. Vaccine 2006; 24: 6351–6355. 2. Hug S et al.: Comparative Coverage of Supplementary and Universally Recommended Immunizations in Children at 24 Months of Age. Pediatr Infect Dis J 2012; 31: 217–220.
Quelle: «Pneumokokken und Meningokokken: Infektionen bei Kindern: Krankheitsbild, Diagnose, Therapie und Impfprävention» mit Unterstützung von Pfizer Vaccines beim Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM), 22. Mai 2015 in Basel.
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