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SCHWERPUNKT
Ernährung chronisch kranker Kinder
Wann braucht es orale Supplemente, wann enterale oder parenterale Ernährung?
Ein guter Ernährungszustand ist für alle Kinder wichtig. Insbesondere für Kinder mit langwierigen, chronischen Erkrankungen ist er jedoch von entscheidender Bedeutung. An einem Workshop erläuterte Dr. med. Laetitia-Marie Petit, Département de l’Enfant et de l’Adolescent, Hôpitaux Universitaires de Genève (HUG), wie man Malnutrition bei chronisch kranken Kindern feststellt und welche Massnahmen sinnvoll sind.
Z wischen dem Ernährungszustand und der Prognose chronisch kranker Kinder besteht ein enger Zusammenhang. So entwickeln sich zum Beispiel Kinder mit zy-
stischer Fibrose im weiteren Verlauf ihres Lebens
besser, wenn sie im Alter von 4 Jahren bezüglich Ge-
wicht und Grösse zum höchsten Perzentil zählten. Sie
erleiden bis zum Alter von 18 Jahren weniger pulmo-
nale Exazerbationen, müssen weniger häufig ins Spi-
tal, weisen eine geringere Mortalität auf und werden
grösser als diejenigen, die im Alter von 4 Jahren nied-
Die orale Nahrungsaufnahme ist immer zu fördern.
rigeren Perzentilen angehörten (1). Eine andere Studie (2) belegt, dass nicht nur die Lungenfunktion (FEV1), sondern auch Untergewicht und Wachstumsverzögerung unabhängige Risikofaktoren der Mortalität bei zystischer Fibrose sind.
Krebskranke Kinder haben schlechtere Chancen zu
überleben, wenn sie zum Zeitpunkt der Diagnose
einen schlechten Ernährungszustand aufweisen, das
heisst, einen um 2 oder mehr Punkte niedrigeren BMI
als im altersgemässen Durchschnitt (3). Doch nicht
nur das: Wenn Kinder in den ersten drei Monaten der
Krebstherapie mehr als 5 Prozent an Körpergewicht
verlieren, ist dies mit einem höheren Risiko für febrile
Neutropenien mit Bakteriämie im ersten Jahr nach der
Diagnose verbunden (OR =
Tabelle 1:
3,05; 95%-KI: 1,27–7,30; p = 0,012).
Malnutrition gemäss Gewicht/Grösse-Index
Unabhängig von der zu-
normal leichte Malnutrition mittelschwere Malnutrition schwere Malnutrition
90–110% 80–89% 70–79%
< 70%
grunde liegenden Erkrankung müssen ins Spital eingewiesene Kinder im Mittel ein bis zwei Tage länger dort bleiben, wenn sie ≥ 2 BMI-
Punkte unter dem altersge-
mässen Durchschnitt liegen
(4). Die gleiche Studie lie-
Quelle: nach (5)
ferte eine weitere Erkenntnis: Unter den Säuglingen
und Kleinkindern, die ins Spital müssen, findet sich ein überdurchschnittlich hoher Anteil mit Malnutrition. Während 7 Prozent aller 1- bis 18-Jährigen bei der Aufnahme ins Spital eine Malnutrition aufweisen, sind es bei den 0 bis 12 Monate alten Kindern 10,8 Prozent und bei den 1- bis 2-Jährigen 8,3 Prozent (4).
Wachstumskurven und Kennziffern
Die erste Frage «Stimmt das Gewicht bezüglich Alter und Körpergrösse?» wird anhand der gängigen Wachstumskurven beantwortet. Die Referentin erinnerte daran, dass die bekannten Wachstumskurven nicht für alle Kinder gleichermassen geeignet seien. Man müsse sich immer fragen: Passt diese Wachstumskurve tatsächlich zu diesem Kind? So gibt es beispielsweise spezielle Wachstumskurven für Kinder mit Down-Syndrom oder Wachstumskurven für verschiedene Ethnien. Bei manchen Kindern ist die Bestimmung der Körperlänge nicht adäquat möglich (z.B. bei Wirbelsäulenfehlbildung). In solchen Fällen könne man auf die Ulna-Tibia-Formel zurückgreifen, mit deren Hilfe man aus der Länge von Ulna und Tibia die Körpergrösse errechnen kann (5). Wichtig für die Beurteilung des Ernährungszustandes ist der Gewicht/Grösse-Index: tatsächliches Gewicht dividiert durch das Gewicht, dass dem 50. Perzentil gemäss Grösse des Kindes entsprechen würde (5, 6). Laetitia-Marie Petit illustrierte dies an einem Beispiel: Louise, die mit einer kongenitalen Herzkrankheit zur Welt kam, hat im Alter von 22 Monaten ein Gewicht von 9,5 kg bei einer Grösse von 88 cm. Gemäss Wachstumskurve1 ist sie zwar grösser als der Altersdurchschnitt (84,3 cm), aber für ihre Grösse von
1Die Workshop-Referentin bezog sich auf die in Frankreich gebräuchlichen Wachstumskurven nach Sempé und Pédron.
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SCHWERPUNKT
Tabelle 2: Empfohlene Kalorienzahl
kcal/kg KG/Tag
Baby < 2 Jahre
100
Kind < 10 Jahre 60–80
Adoleszenter
40–50
Der Ernährungszustand ist nach einem festen Terminplan regelmässig zu überprüfen.
Ergänzungsnahrung: Nur speziell für Kinder gedachte Produkte verwenden!
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88 cm entsprechen 12 kg dem 50. Perzentil. Der Gewicht/Grösse-Index ist demnach: 9,5 kg dividiert durch 12 kg = 0,79. Louise hat also nur 79 Prozent des Durchschnittsgewichts gemäss ihrer Grösse. Ein Wert zwischen 90 und 110 Prozent gilt als normal, darunter werden verschiedene Schweregrade der Malnutrition definiert (Tabelle 1). Der Ernährungszustand lässt sich auch an dem Quotienten Oberarmumfang dividiert durch Kopfumfang abschätzen, sagte Petit. Liegt dieser > 0,27, sei alles in Ordnung. In dem oben genannten Fallbeispiel der kleinen Louise war das anders. Ihr Kopf hat einen Umfang von 46 cm, ihr Oberarm von 12 cm (12/46 = 0,26). Eine weitere Kennzahl (für grössere Kinder) ist die Hautfaltendicke über dem Trizeps. Falls diese konsistent unter dem 5. Perzentil liegt, besteht eine Malnutrition (5). Auch die Bioimpedanzmessung sei nützlich, um den Ernährungszustand eines Kindes einzuschätzen, so Petit. Dies sei eine gute Methode, um die Anteile von Fett-/Muskelmasse und Körperwasser zu bestimmen, vor allem bei Kindern mit renalen oder hepatischen Erkrankungen sowie bei Kortikoidgebrauch (Wassereinlagerungen). In der Praxis häufig gebraucht werden die BMI-Kurven gemäss Alter, wobei international nach wie vor darüber diskutiert werde, welche dieser Kurven nun die beste sei, so Petit. Zur Einschätzung des Ernährungsstatus seien neben all diesen Kurven und Kennziffern selbstverständlich weitere Aspekte wichtig, wie der Eindruck der Haut und Haare sowie bei älteren Kindern der Stand der Pubertätsentwicklung.
Was isst das Kind?
Was auf den ersten Blick eine triviale Frage zu sein scheint, könne in der Praxis durchaus «die Fähigkeiten eines Sherlock Holmes» erfordern, sagte Petit. Besteht eine Essstörung? Welche Diät wurde dem Kind bereits verordnet? Oder versuchen Eltern in ihrer Ratlosigkeit vielleicht irgendeine absurde Diät, von der sie gehört haben, dass sie funktioniert? Bestehen kognitive Probleme, die eine normale Ernährung verhindern? Die empfohlene Kalorienzahl für ein gesundes Kind ändert sich mit dem Älterwerden (Tabelle 2). Bei chronischen Krankheiten, wie beispielsweise der zystischen Fibrose, sind jedoch mehr Kalorien notwendig (130–150% des Bedarfs eines gesunden Kindes). Für Säuglinge kann man Milch mit höherem Kaloriengehalt wählen (bis 1–1,2 kcal/ml), für Babys und Kleinkinder ist die Anreicherung der Ernährung mit Lebensmitteln wie Butter, Käse und Öl ein Tipp für die Praxis. Falls man zu einer Ergänzungsnahrung greifen möchte, sollte man unbedingt darauf achten, eine pädiatrische, speziell für Kinder gedachte Ergänzungsnahrung zu wählen, betonte Petit. Die Produkte für Erwachsene enthielten nämlich zu viel Protein und zu wenig Fett (vor allem zu wenig essenzielle Fettsäuren) für Kinder. Auch sei die Osmolarität der Ergänzungsnahrung für Erwachsene fast doppelt so hoch wie bei den pädiatrischen Produkten; auch das könne Probleme bereiten.
Oral, enteral oder parenteral?
Für alle Formen der Zusatzernährung gilt: Es braucht eine individuelle Ernährungsverordnung «à la carte». Wenn der Gewicht/Grösse-Index 80 bis 90 Prozent beträgt, ist eine orale Ergänzungsnahrung indiziert. Hierbei sind, wie oben erwähnt, sowohl hochkalorische Lebensmittel wie Butter, Käse oder Öl als auch pädiatrische Ergänzungsnahrung geeignet. Falls der Gewicht/Grösse-Index < 80 Prozent beträgt, genügt eine orale Supplementation nicht mehr. Wenn die gastro-intestinale Funktion erhalten ist, empfiehlt sich eine enterale Ernährung über eine adäquate Sonde. Die enterale Ernährung kann und sollte möglichst mit normaler oraler Ernährung kombiniert werden, dazu gehört auch das Stillen (falls gewünscht) oder Flaschennahrung, erläuterte Petit anhand von Fallbeispielen. Eine schwierige Frage sei der richtige Zeitpunkt, um Eltern chronisch kranker Kinder mit drohender Malnutrition und/oder erhöhtem Kalorienbedarf über die Möglichkeit der enteralen Ernährung zu informieren, sagte Petit. In Schweden gehöre dies beispielsweise zum Erstgespräch nach der Mukoviszidose-Diagnose. Hierzulande mache man das eher nicht so, aber sie kenne viele Eltern, die später fragen, warum man ihnen das nicht gleich gesagt habe, berichtet die Referentin. Eine parenterale Ernährung ist nur dann in Betracht zu ziehen, wenn eine adäquate, enterale Versorgung des Kindes nicht möglich ist und/oder der Gewicht/ Grösse-Index < 70 Prozent liegt. Die parenterale Ernährung erfordert aufgrund des hohen Komplikationsrisikos ein enges Monitoring. Es sollte so bald wie möglich wieder zur enteralen oder oralen Ernährung zurückgekehrt werden, wobei diese mit einer parenteralen Ernährung kombiniert werden können und nach Möglichkeit kombiniert werden sollte. Prinzipiell gilt es, immer die orale Nahrungsaufnahme zu fördern.
Mit Zusatznahrung Wachstum aufholen
Das primäre Ziel einer zusätzlichen Ernährung ist das Aufholen der Wachstumsverzögerung mangelernährter Kinder. Dass dies funktioniert und das Kind später eine familiengemäss normale Endgrösse erreicht, sei bekannt, selbst bei Kindern mit geringem Geburtsgewicht konnte dies gezeigt werden, so Petit. Allerdings klappt es nicht bei allen Kindern. Welche Faktoren hierbei neben der Ernährung eine Rolle spielen, ist nicht völlig klar (7). Der grösste Wachstumsschub erfolgt in der Regel in der Pubertät (8), sodass auch dann noch Zusatznahrung zur Behandlung von Malnutrition mit dem Ziel des Aufholwachstums sinnvoll sei. Im Lauf der «Aufholjagd» kann es bei Kindern und Jugendlichen durch die Zusatznahrung vorübergehend zu einem Pseudo-Übergewicht kommen, so Petit. Dieses vermeintliche Übergewicht wachse sich jedoch von selbst wieder aus. Kontrovers diskutiert wird die Frage nach dem Nutzen von Wachstumshormonen bei Malnutrition: Könnte man die durch Malnutrition verursachte Wachstumsverzögerung nicht einfach durch Wachstumshormone ausgleichen? Bei Kindern mit zystischer Fibrose
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SCHWERPUNKT
(CF) wurde dies versucht. In einer Studie (9) profierten CF-Kinder zwar von einer Wachstumshormontherapie im Hinblick auf Grösse und Muskelmasse, es fehlt ihnen aber an Muskelkraft, vermutlich, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht die für den Aufbau von Kraft notwendige körperliche Aktivität leisten können. In einem kürzlich aktualisierten Cochrane-Review (10) wird bestätigt, dass es bei CF-Kindern mit Wachstumshormontherapie mittelfristig zu einer Verbesserung von Grösse, Gewicht und Magermasse im Vergleich zu CF-Kindern ohne Wachstumshormontherapie kommt. Manchmal zeigte sich in Studien eine Verbesserung der Lungenfunktion (nur 1 Messung), manchmal nicht. Die Cochrane-Autoren fanden keine statistisch signifikanten Unterschiede mit oder ohne Wachstumshormontherapie bezüglich Lebensqualität, klinischem Status oder Nebenwirkungen, und fordern langfristige, randomisierte Studien, um den wahren Nutzen einer Wachstumshormontherapie für chronisch kranke, mangelernährte Kinder zu klären.
Referenzen: 1. Yen FH, Quinton H, Borowitz D: Better nutritional status in early childhood is associated with improved clinical outcomes and survival in patients with cystic fibrosis. J Pediat 2013; 162(3): 530-535. 2. Vieni G et al.: Stunting is an independent predictor of mortality in patients with cystic fibrosis. Clin Nutr 2013; 32(3): 382-385. 3. Loeffen EA et al.: Clinical implications of malnutrition in childhood cancer patients – infections and mortality. Support Care Cancer 2015; 23(1): 143-150. 4. Hecht C et al.: Disease associated malnutrition correlates with length of hospital stay in children. Clin Nutr 2015; 34(1): 53-59. 5. http://www.r4p.fr/fiches-pratiques-professionnelles/category/43-etat-nutritionnel 6. Waterlow JC: Classification and Definition of Protein-Calorie Malnutrition. BMJ 1972; 3, 566-569. 7. Gat-Yablonski G, Phillip M: Nutritionally-induced catch-up growth. Nutrients 2015; 7: 517-551. 8. Hirvonen K: Measuring catch-up growth in malnourished populations. Ann Hum Biol 2014; 41(1): 67-75. 9. Simon D et al.: Effects of recombinant human growth hormone for 1 year on body composition and muscle strength in children on long-term steroid therapy: randomized controlled, delayed-start study. J Clin Endocrinol Metab 2013; 98(7): 2746-2754. 10. Thaker V et al.: Recombinant growth hormone therapy for cystic fibrosis in children and young adults. Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 5. Art. No.: CD008901. DOI: 10.1002/14651858.CD008901.pub3.
Die wichtige Rolle des Praktikers
Normalerweise sollten chronische Erkrankungen im Kindesalter nicht zu einer Wachstumsstörung und/ oder Entwicklungsverzögerung führen. Dies erfordert sowohl eine langfristige Behandlung des Kindes als auch eine langfristige Unterstütung der Eltern. Unabhängig von Follow-up-Terminen wegen der chronischen Erkrankung sei es sehr wichtig, den Ernährungszustand nach einem festen Terminplan regelmässig zu überprüfen, forderte Petit. Auch wenn chronisch kranke Kinder häufig von Spezialisten (mit-)behandelt werden, sei dies eine der wichtigsten Aufgaben der Kinderärzte in der Praxis.
Renate Bonifer
Quelle: Workshop Laetitia-Marie Petit, Hôpitaux Universitaires de Genève (HUG): «Alimentation de l’enfant chroniquement malade»; anlässlich der gemeinsamen Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaften für Pädiatrie (SGP) sowie Schlafforschung, Schlafmedizin und Chronobiologie (SSSSC), 11. und 12. Juni 2015 in Interlaken.
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