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BERICHT ZUM SCHWERPUNKT
Früherkennung und Frühbehandlung infantiler Hämangiome
Orale Propranololtherapie als Behandlung der Wahl für komplizierte Fälle
Das infantile Hämangiom – umgangssprachlich als Blutschwamm bezeichnet – ist der häufigste Tumor im Säuglingsalter. Dieser vaskuläre Tumor ist gutartig und nimmt einen selbstlimitierenden Verlauf. Zu schwerwiegenden Komplikationen kann es aufgrund der Lokalisation und bei raschem Tumorwachstum kommen. In den letzten 7 Jahren hat die systemische Behandlung mit dem nicht kardioselektiven Betablocker Propranolol – inzwischen in einer speziell für Säuglinge entwickelten Lösung zur oralen Einnahme (Hemangiol®) erhältlich – die Hämangiomtherapie stark verändert. Die orale Propranololtherapie stelle zurzeit die Behandlung der Wahl für komplizierte infantile Hämangiome dar, berichtete Dr. Marc Pleimes, Praxis für Kinder- und Jugendhaut, Heidelberg, im Rahmen der 48. Tagung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) an einem Mittagsseminar der Firma Pierre Fabre.
Von Hämangiomen sind mehr als 5 Prozent aller Säuglinge betroffen, Mädchen etwas häufiger als Knaben. Bei Frühgeborenen bilden sich Hämangiome deutlich häufiger als bei Kindern, die am Termin geboren wurden. Eine systemische Therapie ist nur bei 12 Prozent der infantilen Hämangiome nötig, während 88 Prozent keine Behandlung erfordern. Infantile Hämangiome sind gutartige Tumoren mit Proliferation des vaskulären Endothels. Infantile Hämangiome und andere vaskuläre Tumoren müssen von vaskulären Malformationen (z.B. Naevus flammeus) unterschieden werden (Kasten 1). In unklaren, komplizierten oder kritischen Fällen kann bei der histologischen Diagnostik nach dem Glukosetransporter-1 (GLUT-1) gesucht werden, der ein spezifischer immunhistochemischer Marker von Hämangiomzellen ist.
Kasten 1:
Unterscheidungsmerkmale vaskulärer Tumoren und Malformationen
Vaskuläre Tumoren L Sind bei Geburt meist noch nicht
vorhanden. L Sind Neubildungen von Blutgefässen.
L Bilden sich oft spontan zurück.
Vaskuläre Malformationen L Sind in der Regel bei Geburt schon
angelegt. L Sind strukturelle Fehlanlagen der
Gefässe. L Persistieren typischerweise
lebenslang.
(nach Dr. Marc Pleimes)
Bei Geburt sind Hämangiome typischerweise noch gar nicht sichtbar, oder es sind lediglich Vorläuferveränderungen der Haut erkennbar (z.B. anämische Makula, Teleangiektasien). Zur Gefässproliferation werden Hämangiomstammzellen vermutlich durch hypoxische Stressreize angeregt. Der Tumor beginnt sich im Lauf der ersten 4 Lebenswochen zu bilden, und wächst schnell bis etwa im Alter von 5 bis 6 Monaten (Wachstumsphase). Dann beginnt eine Ruhephase ohne weitere Progression (Plateauphase), und schliesslich setzt die spontane Rückbildung ein (Involutionsphase), die bis zum Alter von 7 bis 9 Jahren dauern kann. Teilweise wandeln sich Hämangiomzellen dabei in Fettzellen um.
Risikoabschätzung bei infantilen Hämangiomen
Zur Abschätzung der Risiken sollten unterschiedliche Aspekte von Hämangiomen beachtet werden: L Ist das Hämangiom sehr dick oder nur dünn? L Handelt es sich um ein oberflächliches Häman-
giom, oder liegt das Hämangiom tief? 55 Prozent der Hämangiome sind superfiziell, von roter Farbe und wachsen flach oder exophytisch. 15 Prozent liegen tief dermal oder subkutan, wobei bläulich durchscheinende Schwellungen sichtbar sind. Im Vergleich zu oberflächlichen Hämangiomen können tiefe Hämangiome deutlich länger proliferieren und mehr Residualveränderungen (z.B. fibrösfettige Gewebsumwandlung, Teleangiektasien, atrophische Narben, Erytheme) hinterlassen. In
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30 Prozent handelt es sich um kombinierte, gemischte Hämangiome mit oberflächlichen und tiefen Anteilen. L Ist das Hämangiom lokalisiert oder segmental (grossflächig)? Mehr als 90 Prozent der Hämangiome sind relativ klein. Im Vergleich zu lokalisierten Hämangiomen neigen segmentale Hämangiome wesentlich häufiger zu schmerzhaften Ulzerationen und hinterlassen häufiger Residualveränderungen. Segmentale Hämangiome sind gehäuft mit zusätzlichen Fehlbildungen assoziiert. Segmentale Hämangiome im Kopf- und Halsbereich sind oft mit Fehlbildungen von Arterien kombiniert. Segmentale Hämangiome im «Bartbereich» (präaurikuläre Wangenregion, Kinn, Lippen, ventraler Halsbereich) können mit Luftwegshämangiomen assoziiert sein. Bei schnellem Wachstum kann es rasch zur lebensgefährlichen Verlegung der Atemwege kommen. Bei lumbosakralen Hämangiomen können zusätzlich spinale Dysraphien oder Anomalien des Urogenitaltrakts und des Analbereichs bestehen. L Wie viele Hämangiome sind vorhanden? Ab 10 Hämangiomen spricht man von Hämangiomatose, bei der zusätzlich viszerale Hämangiome vorhanden sein können.
Rückbildung abwarten oder behandeln?
Meistens müssen infantile Hämangiome nicht behandelt werden. So kann bei einem lokalisierten, kleinen Hämangiom, das sich zum Beispiel an einer Extremität – also nicht an einer kritischen Stelle – gebildet hat, die spontane Rückbildung ohne Behandlung abgewartet werden. Bei einem früh erkannten, lokalisierten, kleinen (bis 10 mm Durchmesser), nicht besonders dicken Hämangiom komme auch eine Kryotherapie in Betracht, sagte Dr. Pleimes. Da das Wachstum des Hämangioms in den ersten 7 Wochen besonders schnell und stark ist und der Tumor im Alter von 3 Monaten durchschnittlich bereits 80 Prozent seiner Endgrösse erreicht hat, ist die Früherkennung mit früher Beurteilung der Wachstumsdynamik zentral. Bei der ersten Konsultation sollte der Befund fotografisch dokumentiert werden, um Veränderungen im Verlauf objektiv beurteilen zu können. Der Referent empfahl, die Wachstumsdynamik des Hämangioms bei einem Säugling im Alter von 1 Monat bereits nach 1 Woche zu kontrollieren. Je älter das Kind ist, desto grösser können die Kontrollintervalle gewählt werden (im Alter von 2 Monaten nach 2 Wochen, im Alter von 3 Monaten nach 3 Wochen). Frühzeitige Zuweisung zu einem erfahrenen pädiatrischen Dermatologen sei wichtig, sagte der Referent. Wenn das rasche Wachstum eines Hämangioms in einer Problemzone (Bereich der Augen, der Lippen, der Nase, Anogenitalregion) objektiv festgestellt wurde,
Kasten 2:
Indikationsbeispiele für die systemische Therapie von infantilen Hämangiomen
L Lebensbedrohliches Hämangiom (z.B. Atemwegshämangiom) L Funktionsbedrohendes Hämangiom (z.B. im Augenbereich wegen Verschluss-
gefahr mit Amblyopie, Nase, Lippen, Ohren, Anogenitalbereich) L Ulzeriertes Hämangiom mit Schmerzen L Hämangiom mit Risiko bleibender Narben oder Entstellung
Kasten 3:
Aktuelle, grosse Multizenterstudie zur oralen Propranololtherapie
L Multizentrische, randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudie bei 456 Säuglingen (Alter 1 bis 5 Monate) mit proliferierendem infantilem Hämangiom
L Behandlungsdosis: 3 mg Propranolol pro kg pro Tag wirksamer als 1 mg pro kg pro Tag
L Behandlungsdauer: 6 Monate wirksamer als 3 Monate L Behandlungserfolg nach 6 Monaten mit höherer Dosierung: 60 Prozent
(Plazebo: 4%) L Nach Beendigung der erfolgreichen 6-monatigen Therapie: Rebound bei
10 Prozent und erneute Propranololtherapie L Nebenwirkungen: Diarrhö, Schlafstörungen, bronchiale Hyperreaktivität,
kalte Hände und Füsse; sehr selten Hypotonie, Bronchospasmus, Bradykardie, Hypoglykämie L Sponsor der Studie: Pierre Fabre Dermatologie
(nach Referenz [1])
sollte frühzeitig behandelt werden, um das Hämangiomwachstum zu stoppen und Komplikationen zu vermeiden. Ein grosses segmentales Hämangiom im Gesicht, das möglicherweise mit einem Atemwegshämangiom kombiniert ist, sollte unverzüglich behandelt werden.
Orale Propranololtherapie komplizierter infantiler Hämangiome
Die zufällige Beobachtung, dass sich ein Hämangiom sehr rasch zurückbildete, als ein Kind in Frankreich im Jahr 2007 wegen kardialer Problematik mit Propranolol behandelt wurde, veränderte die systemische Hämangiomtherapie weltweit in kürzester Zeit. Früher gebräuchliche Behandlungen komplizierter Hämangiome (systemische Kortikosteroide, Interferon-alfa, Vincristin) wurden von der neuen, weit besseren Propranololtherapie in den Hintergrund gedrängt. Kürzlich wurden die Resultate einer grossen Multizenterstudie veröffentlicht (Kasten 3). Die sehr hohe Ansprechrate bei der neuen Therapie sei eindrücklich, sagte Dr. Pleimes. Nach 6-monatiger Behandlung in einer Dosierung von 3 mg Propranolol pro kg pro Tag hatten sich die Hämangiome bei 60 Prozent der Kinder vollständig oder fast vollstän-
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dig (Restläsionen wie Teleangiektasien, Erythem, Hautverdickung, Weichteilschwellung nur minimal) zurückgebildet (1). Im Vergleich zu Plazebo (Therapieerfolg bei 4%) war die Propranololtherapie hochsignifikant überlegen (p < 0,001). Bereits nach 5 Behandlungswochen war mit Propranolol bei 88 Prozent der Kinder eine Besserung mit merklicher Rückbildung des Hämangioms feststellbar (mit Plazebo nur bei 5%). Die Behandlung, die im Alter zwischen 5 Wochen und 5 Monaten durch ein erfahrenes interdisziplinäres Team (Kinderdermatologe, Kinderkardiologe) eingeleitet werden soll, wird üblicherweise während 6 Monaten durchgeführt. Wenn nach dem Absetzen bei Kontrolluntersuchungen wieder eine deutliche Proliferation des Hämangioms festgestellt wird, könne erneut mit Propranolol behandelt werden, sagte Dr. Pleimes. Die Propranololtherapie sei sehr gut verträglich. Wichtig sei, dass das Medikament immer mit oder kurz nach einer Mahlzeit verabreicht werde, um das Hypoglykämierisiko zu minimieren. Eltern müssen also strikt beachten, dass Propranolol nie ohne Nahrung (Muttermilch, Muttermilchersatznahrung, feste Nahrung) gegeben werden darf. L Alfred Lienhard Referenz: 1. Léauté-Labrèze C et al.: A randomized, controlled trial of oral propranolol in infantile hemangioma. N Engl J Med 2015; 372: 735–746. SGML Nachrichten der Schweizerischen Gesellschaft für medizinische Laseranwendungen (SGML) Lasersicherheit und Recht Laseraufbaukurs SGML am Donnerstag, 22. Oktober 2015, 9 bis 17 Uhr Im Laseraufbaukurs werden Sicherheitsaspekte der Lasermedizin vertieft (Sicherheit im Umgang mit IPL und Laser, Schutzbrillen, Schutzmassnahmen, chirurgische Rauchgase). Technische Standards und juristische Aspekte werden detailliert betrachtet. Klinische Fälle werden besprochen. Rechtsanwalt Prof. Tomas Poledna referiert über «Ästhetische Medizin und Recht». Medizinische Kursleitung: Dr. med. Bettina Rümmelein Technische Kursleitung: Thomas Eberli Teilnehmer: Ärztinnen und Ärzte, auch in Begleitung der MPA Kursort: Medical Center See-Spital (ehemals Spital Sanitas), Grütstrasse 55, 8802 Kilchberg (ZH) Organisation: Schweizerische Gesellschaft für medizinische Laseranwendungen SGML Kosten (inkl. Mittagessen): Mitglieder der SGML: 250 Franken Nichtmitglieder: 500 Franken Anmeldung: Sekretariat der SGML, Grütstrasse 55, 8802 Kilchberg (ZH), Tel.: 043 343 93 01, Natel: 079 269 61 57 E-Mail: info@sgml.ch 6 SZD 4/2015