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FORTBILDUNG
Schematherapie: Ein moderner psychotherapeutischer Werkzeugkasten mit bewährten Instrumenten
Die Schematherapie ist Vertreterin eines modernen, integrativen und evidenzbasierten Psychotherapieansatzes. Den Schwerpunkt der dabei integrierten Methoden bilden kognitive und verhaltensbasierte Techniken, aber auch erfahrungsorientierte Elemente sowie die therapeutische Beziehungsgestaltung. Ein rasch verständliches Modell von Lebenserfahrungen (Schemata) und durch diese beeinflusste Befindlichkeits- und Verhaltenszustände (Modi) leiten den Patienten wie auch den Therapeuten durch die Therapie. Die Integration der bewährten Methoden in einem eingängigen Modell machen die Schematherapie zu einem attraktiven Ansatz für das Verstehen und Verändern von problematischen Erlebens- und Verhaltensmustern, wie sie im Rahmen psychischer Störungen auftreten.
Samy Egli Martin E. Keck
von Samy Egli und Martin E. Keck
Hintergrund und Modell
«S chematherapie ist doch alter Wein in neuen Schläuchen», ist der Einwand, den man am häufigsten hört. Dem kann eigentlich nur zugestimmt werden, mit der Ergänzung, dass es sich beim Wein um eine Zusammenstellung von bewährten alten Traubensorten handelt, die gut harmonieren, und dass der neue Schlauch das Trinken angenehm macht. Eine andere, vielleicht noch treffendere Metapher für die sinnvolle Integration verschiedener bewährter Methoden, wie es in der Schematherapie gemacht wird, wäre die einer Werkzeugkiste, welche man für das Handwerk der Psychotherapie benötigt. Da käme auch niemand auf die Idee, alle anstehenden Aufgaben mit immer dem gleichen Werkzeug auszuführen. Niemand würde versuchen, mit einer Säge einen Nagel einschlagen zu wollen, dafür würde man eben einen Hammer nehmen. Die Werkzeuge sind dabei keine neuartigen Instrumente, es kommt viel mehr darauf an, dass sie gut sortiert und griffbereit sind und dass der Psychotherapeut sie je nach Indikation aus Störungsbild, Zustand des Patienten und Phase der Therapie kompetent einzusetzen weiss. So entwickelte denn auch Jeffrey Young (1) die Schematherapie aufgrund fehlender Werkzeuge in der kognitiven Verhaltenstherapie von Patienten mit chronischen, schwer zu behandelnden Depressionen – oft mit zusätzlichen Schwierigkeiten auf der Persönlichkeitsachse. Gerade bei der therapeutischen Arbeit auf der Persönlichkeitsachse und damit auf der Beziehungsebene ist die Gestaltung der therapeutischen Beziehung von besonderer Wichtigkeit, wie sie zum Beispiel in einem anderen wirkungsvollen Ansatz bei Persönlichkeitsstörungen, der klärungsorientierten Psychothera-
pie nach Sachse (2), ebenfalls betrieben wird. In der Schematherapie bietet die Idee der begrenzten elterlichen Fürsorge als Perspektive in der Beziehungsgestaltung ein gutes Instrument zur Orientierung an den Grundbedürfnissen Bindung, Kontrolle, Selbstwert und Lust nach Grawe (3), aber auch zur Begrenzung und empathischen Konfrontation, wie es zum Beispiel auch beim disziplinierten persönlichen Einlassen im Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) nach McCullough (4) ganz ähnlich praktiziert wird.
Modell Die Grundidee und damit das Modell der Schematherapie wird durch das Konzept gebildet, dass sich im Leben bereits in der Kindheit ereignende Frustrationen von Grundbedürfnissen als entsprechende Lebenserfahrungen in Form von emotionalen und kognitiven Mustern (den frühen maladaptiven Schemata, [1], Kasten 1) widerspiegeln beziehungsweise niederschlagen. Beim Versuch, die Grundbedürfnisse vor dem Hintergrund dieser maladaptiven Schemata mit den früh im Leben oft noch eingeschränkten Bewältigungsmöglichkeiten (mit den Grundkategorien Überkompensation, Erduldung oder Vermeidung) zu befriedigen, entstehen immer wieder bestimmte, aktualisierte Wahrnehmungsund Verhaltenszustände, die Modi (adaptiert nach [1], Kasten 2). Diese Modi – oder ein einzelner Modus – können als aktivierte innere Anteile betrachtet werden. Die Erlebens- und Verhaltensmuster aus Schemata und Modi schreiben sich unbewusst im Rahmen von operanten Konditionierungsprozessen durch die ihnen innewohnenden Vorteile über die Lebensspanne fort. Sie bergen aber aufgrund der über die Jahre veränderten Lebensumstände auch je länger desto mehr Nachteile, welche sich in Symptomen zeigen oder in psychischen Störungsbildern münden können. Die
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Schemata sowie die Modi werden in der Schematherapie durch kognitive, verhaltens- und erfahrungsorientierte Methoden und die Therapiebeziehung expliziert, also bewusst und dadurch der Veränderung zugänglich gemacht. Das Ziel ist, durch eine verbesserte Selbstregulationsfähigkeit die Grundbedürfnisse mit Strategien zu befriedigen, die weniger Nachteile haben oder in Störungssymptomen resultieren können.
Therapieablauf und Werkzeuge Die Schematherapie ist wie viele andere Psychotherapien grundsätzlich in drei Phasen gegliedert: 1. eine Anfangsphase mit Diagnostik und Exploration; 2. eine Hauptphase der Veränderung mit Problemak-
tualisierung und Problembewältigung; 3. eine Schlussphase mit Transfer des Erlernten in den
Alltag, Ablösung von der Therapie und Rückfallprävention. Dabei sind die Elemente nicht immer strikt den Phasen zugeordnet, so wird zum Beispiel schon früh und kontinuierlich in der Therapie darauf geachtet, erlernte Strategien und neue Beziehungserfahrungen in den Alltag zu übertragen, und gleichzeitig kann es zum Beispiel auch vorkommen, dass in einer späteren Phase der Therapie einzelne Aspekte nochmals vertiefter exploriert werden. Der Fokus in der ersten Explorationsphase besteht allerdings darin, durch Anamneseerhebung, Fragebögen, aber auch Interaktionsbeobachtung in der Therapiesitzung sowie im stationären Setting im Stationsalltag die relevanten Schemata und Modi herauszuarbeiten und das Schema- und Modus-Modell einzuführen. Daraus wird dann ein individuelles Entstehungs- und Erklärungsmodell der Symptome und Belastungen als Konsequenz von maladaptiven Bewältigungsstrategien zur Bedürfnisbefriedigung erarbeitet. In einem nächsten Schritt werden daraus die therapeutischen Interventionen abgeleitet, welche mit den verschiedenen Werkzeugen umgesetzt werden. Die Werkzeuge können ebenfalls in allen therapeutischen Phasen eingesetzt werden. Sie werden grob unterteilt in kognitive, verhaltensbasierte und erfahrungsorientierte Instrumente sowie Techniken der Beziehungsgestaltung.
Orientiert man sich am Modusmodell für den Ablauf der Therapie, sind die Ziele: 1. die dysfunktionalen Elternanteile bewusst zu ma-
chen und zu reduzieren; 2. den Zugang zu den Gefühlen und Bedürfnissen des
Kindmodus zu finden; 3. die Funktion von maladaptiven Bewältigungsmodi
bewusst zu machen; 4. funktionale Alternativen aufzubauen und so 5. den Umgang mit den Bewältigungsmodi flexibler
zu machen, um Bedürfnisse besser befriedigen zu können, was dem gesunden Erwachsenenmodus entspricht, der im Sinne einer verbesserten Selbstregulationsfähigkeit als Ziel der Schematherapie gestärkt werden soll.
Das Modusmodell hat mit seinem Konzept der Persönlichkeitsanteile Verwandtschaft mit der Transaktionsanalyse mit den Anteilen Kindheits-, Erwachsenen- und Eltern-Ich (5).
Kasten 1:
Frühe maladaptive Schemata
1. Verlassenheit/Instabilität 2. Misstrauen/Missbrauch (und Misshandlung) 3. Emotionale Entbehrung 4. Unzulänglichkeit/Scham 5. Soziale Isolierung/Entfremdung 6. Abhängigkeit/Inkompetenz 7. Anfälligkeit für Verletzungen oder Krankheiten 8. Verstrickung/unterentwickeltes Selbst 9. Versagen 10. Anspruchshaltung/Grandiosität 11. Unzureichende Selbstkontrolle/Selbstdisziplin 12. Unterwerfung 13. Selbstaufopferung 14. Streben nach Zustimmung und Anerkennung 15. Negativität/Pessimismus 16. Emotionale Gehemmtheit 17. Unerbittliche Standards 18. Bestrafungsneigung
Kognitive Werkzeuge Hierzu zählen typische Techniken aus kognitiven Therapierichtungen, wie wir sie von prominenten Vertretern wie Beck (6) kennen. So werden zum Beispiel negative automatische Gedanken erfasst und zu funktionalen Überzeugungen umstrukturiert. Das Schematherapiespezifische ist die Einordnung der negativen automatischen Gedanken im Modusmodell als dysfunktionale Elternbotschaften, wobei gleichzeitig aus Ich-Gedanken oder Botschaften Du-Botschaften gemacht werden, womit eine Ich-Dystonie hergestellt wird und damit eine bessere Distanzierungs- und Kontrollmöglichkeit erreicht wird. Ausserdem wird auch bei diesen kognitiven Interventionen der Wahrnehmungsfokus durch den Therapeuten immer wieder auch auf emotionale und körperliche Aspekte hingelenkt, wodurch eine bessere erfahrungsorientierte Verankerung mit der Aktivierung von mehr Sinneskanälen und dadurch mehr neuronalen Verknüpfungen erreicht wird. Ähnliche Aspekte werden zum Beispiel auch von Grawe (3) in seinem Buch «Neuropsychotherapie» beschrieben.
Verhaltensbasierte Werkzeuge Verhaltensbasierte, musterdurchbrechende Techniken werden diese Instrumente in der Schematherapie auch genannt. Hierzu zählen klassische verhaltenstherapeutische Elemente wie zum Beispiel Hausaufgaben mit Aufbau von positiven Aktivitäten im Alltag (Ressourcenaktivierung als therapieübergreifender Wirkfaktor in der Psychotherapie nach Grawe) oder auch Rollenspiele (Problembewältigung als therapieübergreifender Wirkfaktor in der Psychotherapie nach Grawe). Eine schematherapeutisch-spezifische Variante eines Rollenspiels ist zum Beispiel das Durchspielen verschiedener innerer Anteile, also Modi, durch verschiedene Teilnehmer im Gruppensetting. Da in dieser Übung negative dysfunktionale Botschaften und dadurch verletzte und abgewertete Persönlichkeitsanteile aktualisiert werden,
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findet auch hier eine Emotionsaktivierung statt (Problemaktualisierung als therapieübergreifender Wirkfaktor in der Psychotherapie nach Grawe).
Erfahrungsbasierte Werkzeuge Eine stärkere erfahrungsbasierte Orientierung kommt in der Schematherapie auch dadurch zustande, dass bei allen angewendeten Techniken ein Fokus auf die Emotionen und die Körperwahrnehmungen gelegt wird. Spezifische erfahrungsbasierte Werkzeuge in der Schematherapie sind zum Beispiel die Stuhlarbeit und die Imaginationsübungen. Die Imaginationsübungen werden ähnlich wie bei hypnotherapeutischen Ansätzen durchgeführt; die möglichen Variationen sind zahlreich. Der Patient schliesst die Augen, und der Therapeut leitet gegebenenfalls nach einer kurzen Entspannungsphase die Erinnerung an eine Szene aus der Kindheit ein. Ausgangspunkt kann dabei zum Beispiel eine aktuelle belastende Emotion sein, die dann gleichzeitig als «Brücke» zurück in die Kindheit dient. Durch die Imagination wird eine höhere emotionale Aktivierung und damit eine bessere motivationale Klärung erreicht. Zusätzlich können in der Veränderungsphase der Therapie die Imaginationen nicht nur explorativ-klärend, sondern auch verändernd durchgeführt werden. Diese haben dann viele Ähnlichkeiten zum Beispiel mit dem Imagery-Rescripting aus der Trauma-Therapie nach Smucker (7). Auch hier können in der Vorstellung Helferfiguren, eigene erwachsene Anteile oder der Therapeut eine kompetente Bedürfnisbefriedigung unterstützen. Die Idee ist dabei nicht, die Vergangenheit oder die Erinnerungen zu ändern, sondern bei den durch die Veränderung der Vorstellungen gemachten korrektiven bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen die Emotionen zu aktivieren (motivationale Klärung als therapieübergreifender Wirkfaktor in der Psychotherapie nach Grawe). Diese können dann auch ausserhalb der Vorstellung auf der Verhaltensebene besser als motivationale Basis für funktionale Bewältigungsstrategien zur Bedürfnisbefriedigung dienen. Ausserdem können belastende Emotionen, die im gegenwärtigen Alltag auftauchen, so besser in aktuelle und vergangene Anteile unterschieden werden, was zu einer Entlastung führt. Ein anderes gut für die Schematherapie passendes Werkzeug ist die aus der Gestalttherapie (8) stammende Stuhlarbeit. Dabei werden die verschiedenen inneren Anteile auf Stühle gesetzt und miteinander in Dialog gebracht, wobei der Patient in Abwechslung alle Anteile selber spielt, der Therapeut unterstützt dabei. Diese Technik hilft, die inneren Anteile besser einordnen und damit kontrollieren zu können. So wird es auf diese Art zum Beispiel einfacher, den Zugang zu verletzten Anteilen zu finden (Kindmodi), mehr Distanz zu den die Verletzungen auslösenden Anteilen (dysfunktionale Elternmodi) zu gewinnen, die maladaptiven Bewältigungsstrategien (Beschützermodi) flexibler zu handhaben und die funktionalen Strategien zur Bedürfnisbefriedigung (gesunder Erwachsenen-Modus) zu stärken.
Werkzeuge der Beziehungsgestaltung Die Beziehungsgestaltung bildet einen zentralen therapieübergreifenden Wirkfaktor in der Psychotherapie und ist auch in der Schematherapie ein therapeutisches
Werkzeug, das konstant aktiv ist. Was bei Grawe die komplementäre oder motivorientierte Beziehungsgestaltung ist, wird in der Schematherapie im Konzept der begrenzten Nachbeelterung (Reparenting) umgesetzt. Dabei versucht der Therapeut, den Patienten im Sinne von korrektiven Erfahrungen dabei zu unterstützen, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Wenn also zum Beispiel ein Patient früher bei Fehlern immer bestraft oder abgewertet wurde, achtet der Therapeut darauf, zum Beispiel, wenn der Patient zu spät kommt, ihn nicht zu bestrafen oder zu kritisieren. Wenn sich ein solches Verhalten oft wiederholt, setzt der Therapeut Grenzen im Sinne einer empathischen Konfrontation, indem er dem Patienten aufzeigt, was das Verhalten für Auswirkungen auf die Sitzung und den Therapeuten hat, und es wird gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Diese Interventionstechniken werden ähnlich zum Beispiel auch im CBASP beim disziplinierten persönlichen sichEingeben und der interpersonellen Diskriminationsübung umgesetzt.
Anwendung/Indikation, Forschung und Ausblick Wie in der Einleitung erwähnt, wurde die Schematherapie für therapieresistente Fälle entwickelt, es handelt sich aber um ein transdiagnostisches Modell. Die Wirksamkeit der Schematherapie konnte vor allem im Bereich der Persönlichkeitsstörungen gezeigt werden (9). Es werden aber auch Ansätze zur Behandlung der chronischen Depression (10) und anderer Störungsbilder beschrieben. Viele Studien zur Schematherapie fokussieren auf ein längerfristiges ambulantes Behandlungssetting und Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die klinische Er-
Kasten 2:
Modi
Dysfunktionale Elternmodi Fordernde Modi: Fordern (emotional oder leistungsorientiert) immer mehr, es ist nie gut genug. Abwertende und bestrafende Modi: Werten ab, bestrafen, verletzen oder vernachlässigen.
Kindmodi Verletzte Modi: Verletzte Gefühle, zum Beispiel Ängstlichkeit oder Einsamkeit. Wütende Modi: Wut bei Grenzverletzungen oder nicht gestillten Grundbedürfnissen. Undisziplinierte, impulsive Modi: Fehlende Grenzen und Frustrationstoleranz. Glückliche Modi: Genuss, Lust, Spiel und Spass, Flow-Erleben.
Bewältigungsmodi Erduldende Modi: Sich unterwerfen, aushalten, erstarren. Vermeidende Modi: Flüchten, sich distanzieren. Überkompensierende Modi: Das Gegenteil des Schemas machen, kämpfen, Schutz durch Angriff.
Gesunde Erwachsenen-Modi Sich kümmernde Modi: Gefühle und dahinter stehende Bedürfnisse wahrnehmen und sich funktional darum kümmern. Begrenzende Modi: Begrenzung und Schutz vor Abwertungen und Verletzungen.
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Fallbeispiel
Herr B. ist ein 34-jähriger Informatiker mit Führungsverantwortung. Er ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Er kam mit der aktuell dritten depressiven Episode zur zweiten stationär-psychiatrischen Behandlung. Vor einem Monat hatte er in der Firma die Verantwortung für ein neues Projekt übernommen, im Privatleben standen die Einschulung des älteren Kindes sowie die Unterstützung der pflegebedürftigen Eltern an. Vor diesem Hintergrund sei es in den letzten Wochen zu vermehrten Ein- und Durchschlafstörungen mit Antriebs- und Energieverlust, Gedankenkreisen und Konzentrationsstörungen, Freudlosigkeit, Selbstwertverlust, sozialem Rückzug sowie gereizter und depressiver Stimmung mit Schuld-, Versagensgefühlen und Hoffnungslosigkeit gekommen, bis hin zu Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Die Erhaltungstherapie mit Psychopharmakologie durch Escitalopram 10 mg/Tag, sowie mit ambulanter kognitiver Verhaltenstherapie mit einer Sitzung alle zwei Wochen war in der gegenwärtigen Belastungssituation nicht mehr suffizient, sodass Herr B. zur stationären Neueinstellung und Intensivierung der Behandlung kam. Neben der Optimierung der medikamentösen Behandlung aufgrund einer ausführlichen somatischen, neurologischen und genetischen Diagnostik sowie Bewegungs-, Sport-, Ergo-, Musik- und Kunsttherapie, sozialdienstlicher und pflegerischer Unterstützung, erhielt Herr B. Schematherapie einmal wöchentlich im Einzel- und zweimal wöchentlich im Gruppensetting. Allerdings wurde auch durch die anderen Berufsgruppen an schematherapeutischen Zielen und mit schematherapeutischem Vokabular gearbeitet, einfach über den jeweils anderen berufsgruppenspezifischen Zugang. In der Einzeltherapie erhielt er eine Einführung in das Modell der Schematherapie und es wurden die wichtigsten Schemata und Modi durch Fragebögen, die Anamnese und Interaktionsbeobachtung erhoben. In seiner ersten erfahrungsorientierten Einstiegsübung in der Gruppe, dem Ressourcengeflecht, bei dem sich alle Gruppenmitglieder einen Wollknäuel zuwerfen, während sie ein Ende in der Hand halten und das mit einer Stärke von sich verbinden, die sie in die Gruppe einbringen, erlebte sich Herr B. zum ersten Mal wieder mit einer seiner positiven Eigenschaften alsTeil einer Gemeinschaft. Dies befriedigte sein Bindungs- und Selbstwertbedürfnis. Anhand der Fragebögen und der Anamnese hatte sich vor allem das Schema «Unerbittliche Ansprüche» als beeinflussend für Herrn B. herausgestellt. Dies führte – zusammen mit seinem erduldenden Bewältigungsmodus, alles perfekt machen zu wollen und immer der Beste sein zu müssen – zwar in seinem Alltag dazu, dass er dem inneren Druck, dass es nie gut genug war und er nur für Leistung Anerkennung verdient hatte, oft gerecht werden konnte und so nicht allzu oft darunter litt, führte aber zusammen mit der derzeitigen psychosozialen Belastungssituation auch zu einer Erschöpfung seiner Kräfte und Überforderung, die sich in der Symptomatik einer erneuten depressiven Episode zeigte. In Rahmen einer Einzelsitzung und einer damit einhergehenden Imagination konnte Herr B. in der Vorstellungsübung das zurzeit oft auftauchende Gefühl, nicht gut genug zu sein, als Brücke zurück in seine Kindheit nutzen. Oft wurde er in seiner Kindheit geschlagen oder auf sein
Zimmer geschickt, wenn seine Schulnoten nicht gut genug waren. Durch diese Erkenntnis, welche aufgrund der emotionsaktivierenden Imaginationsübung nicht nur auf kognitiver, sondern auch auf emotionaler Ebene stattgefunden hatte, konnte sich Herr B. in zukünftigen Situationen besser von dem inneren aktualisierten Gefühl des Versagens distanzieren und es adäquater in die Vergangenheit der eigenen Lebensgeschichte anstatt in der Gegenwart einordnen. Weil sich der Therapeut ebenfalls in die Vorstellungsübung begeben hatte und Herrn B. dort als kleines Kind in Schutz genommen und damit seine Grundbedürfnisse nach Bindung, Sicherheit und Selbstwertschutz erfüllt hatte, konnte Herr B. die mit der Bedürfnisbefriedigung verbundenen positiven Gefühle erleben, die er in Zukunft als Motivation und Richtungsweiser für eine adäquate Bedürfnisbefriedigung nutzen konnte. In Paargesprächen konnte er in der Folge durch ein Training sozial kompetenter Kommunikation mit seiner Frau besser einüben, in Konflikten die Kritik von ihrer Seite nicht immer bis über seine Grenzen hinaus zu erdulden und es recht machen zu wollen, sondern seine Grenzen früher auf eine adäquate Art und Weise zu verbalisieren und seine Bedürfnisse einzubringen. Innerhalb der therapeutischen Beziehung machte der Therapeut nonverbal und verbal deutlich, dass Herr B. keine Bestrafung zu befürchten hatte, wenn er etwas nicht gut genug gemacht hatte, und konfrontierte ihn mit dem Druck, den er auf sich, auf die Therapie und damit auch auf den Therapeuten ausübte, dass immer alles perfekt sein sollte. Sowohl durch die begrenzte elterliche Fürsorge (Orientierung an und Unterstützung bei der Erfüllung von Grundbedürfnissen) wie auch durch die empathische Konfrontation (Erläuterung der negativen Auswirkungen der Schemata und Modi auf die therapeutische Beziehung) waren korrektive Erfahrungen auf der Beziehungsebene möglich. Damit reduzierte sich die latente Befürchtung von Bestrafung im Alltag und das Gefühl, nicht gut genug zu sein, wenn er etwas nicht perfekt gemacht hatte, was in einem reduzierten Leistungs- und damit Leidensdruck resultierte. In der Gruppe wurde anhand einer Situationsanalyse ein aktuelles Modusmodell aufgestellt, wobei einige Gruppenmitglieder im interaktionellen Rollenspiel die Rollen einzelner Modi, also innerer Anteile von Herrn B., übernahmen. In der eigenen Rolle des Modus des inneren Kindes konnte Herr B. dabei nochmals durch die aktivierten Emotionen Zugang zu den Grundbedürfnissen finden, diese in der Rolle des gesunden Erwachsenen-Modus erfüllen und den Modus des dysfunktionalen Elternteils (der Ungenügen bestraft) begrenzen und entmachten. Mit einiger Übung im Umgang mit den eigenen Modi, also aktivierten Zuständen oder inneren Anteilen, konnte Herr B. sich schliesslich bei den Belastungstests im Arbeitsumfeld vom inneren Anteil des Drucks deutlich entlasten, was zu weniger Überforderung und damit auch zu einer Reduktion der depressiven Symptomatik führte. Nach einer achtwöchigen stationären Therapie führte Herr B. diese in ambulanter Behandlung einmal in der Woche im Einzelsetting und im Gruppensetting zur Erhaltungstherapie fort. Im Verlauf wurde schliesslich die Gruppentherapie gestoppt und die Einzeltherapie erst in der Frequenz reduziert und dann auch gestoppt.
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fahrung zeigt, dass die Schematherapie aber auch in
einem kürzeren, stationären Setting bei Störungsbildern
wie Erschöpfungsdepressionen wirksam sein kann.
Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München wird
deshalb eine Psychotherapiestudie durchgeführt, bei
der Schematherapie mit kognitiver Verhaltenstherapie
bei depressiven Störungen im stationären und tagklini-
schen Setting verglichen wird. Es handelt sich hierbei
um die erste kontrollierte Studie dieser Art. Dabei liegt
ein Hauptinteresse der Studie nicht nur auf den beiden
Therapierichtungen, wobei die kognitive Verhaltens-
therapie auch als Teilmenge der Schematherapie gese-
hen werden kann, sondern auch auf der Wirksamkeit
der spezifischen jeweiligen Instrumente und Werk-
zeuge. Wesentliches Ziel der Studie ist die Erarbeitung
biologischer, psychophysiologischer, bildgebender und
genetischer sowie epigenetischer Parameter und deren
Implikationen für eine differenzielle Therapieindikation
im Sinne eines Biomarker-gestützten Therapiealgorith-
mus im Sinne der personalisierten Medizin.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. Samy Egli
Max-Planck-Institut für Psychiatrie
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Neurologie
D-80804 München
E-Mail: samy_egli@psych.mpg.de
Merksätze:
G In der Schematherapie geht es um das Bewusstmachen von unbewussten Erlebens- und Verhaltensmustern, die in der individuellen Lebensgeschichte entstanden sind.
G Durch die bewusst gemachten Muster wird es im Sinne einer verbesserten Selbstregulationsfähigkeit ermöglicht, die Grundbedürfnisse funktionaler zu befriedigen.
G Die verbesserte Bedürfnisbefriedigung führt zu einer Reduktion von Belastungen und Symptomen im Rahmen psychischer Störungen.
G In der Schematherapie werden bewährte psychotherapeutische Werkzeuge unterschiedlicher Psychotherapieansätze in einem plausiblen und gut verständlichen Modell integriert.
G Bei den eingesetzten Werkzeugen handelt es sich um Instrumente, die primär entweder den Bereichen kognitive Methoden, verhaltensorientierte Techniken, erfahrungsbasierte Elemente oder der therapeutischen Beziehungsgestaltung zugeordnet werden können.
Literatur:
1. Young JE. et al.: Schema Therapy. A Practitioner´s Guide. Guilford Press, New York, 2003.
2. Sachse R.: Klärungsorientierte Psychotherapie. Hogrefe, Göttingen, 2003.
3. Grawe K.: Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen, 2004.
4. McCullough JP.: Treatment of Chronic Depression: Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy. Guilford Press, New York, 2000.
5. Berne E et al.: Transactional Analysis in Psychotherapy. Snowballpublishing, 2009.
6. Beck AT et al.: Cognitive Therapy of Depression, Guilford, New York, 1979.
7. Smucker MR., Dancu CV: Cognitive-Behavioral Treatment for Adult Survivors of Childhood Trauma: Imagery, Rescripting and Reprocessing. Jason Aronson, New York, 1999.
8. Perls F.: Grundlagen der Gestalt-Therapie. Einführung und Sitzungsprotokolle. Klett-Cotta, Stuttgardt, 12. Auflage, Übersetzung von Ross M, 2013.
9. Bamelis LLM et al.: Results of a Multicenter Randomized Controlled Trial of the Clinical Effectiveness of Schema Therapy for Personality Disorders. Am J Psychiatry 171, 305–322, 2014.
10. Renner F et al.: Treatment for Chronic Depression Using Schema Therapy. Clinical Psychology: Science and Practice, 20, 166–180, 2013.
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