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EDITORIAL
Depression: Fortschritte mangels Lobby nicht vorenthalten
U nser aller Anstrengungen sind gefordert, um die immer noch unzureichenden Erfolge in der Therapie depressiver Erkrankungen, zu denen als Risikozustand auch das Burn-out gerechnet werden kann, verbessern zu können. Heute erhalten lediglich 10 Prozent der an einer Depression Erkrankten eine adäquate, das heisst wissenschaftlich abgesicherte Behandlung – ein bei jeder anderen Erkrankung undenkbarer und inakzeptabler Zustand. Dies bedeutet, dass neben der Entwicklung neuer oder verbesserter Therapieverfahren auch die Breite der bereits vorhandenen Möglichkeiten konsequent ausgeschöpft werden muss. Dies sind neben Medikamenten und evidenzbasierter – das heisst in ihrer Wirkung wissenschaftlich belegten – Psychotherapie beispielsweise auch die Methoden der Ergo- und Arbeitstherapie, der Sport- und Bewegungstherapie sowie der Neuropsychologie. Noch immer stehen sie selbst in Kliniken zu wenigen Patienten ausreichend zur Verfügung. So waren kognitive Defizite im Rahmen der Depressionsbehandlung ein lange Zeit unterschätztes Thema – doch gerade diese Defizite beeinträchtigen die berufliche Wiedereingliederung oder die Alltagsbewältigung erheblich. Eine frühzeitige und spezifische Erfassung und Verbesserung kognitiver Einschränkungen stellt daher eine wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige, erfolgreiche Behandlung der Depression dar und darf den Betroffenen nicht vorenthalten werden. Von sehr grosser Bedeutung ist darüber hinaus, die diagnostischen Möglichkeiten deutlich zu verbessern, denn die sorgfältige Diagnostik ist die Grundlage der zielgerichteten Therapie. Was heute unter dem breiten Überbegriff «Depression» durch Konsensuskriterien in ICD-10 und DSM-5 grob zusammengefasst wird, sind in der Realität eine Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen mit unterschiedlichen Ursachen. Diese Erkrankungen haben lediglich das heute so bezeichnete Symptombild «Depression» als vermeintlich gleich aussehendes Endstadium gemeinsam. Erst durch die konsequente Anwendung der vielfältigen und heute
möglichen Methodik der personalisierten Medizin kann es gelingen, die bisherige, vor allem auf Beobachtung und verbal kommunizierter Information beruhende Diagnostik durch präzise und objektivierbare Befunde zu ergänzen. Durch molekularbiologische Gentests und Messungen der Genaktivität, labordiagnostische Biomarker, Schlaf-EEG oder kernspintomografische Bildgebung wird es möglich sein, die heute unter dem Begriff «Depression» pauschal zusammengefassten Patienten bezüglich ihrer individuell krankheitsauslösenden Mechanismen in unterschiedlich zu behandelnde Untergruppen einzuteilen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass unseren Patienten mangels Lobby medizinischer Fortschritt vorenthalten wird, während nahezu täglich über erfreuliche und spektakuläre Erfolge in der Behandlung onkologischer Erkrankungen berichtet und ökonomisch debattiert wird. Vieles stünde depressiven Patienten heute schon mit vertretbarem Aufwand zur Verfügung: Das Schlaf-EEG, welches eine Vielzahl an Parametern bietet, oder die Bestimmung der Aktivität der BlutHirn-Schranke, welche darüber entscheidet, ob Medikamente überhaupt in das Gehirn vordringen können, sind nur zwei Beispiele.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. G
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Martin E. Keck Direktor der Klinik und Chefarzt
Max-Planck-Institut für Psychiatrie 80804 München
E-Mail: keck@psych.mpg.de
Themenverweis: G Amyotrophe Lateralsklerose (ALS):
Die Diagnose ALS stellt in der Frühphase der Erkrankung eine Herausforderung dar. Neben der Progressions-verlangsamenden Therapie mit Riluzol liegt der Fokus auf der symptomatischen Behandlung von Schluckstörungen, Krämpfen, pathologisch gesteigertem Speichelfluss, Laryngospasmen und der respiratorischen Insuffizienz. Seite 22.
3/2015
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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