Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Arsenicum: Eiskalt
Kollege T. schicke ich alle Kinder zur Tonsillektomie, weil er gut operiert, ein netter alter Arzt mit Samichlausbart ist, den die Kinder lieben, und weil er postoperativ Vanilleglace und Kaugummi verordnet. Vor vierzig Jahren war das evidenzbasiert: Glace kühlt, nimmt den Schmerz, beugt Ödemen und Nachblutungen vor, und Kaugummikauen sorgt für Speichelfluss und elastische Narben. Doch Arbeiten mit Titeln wie «The impact of ice-cream and chewinggum on postoperative results of tonsillectomy» oder «Psychological trauma by therapeutic procedures – will ice-cream and chewing-gum reduce it?» sind sicher schon überholt und Glace als schädlich erkannt. Dass Pillen nicht bitter schmecken dürfen, hat die Pharmaindustrie längst erkannt und bietet Antibiotika- und andere Sirups in leckeren Geschmacksrichtungen an. Vorbei sind die Zeiten, als Kinder mit Lebertran gequält wurden. Heutzutage maulen die Kleinen und ihre Eltern, wenn das -cillin nicht nach Erdbeeren, sondern nach Bananen schmeckt und verweigern trotz 40 °C Fieber die Einnahme. Hingegen muss man beim codeinhaltigen Hustensirup mit dem leckeren Caramelgeschmack seinen kleinen Patientinnen und Patienten und ihren Erziehungsberechtigten sehr klar machen, was die Höchstdosis ist. Anderenfalls kommen heiter zugedröhnte Huster in die Praxis und verlangen nach mehr Rezepten für «Hustensaft». Falls sie nicht schon vom Apotheker auf rezeptfrei erhältliches Zeug hingewiesen wurden … Der Mensch möchte Substanzen einnehmen, die angenehme Gefühle erzeugen. Leider hat das oft
unangenehme gesundheitliche Konsequenzen. Meine Generation wurde von klein auf auf Zahngesundheit getrimmt. Bereits im Kindergarten erhielt ich eine prachtvolle Schatulle mit Gratiszahnbürste. Und einer Tube Zahnpasta mit Erdbeeraroma, die ich auf dem Nachhauseweg leerlutschte. Wir wurden von wunderschönen Zahnhygienikerinnen in Zahnpflege instruiert. Halbjährlich war der Besuch bei Zahnarzt Dr. Wagner Pflicht, einem Strahlemann mit psychologischer Ausbildung, der Kinder auf dem Zahnarztstuhl rauf- und runterfahren und sich im Kreise drehen liess, bevor er die Sonde zur Hand nahm und nachher, auch wenn er nicht bohren musste, Stofftierchen verschenkte. Didaktische Werke wie «Karies und Baktus» wurden mir in Buchform, meinen Kindern als Hörspiel vorgesetzt. Das Wasser war zwangsfluoridiert, und als es das nicht mehr war, wurden Fluorsalz, -tabletten und Zahnpasten propagiert. Statt Süssigkeiten und Carbs gab es in meinem Elternhaus nur Gesundes zu essen, dreimal täglich, danach Zähneputzen unter Aufsicht. Das Umfeld war instruiert, den Kindern nichts Süsses zu geben, und als folgsamer Bub lehnte ich solche Versuchungen sowieso selbst ab. Dass mein Gebiss trotzdem kariesverrottet ist, erklärte mir ein Dentalinfektiologe erst nach entbehrungsreichen Jahrzehnten der Süssigkeitsabstinenz mit dem ersten Kuss meiner Mutter, bei dem sie ihre aggressive Mundflora auf mich übertragen habe. Die Zahnsubstanz all meiner Vorfahren sei zudem genetisch bedingt minderwertig und weich. Daher investiere ich Unsummen in meine
zahnärztliche Behandlung, aber esse inzwischen genüsslich Süsses. Meine Frau tut dies seit je, spült das süsse Zeug mit Unmengen von Limonade hinunter, putzt nur gelegentlich die Zähne, die bis heute strahlend weiss, paradontose- und kariesfrei sind. Die Welt ist ungerecht. Chancengleichheit gibt es kaum. Ein kleiner Trost ist Süsses. Gönnen wir uns das! Der Sommer fing mit Rhabarbertörtchen unter Baiserhaube an, ging mit Coupe Romanow weiter (Doppelportion Rahm drauf, stark gesüsst, über Bourbon-VanilleGlace und Thurgauer Erdbeeren), dann flambierte Himbeeren auf caramelisierter Blätterteigtarte und täglich locken Glaces. Inzwischen habe ich das dritte Modell einer Eismaschine. Neben konventionellen Kalorienbomben wie Bananasplit mit drei Toppings und Doppelrahm-Softeis kann man damit Lavendel-Granité und Holderblütensirup-Sorbet zubereiten. Keine italienische Eisdiele und kein Kiosk bleiben von mir verschont. Raketen mag man auch noch nach einem üppigen Essen – und finanziell sowieso. Meinen roten Bruder «Winnetou» habe ich zum Fressen gern. Schoggicornets, Möwenpick-Waffeln, Cassata – herrlich. Der einzige Adlige, den ich schätze, ist Fürst Pückler. Doch über einem Coupe Nesselrode «mit alles» – Rahm, Extranüsse und 40-prozentiger Kirsch – gestand mir ORL-Arzt Dr. T. jetzt, dass er seit Jahren Eis postoperativ ausschliesslich äusserlich in Form von Eiskrawatten einsetzt. Auf diesen Schreck hin musste ich mir ein Magnum genehmigen, welches mir «Leck mich doch!» suggerierte.
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ARS MEDICI 13 I 2015