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Im Fokus: Kolorektalkarzinom
Adjuvante Therapie des Kolonund Rektumkarzinoms
Klinische Studien zum differenzierten Vorgehen
Bei kolorektalen Tumoren im Stadium III verlängert eine adjuvante Chemotherapie das Überleben. Weiterhin unklar ist jedoch der Stellenwert einer adjuvanten Behandlung bei Patienten im Stadium II. Die Behandlung des Rektumkarzinoms zielt zudem auf eine lokoregionäre, lebensqualitätsrelevante Tumorkontrolle, für die eine spezielle chirurgische Technik und bei lokal fortgeschrittenen Tumoren auch eine Strahlentherapie notwendig ist. Dieser Artikel setzt einen Schwerpunkt auf die aktuellen Entwicklungen und gibt einen evidenzbasierten Überblick zu den verschiedenen Behandlungsoptionen.
DIETER KÖBERLE
Ziel jeder kurativen Therapie ist die Heilung oder zumindest die Verlängerung des krankheitsfreien Überlebens. Nach kompletter Resektion der sichtbaren Tumoranteile hängt folglich das Schicksal jedes Tumorpatienten davon ab, ob residuelle Tumorzellen ausserhalb des Operationsgebietes verbleiben, welche ohne weitere medizinische Intervention zum Rezidiv führen können. Konzeptionell betrachtet zielt eine adjuvante Therapie auf eine Eradikation aller Tumorzellen und damit auf eine Verbesserung der Heilungschance. Trotz verbesserter diagnostischer Möglichkeiten können derzeit noch nicht diejenigen Patienten identifiziert werden, bei welchen eine klinisch relevante Mikrometastasierung vorliegt. Aus diesem Grund werden prognostische Faktoren zur Risikostratifizierung herangezogen, welche mit der Wahrscheinlichkeit einer Mikrometastasierung zum Zeitpunkt der Tumorresektion korrelieren. Der wichtigste behandlungsunabhängige Prognosefaktor bei kolorektalen Tumoren ist das Tumorstadium. Tumoren im Stadium I sind auf die Mukosa und Submukosa beschränkt, weisen keine Besiedlung der lokoregionären Lymphknoten auf und haben eine Heilungsrate von 90 Prozent mit alleiniger Operation. In den höheren Tumorstadien, in welcher der Tumor entweder die ganze Darmwand penetriert (Stadium II), oder die mit einer Infiltration der lokoregionären Lymphknoten einhergehen (Stadium III), besteht ein substanziell höheres Risiko für
das Vorliegen einer okkulten Mikrometastasierung, weswegen eine adjuvante Behandlung grundsätzlich in Betracht gezogen werden muss. Neben der Verbesserung des metastasenfreien Überlebens zielt die Behandlung des Rektumkarzinoms auch auf eine prognose- und lebensqualitätsrelevante, lokoregionale Tumorkontrolle, was eine spezielle chirurgische Technik und bei lokal fortgeschrittenen Tumoren auch eine Strahlentherapie notwendig macht. Das Rektum reicht von der Linea dentata aus mit dem starren Rektoskop gemessen bis in eine Höhe von 12 cm, entsprechend etwa 16 cm ab Anokutanlinie. Anatomisch gesehen besteht keine scharfe Grenze am Übergang des Rektums zum Sigma, und auch die Höhe der peritonealen Umschlagfalte variiert erheblich, weshalb sie nicht als sicheres Unterscheidungsmerkmal herangezogen werden sollte.
Kolonkarzinom
Der Stellenwert einer adjuvanten Chemotherapie nach R0-Resektion eines Kolonkarzinoms im Stadium III ist durch viele Studien abgesichert.
Adjuvanz im Stadium III In der NSABP-C01-Studie (1) konnte erstmals ein Überlebensvorteil einer adjuvanten Chemotherapie nachgewiesen werden. Die NCCTG (North Central Cancer Treatment Group) randomisierte 401 Patienten mit Kolonkarzinom im Stadium II und III in einen
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ersten Behandlungsarm mit 5-FU und Levamisol über zwölf Monate, einen zweiten mit zwölf Monaten Levamisol allein, sowie in einen Beobachtungsarm (2). Die 5-FU/Levamisol-Behandlungsgruppe wies eine statistisch signifikant verminderte Rezidivrate sowie ein verbessertes Überleben bei Patienten im Stadium III auf. Die Intergroup-0035-Studie (3) konnte diese Erkenntnisse reproduzieren. Nach einer medianen Beobachtungszeit von 6,5 Jahren konnten bei Patienten im Stadium III sowohl das krankheitsfreie Überleben (61% vs. 44%) als auch das Gesamtüberleben (60% vs. 47%) signifikant durch eine 5FU/Levamisol-Behandlung während zwölf Monaten verbessert werden gegenüber der Strategie, keine adjuvante Therapie einzusetzen. Weder in der NCCTG noch in der INT-0035-Studie fand sich dagegen ein Überlebensvorteil für Patienten im Stadium II. Basierend auf diesen Studienergebnissen definierte die Konsensuskonferenz des National Cancer Institute (NCI) der USA 1990 eine adjuvante Chemotherapie mit 5-FU und Levamisol als Standardbehandlung bei Patienten im Stadium III (4). Viele nationale Fachgesellschaften übernahmen diese Therapieempfehlung. Weitere Studienresultate untermauerten den Vorteil einer adjuvanten 5-FU-basierten Chemotherapie bei Patienten im Stadium III. Bezogen auf das Gesamtüberleben nach fünf Jahren beträgt die absolute Risikoreduktion von Rezidiven etwa 9 Prozent (5–14%), die relative Risikoreduktion etwa 30 Prozent (17–40%).
Levamisol- und Leukovorin-Kombinationen Die Wirksamkeit von Levamisol als Teil einer adjuvanten Behandlung muss retrospektiv betrachtet bezweifelt werden. Es erscheint möglich, dass die beschriebenen Therapieeffekte der LevamisolStudien vorwiegend durch eine adäquate Behandlung mit 5-FU erreicht wurden. In den letzten zehn Jahren wurde, gestützt auf die Resultate von fünf randomisierten Studien (INT 89-4651, INT 0089, NSABP C-04, adjCCA-01, FOGT-1), Levamisol durch Leukovorin ersetzt (5–9). In der grössten dieser Studien (Intergroup-0089) zeigte sich eine äquivalente Wirksamkeit einer 5-FU-Behandlung über sechs Monate kombiniert mit
tief- oder hochdosiertem Leukovorin, verglichen mit einer einjährigen Behandlung mit 5-FU und Levamisol (6). Die Zugabe von Levamisol zu einer Behandlung mit 5-FU und Leukovorin erbrachte in dieser Studie keinen Überlebensgewinn. Zudem fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen tief- und hochdosiertem Leukovorin und auch kein Vorteil der einjährigen Behandlung gegenüber einer Chemotherapie über sechs Monate. Die 2000 publizierte Quick-and-Simple-andReliable-Studie (QUASAR) bestätigte diese Beobachtungen mit einer grossen Patientenzahl (10). Eine potenziell wirksamer eingeschätzte Behandlung mit einem 5-FU-Infusionsregime (De-Gramont-Schema, oder mit kontinuierlicher 5-FU-Therapie über mehrere Tage) konnte in drei Studien (11–13) keine Verbesserung des rezidivfreien oder des Gesamt-Überlebens gegenüber einer 5-FU-Bolusgabe gemäss Mayo-Regime nachweisen. Kontinuierliche 5-FU-Regime haben jedoch den Vorteil einer verbesserten Verträglichkeit (weniger schwere Neutropenien, Stomatitis und Diarrhö); sie erfordern aber die Implantation eines venösen Kathetersystems. Eine mögliche Alternative stellt die Behandlung mit einem oralen Fluoropyrimidin dar.
Neueste Chemotherapien In naher Zukunft werden erste Resultate aus randomisierten Studien erwartet, in denen UFT oder Capecitabine mit einem Bolus-5-FU-Regime verglichen werden. Nachdem zahlreiche Studien einen klaren Wirksamkeitsvorteil von 5-FU-basierten Kombinationschemotherapien mit CPT-11 oder Oxaliplatin gegenüber einer alleinigen 5-FU-Therapie in der metastasierten Situation nachgewiesen haben, werden verschiedene dieser Regime auch in der adjuvanten Behandlung geprüft. Letztes Jahr wurden am Jahreskongress der amerikanischen Onkologiegesellschaft (ASCO) frühe Resultate der MOSAIC-Studie (Multicenter International Study of Oxaliplatin/5-FU-LV in the Adjuvant Treatment of Colon Cancer) vorgestellt. In diese Studie wurden Patienten im Stadium II (40%) und Stadium III (60%) eingeschlossen und mit einem De-Gramont-Schema entweder mit oder ohne Oxaliplatin über sechs Monate behandelt (14). Das krankheitsfreie Überleben
nach drei Jahren war bei der Intentionto-treat-Analyse im Studienarm mit Oxaliplatin signifikant höher (77,8% vs. 72,9%). Ein Trend für eine verbesserte Wirksamkeit der Kombinationschemotherapie fand sich auch bei den Patienten im Stadium II (86,6% vs. 83,9%). Neben einer deutlich gesteigerten Hämatotoxizität trat jedoch bei nahezu allen Patienten eine peripher sensorische Neuropathie auf. Obgleich Hinweise auf eine partielle Reversibilität dieser mitunter zu schweren funktionellen Einschränkungen führenden Neuropathie vorliegen, sollten Langzeitergebnisse bezüglich der chronischen Neuropathien und dem Einfluss auf das Gesamtüberleben abgewartet werden, bevor eine abschliessende Bewertung vorgenommen wird. Die Rolle von CPT-11 in der adjuvanten Therapie wird in zwei randomisierten Studien untersucht (Cancer-andLeukemia-Group-B-C89803-Studie und der Pan European Trial in Adjuvant Colon Cancer-3 [PETACC-3]). Für beide Studien liegen noch keine Ergebnisse vor.
Adjuvanz im Stadium II Die Wirksamkeit einer adjuvanten Chemotherapie bei Patienten mit Kolonkarzinom im Stadium II ist weiterhin umstritten. In den meisten Studien wurde eine zu geringe Anzahl entsprechender Patienten eingeschlossen, als dass ein moderater Unterschied mit statistischer Wahrscheinlichkeit hätte festgestellt werden können. Zwei Sammelauswertungen von jeweils mehreren Studien (IMPACT-B2-Analyse mit 5 Studien [15] sowie eine Analyse von 4 NSABP-Studien [16]) kamen zu inkongruenten Schlussfolgerungen. Aufgrund der kontroversen Studienergebnisse und eines allenfalls geringen absoluten Überlebensvorteils kann keine allgemeine Therapieempfehlung vertreten werden. Die individuelle Risikostratifizierung sollte deshalb unter Einbezug von ungünstigen Prognosefaktoren wie Darmobstruktion und -perforation, T4-Tumoren, venöser Invasion oder geringer Differenzierung erfolgen. Bislang konnte jedoch in randomisierten Studien nicht nachgewiesen werden, dass diese «Hochrisikopatienten» im Stadium II von einer adjuvanten Chemotherapie mehr profitieren als «Durchschnittsrisikopatienten».
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Behandlungsprotokolle Die am häufigsten gebrauchten Behandlungsprotokolle sind das Mayo-Schema (6 Zyklen mit 20 mg/m2 Leukovorin, gefolgt von 370–425 mg/m2 5-FU als Bolusinjektion über 5 aufeinander folgende Tage alle 4 bis 5 Wochen), das RoswellPark-Regime (4 Zyklen à 6 Gaben von 500 mg/m2 5-FU und Leukovorin 500 mg/m2 im wöchentlichen Abstand, gefolgt von 2 Wochen Therapiepause) sowie das De-Gramont-Regime (200 mg/m2 Leukovorin, dannach 400 mg/m2 5-FU Bolusinjektion, gefolgt von einer kontinuierlichen Infusion mit 600 mg/m2 5-FU über 22 Stunden am ersten und zweiten Tag, alle 2 Wochen für 6 Monate). Die Chemotherapie sollte innerhalb der sechsten bis achten postoperativen Woche begonnen werden. Für einen späteren Therapiebeginn liegen keine Daten vor.
Therapie bei älteren Patienten Hohes Lebensalter der Patienten stellt per se keine Kontraindikation für eine adjuvante Chemotherapie dar, wenngleich schwere Begleiterkrankungen in die individuell zu treffende Therapieentscheidung einbezogen werden müssen. Eine gepoolte Auswertung von sieben randomisierten Studien (17) zeigt vergleichbare Ergebnisse bei Patienten über und unter 70 Jahren. Abgesehen von einer erhöhten Hämatotoxizität in einer Studie ist gemäss dieser Sammelauswertung keine erhöhte Nebenwirkungsrate bei diesen älteren, allerdings gut ausgewählten Studienteilnehmern festgestellt worden. Bei Patienten mit erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen wird grundsätzlich zu einer engmaschigen klinischen Kontrolle geraten, um beispielsweise bei Auftreten einer Exsikkose frühzeitig eine adäquate Supportivtherapie einleiten zu können.
Rektumkarzinom
Eine mit korrekter Technik durchgeführte, kurativ intendierte Operation ist der wichtigste Prognosefaktor beim Rektumkarzinom. In den letzten Jahren konnte dank verbesserter chirurgischer Techniken, insbesondere der Einführung der totalen Entfernung des Mesorektums (TME), die Lokalrezidivrate von (bis zu) 40 Prozent auf 10 Prozent, teilweise
sogar noch tiefer, abgesenkt werden (18). Dennoch ist die Langzeitprognose bei Patienten mit lokal fortgeschrittenen Tumoren oder/und Befall der lokoregionären Lymphknoten mit einem FünfJahresüberleben zwischen 35 und 70 Prozent schlecht, weswegen eine allgemeine Empfehlung für adjuvante Therapiemassnahmen bei Tumoren im Stadium II und III besteht. Die Wirksamkeit der Radiotherapie hinsichtlich der Verhinderung von Lokalrezidiven ist durch zahlreiche Studien belegt. Die unbefriedigende lokale Tumorkontrolle in der Ära vor der systematischen Einführung der TME-Technik hat zu einer Reihe von Studien geführt, welche den Stellenwert einer prä- oder postoperativen Radio(chemo)therapie untersuchten.
Postoperative Radiochemo- und Chemotherapie Die Anwendung einer adjuvanten Chemotherapie bei Patienten mit Rektumkarzinom im Stadium III führt gegenüber einer alleinigen Operation zu einem verbesserten Überleben. Obwohl eine postoperative Radiochemotherapie verglichen mit alleiniger Operation oder Radiotherapie einen Überlebensvorteil zeigte, konnte kein diesbezüglicher Vorteil gegenüber einer alleinigen adjuvanten Chemotherapie nachgewiesen werden. Dennoch empfahl die Konsensuskonferenz des NCI 1990, basierend auf den Resultaten von drei Studien (GITSG 7175, NCCTG 79-47-51 und NSABP R-01[19-21]), eine postoperative Radiochemotherapie sowie eine insgesamt sechsmonatige Monotherapie mit Bolus-5-FU als Behandlungsstandard für kurativ resezierte Patienten im Stadium II und III (4). Dieses Schema (auch als KrookMoertel-Schema bekannt) wurde auch in Europa als bevorzugte Behandlung akzeptiert. Als Alternative zur 5-FU-Bolustherapie während der Bestrahlung kann auch eine kontinuierliche 5-FUGabe (225 mg/m2) angewendet werden. Diese Applikationsform erwies sich in einer Studie gegenüber einer Bolusgabe hinsichtlich des rezidivfreien Überlebens und des Gesamtüberlebens als klar überlegen (22). Die Zugabe von Levamisol oder Leukovorin erbrachte keinen signifikanten Vorteil gegenüber einer alleini-
gen 5-FU-Bolusgabe in der INT-0114-Studie (23).
Alleinige Radiotherapie Der Wert einer postoperativen Radiotherapie wurde in einer kürzlich publizierten Metaanalyse (24) untersucht. Basierend auf den Daten von acht Studien, respektive von 2157 Patienten, reduziert eine Bestrahlung die jährliche Sterberate, verglichen mit Patienten, welche keine Radiotherapie erhielten, um 4,6 Prozent. Obwohl die Gesamtrezidivrate nach fünf Jahren nicht unterschiedlich war, fand sich eine signifikant tiefere Rate an lokalen Rezidiven (15,9% vs. 22,9%). Wie oben ausgeführt ist jedoch eine alleinige postoperative Radiotherapie einer postoperativen Radiochemotherapie eindeutig unterlegen. Aufsehen erregten die Ergebnisse des Swedish Rectal Cancer Trials (25). In dieser Studie wurden 1168 Patienten mit resektablen Rektumtumoren entweder in einen Behandlungsarm mit präoperativer Radiotherapie (25 Gy in 5 Fraktionen, gefolgt von der Operation innerhalb einer Woche) oder in alleinige Operation randomisiert. Die Radiotherapie führte sowohl zu einer signifikant tieferen Lokalrezidivrate (12% vs. 27%) als auch zu einem verbesserten Überleben (58% vs. 48%) und unterstützt damit das Paradigma, dass das Überleben beim Rektumkarzinom durch eine verbesserte lokale Kontrolle beeinflusst wird. Trotz dieser ausgezeichneten Resultate wird das 5-x-5-Gy-Kurzzeitschema aus folgenden Gründen nur vereinzelt angewendet: Die kurze Zeitspanne zwischen Bestrahlungsende und Operation ermöglicht keine Tumorverkleinerung und erhöht somit nicht die Rate der sphinktererhaltenden Operationen bei tiefsitzenden Tumoren. Auch scheinen die peri- und postoperative Morbidität erhöht. Das Konzept dieser präoperativen Kurzzeitbestrahlung wurde auch in einer grossen randomisierten Studie bei Patienten angewendet, welche eine Radiotherapie, gefolgt von einer TME, oder eine TME allein erhielten (26). Obgleich in den ersten zwei Jahren kein Einfluss auf die Rate der Fernmetastasen oder des Überlebens beobachtet wurde, konnte die ohnehin geringe Zahl von Lokalrezidiven von 8,2 auf 2,4 Prozent
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weiter abgesenkt werden. Interessanterweise fand sich in der Subgruppenanalyse für Patienten mit hochsitzenden Tumoren (im oberen Rektumdrittel) kein signifikanter Vorteil der Radiotherapie. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich diese Behandlung in den Alltag integrieren wird. Ein indirekter Wirksamkeitsvergleich mit einer präoperativen Radiochemotherapie ist auf jeden Fall nicht möglich, da bei der Kurzzeitradiotherapiestudie Patienten mit T1/3-Tumoren eingeschlossen wurden und die kombinierte Behandlung üblicherweise Patienten mit T3/4-Tumoren vorbehalten ist. Am Kantonsspital St. Gallen stellen wir die Indikation für eine Kurzzeitbestrahlung nur bei Patienten, welche sich aufgrund von Komorbiditäten nicht für eine neoadjuvante Radiochemotherapie qualifizieren.
Präoperative Radiochemotherapie Die Anwendung einer präoperativen Radiotherapie oder Radiochemotherapie ist streng genommen für Patienten mit lokal fortgeschrittenen Tumoren reserviert, bei welchen eine kurative Resektion aufgrund einer vermuteten Infiltration des lateralen («circumferential») Resektionsrandes unsicher erscheint. Eine weitere Indikation besteht bei tiefsitzenden Rektumtumoren, um die Chance auf eine kontinenzerhaltende Operation zu vergrössern. Einen grossen Stellenwert haben dabei die präinterventionellen lokalen Staginguntersuchungen (endorektale Ultraschalluntersuchung, MRI) zur bestmöglichen Klassifizierung des Primärtumors und des Lymphknotenstatus. Ziel einer präoperativen Radiochemotherapie ist es, eine Tumorverkleinerung («downsizing») zu erreichen, wodurch eine R0-Resektion und/oder ein Erhalt des Sphinkterapparats mit höherer Wahrscheinlichkeit möglich werden. Minsky et al. (27) verglichen eine präoperative Radiotherapie mit einer Radiotherapie in Kombination mit 5-FU/Leukovorin und konnten damit bei über 90 Prozent der Patienten mit primär inoperablen Tumoren eine Resektabiliät erreichen, verglichen mit 64 Prozent, welche eine alleinige Radiotherapie erhielten. Zahlreiche Phase-II-Studien bestätigten eine hohe Rate an kompletten Resektionen und eine komplette pathologische Remissionsrate von bis zu 20 Prozent. Um eine
Tabelle: Potenzielle Vor- und Nachteile der präoperativen und postoperativen Radiochemotherapie
Präoperative Radiochemotherapie
Pro ▲ Kleinere Radiotherapiefelder ▲ Geringere Dünndarmtoxizität ▲ Downstaging und damit erhöhte Aussicht
auf Sphinktererhalt und R0-Resektion ▲ Reduzierte Gefahr von intraoperativer
Tumorzellverschleppung ▲ Höhere Tumoroxygenierung und damit
besseres Ansprechen auf Radio- und
Chemotherapie
Postoperative Radiochemotherapie
Pro ▲ Definiertes Tumorstadium ▲ Sofortige Operation möglich ▲ Inkludiert üblicherweise eine ausreichend lange
Systemtherapie mit 5-FU
Kontra ▲ Evtl. Überbehandlung von T3-N0-Tumoren ▲ Unklare Situation betr. adjuvanter Chemo-
therapie bei pN0-Status
Kontra ▲ Grössere Volumina ▲ Höhere Dünndarmtoxizität ▲ Höhere Stenoserate im Anastomosengebiet
Abbildung:
Operation
5-FU 5 x 1000 mg/m2 kont. Infusion
Radiotherapie 50,4 Gy + 5,4 Gy
4 Zyklen adjuvante Chemotherapie mit 5-FU (5 x 500 mg/m2)
RANDOMISIERUNG
5-FU 5 x 1000 mg/m2 kont. Infusion
Radiotherapie 50,4 Gy
Operation
4 Zyklen adjuvante Chemotherapie mit 5-FU (5 x 500 mg/m2)
gute Tumorregression zu erreichen, muss jedoch ein ausreichend langes Intervall von vier bis sechs Wochen zwischen Radiotherapieabschluss und Operation eingehalten werden. Neuere Therapieansätze zielen auf ein verbessertes Tumoransprechens durch Kombination von mehreren Zytostatika mit radiosensitisierendem Effekt. Auch in der Schweiz ist eine präoperative Multizenterstudie in Planung, welche eine Kombinationschemotherapie mit Capecitabin plus wöchentliche Oxaliplatin-Gaben in Verbindung mit einer 45-Gy-Radiotherapie prüfen soll. Die beste Therapie bei Patienten mit primär resektablem Rektumkarzinom im Stadium II und III ist zurzeit noch nicht abschliessend definiert. Viele europäische Zentren behandeln diese Patienten ebenfalls mit präoperativer Radiochemotherapie, zumeist mit 25-mal 1,8 Gy Radiotherapie über fünf Wochen in Kom-
bination mit einer kontinuierlichen 5-FUDauerinfusion von 250 mg/m2/Tag an allen Bestrahlungstagen. Nachdem zwei randomisierte amerikanische Studien (INT-0147 und NSABP R-03) wegen zu geringer Rekrutierung keine Antwort auf die Frage liefern konnten, ob eine präoperative einer postoperativen Radiochemotherapie zumindest gleichwertig ist, weisen erste Resultate der deutschen Gemeinschaftsstudie der CAO/ARO/AIO-94 (Abbildung) auf eine vergleichbare Wirksamkeit hin (28). Zwischen dem prä- und postoperativen Therapiearm zeigte sich kein signifikanter Unterschied im krankheitsfreien und im Gesamt-Überleben nach fünf Jahren (55% vs. 59% und 73% vs. 78%). Ein signifikanter Vorteil für die präoperative Behandlung konnte hingegen bezogen auf eine verminderte lokoregionäre Rezidivrate (7% vs. 11%), die Zahl von notwendigen Rektumexstirpa-
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tionen bei tiefsitzenden Tumoren und auch bezüglich «downsizing» in ein tieferes UICC-Stadium nachgewiesen werden. Die Toxizität beider Behandlungen war vergleichbar, ausser einer höheren Stenoserate im Anastomosenbereich nach postoperativer Radiochemotherapie. Richtungsweisend werden auch die Resultate der vierarmigen EORTC-Studie 22921 sein, in der alle Patienten eine präoperative Radiotherapie mit 45 Gy erhalten. Geprüft wird, ob eine präoperative Radiochemotherapie, optional in Verbindung mit einer postoperativen Chemotherapie, oder eine Kombination beider Therapien einen Vorteil gegenüber einer alleinigen präoperativen Radiotherapie hat. Zwischenzeitlich scheint bei diesen Patienten eine präoperative Radiochemotherapie eine valide Alternative zu einer postoperativen kombinierten Behandlung zu sein, wenngleich letztere in den meisten Schemata auch eine adjuvante Chemotherapie inkludiert. Aus diesem Grund empfehlen wir allen Patienten mit endosonografischem Verdacht auf einen lokalen Lymphknotenbefall bei Diagnosestellung (trotz möglicher Überbehandlung von Patienten mit falsch-positiv beurteiltem Lymphknotenstatus), welche präoperativ eine Radiochemotherapie erhalten, eine postoperative Chemotherapie über vier Monate. Dieses Vorgehen erfolgt in Analogie zur üblichen Behandlungsdauer einer adjuvanten Chemo-
therapie von sechs Monaten und dem präoperativen Behandlungsarm der CAO/ARO/AIO-94-Studie. Wie auch beim Kolonkarzinom gilt, dass ein höheres Lebensalter bei fehlenden relevanten Komorbiditätsfaktoren keine Kontraindikation für eine neoadjuvante oder adjuvante Radiochemotherapie darstellt. ▲
Dr. med. Dieter Köberle Fachbereich Onkologie/Hämatologie
Departement Innere Medizin Kantonsspital St. Gallen 9007 St. Gallen
E-Mail: dieter.koeberle@kssg.ch
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