Transkript
SCHWERPUNKT
Die schmerzhafte Miktion
Differenzialdiagnose und Therapie bei interstitieller Zystitis
Eine schmerzhafte Miktion ist immer pathologisch und kann durch akute oder chronische Infekte der Blase und des äusseren Genitales verursacht werden. Zur Abklärung gehören Anamnese, Untersuchung, Mittelstrahl- oder Katheterurin, Miktionstagebuch, Urodynamik und Zystoskopie gegebenenfalls in Narkose. Die Therapie der interstitiellen Zystitis ist komplex und meist langwierig. Ein interdisziplinärer Therapieapproach erhöht die Therapieoptionen und ermöglicht eine ganzheitliche Betreuung der Patientin.
ANNETTE KUHN
Eine schmerzhafte Miktion ist niemals physiologisch und kann durch einen akuten Harnwegsinfekt, akute Harnretention, Tumoren, Tuberkulose oder Fremdkörper der Blase, Lageveränderungen der pelvinen Organe oder eine interstitielle Zystitis verursacht werden. Auch das Urethralsyndrom kann eine schmerzhafte Miktion beinhalten. Bei Status nach Auslandaufenthalten muss auch an eine Schistosomiasis gedacht werden, die einen speziellen Parasitenachweis erfordert. Vor allem auf die interstitielle Zystitis (IC) soll im folgenden Artikel eingegangen werden, weil sie für die Patientinnen oft einen langen Leidensweg bedeutet. Zudem werden diese oft schon als psychosomatisch eingereiht, weil der Urinstatus und oft auch die konventionelle Zystoskopie unauffällig sind, die Patientinnen aber einen erheblichen Leidensdruck haben.
Initiale Abklärungen
Zur primären Diagnostik gehören eine Anamnese, eine gynäkologische Untersuchung und die Untersuchung eines Mittelstrahl- oder Katheterurins. Werden in der Urinprobe Plattenepithelien gefunden, besteht eine genitale Verunreinigung; diese Urine sind nicht aussagekräftig. Besonders adipöse Frauen, solche mit sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten und gelegentlich ältere Patientinnen haben oft Mühe, einen korrekten Mittelstrahlurin zu produzieren; in diesen Fällen ist die Urinentnahme mittels Einmalkatheter gerechtfertigt. Der Einmalkatherismus ist wenig invasiv und spart letztlich Zeit und Geld, die für nicht verwertbare Urinstatus ausgegeben werden. Frauen mit ■ unauffälligem Urinstatus und -kult ■ einer langen Anamnese von Reizblasenbeschwer-
den ■ schmerzhafter Miktion und Nykturie ■ unauffälligem gynäkologischen Befund, aber ohne auffälligen Urinbefund und ohne Restharn
sollten einen Miktionskalender ausfüllen. Dieser gibt Aufschluss über die funktionelle Harnblasenkapazität und das Ausmass des Problems. Eine Urodynamik dokumentiert die Blasenkapazität, gibt Aufschluss über die Compliance der Harnblase und kann bereits bei Schmerzen während der Füllphase oder der Druckflussstudie einen Hinweis für die Diagnose geben.
Interstitielle Zystitis
Bei kleiner Harnblasenkapazität, häufigen und schmerzhaften Miktionen sowie bei einer solchen lang dauernden Anamnese liegt der Verdacht auf eine interstitielle Zystitis nahe. Bei der interstitiellen Zystitis (painful bladder syndrome, IC/PBS) liegt eine chronische Entzündung der Blasenwand vor, die durch eine schmerzhafte Miktion und eine Vielzahl von Harnspeicherstörungen charakterisiert ist. Die multifaktorielle Ätiologie, unklare Pathogenese und die wechselnden Diagnosekriterien machen eine Auswertung der Studienergebnisse schwierig. Dies führt dazu, dass die meisten Therapieempfehlungen auf empirischen Daten basieren (1). Wie wir am letzten Kongress der International Continence Society (2007) lernen konnten, haben Frauen mit IC/PBS eine zentral veränderte Schmerzperzeption, die durch eine frühe Aktivierung des limbischen Systems unterstützt wird. Durch den oft jahrelang bestehenden Schmerz und die Pollakisurie haben Frauen mit IC eine eingeschränkte Sexualfunktion und schlechte Lebensqualität (2). Patienten mit interstitieller Zystitis leiden gehäuft unter depressiven Verstimmungen, wobei schwer festzustellen ist, ob die IC Ursache der Depression ist oder ob diese nur zusätzlich besteht (3).
Abklärung Anamnestische Hinweise wie therapieresistente Urge-
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SCHWERPUNKT
Tabelle:
Differenzialdiagnostische Kriterien für eine interstitielle Zystitis (IC)
■ Einschlusskriterien Je ein Kriterium aus A und B wie folgt:
● Kategorie A: Vorhandensein wenigstens eines der beiden zystoskopischen Befunde: – diffuse Glomerulationen (>10 pro Quadrant in mindestens 3 Quadranten) oder – klassisches Hunner-Ulkus
● Kategorie B: Vorhandensein wenigstens eines der beiden klinischen Befunde: – mit der Blase assoziierte Schmerzen oder – Harndrang
■ Ausschlusskriterien: – Blasenkapazität > 350 ml – kein starker Harndrang bei rascher Blasenfüllung – Nachweis phasischer Detrusorkontraktionen – keine Nykturie – < 8 Miktionen/Tag – aktiver Herpes genitalis – chemische Zystitis – Tuberkulose der Blase – Strahlenzystitis – Tumoren der Blase
probleme mit Schmerzen bei der Miktion sind suspekt für eine interstitielle Zystitis. Eine Zystoskopie in LA ist schmerzbedingt meist nicht möglich und sollte bei Verdacht auf interstitielle Zystitis unter Narkosebedingungen durchgeführt werden. Die interstititielle Zystitis ist ein chronisches heterogenes Syndrom mit der klassischen Trias «Nykturie, Pollakisurie und Blasenschmerzen». Es empfiehlt sich die individuelle und flexible Diagnosestellung nach NIDDK (National Institute of Diabetes, Digestive and Kidney Disease). Es gibt keinen pathognomonischen Marker, aber Charakteristika in der Blasenspiegelung nach Hydrodistension sind wegweisend: Hunner’sche Ulzera und petechiale Einblutungen nach Wiederauffüllen der Blase sind verdächtig auf eine IC. Mastzellen in der Histologie der Blasenbiopsien sind nach aktuellen Definitionen nicht unbedingt nötig für die Diagnose einer IC, ihr Auftreten weist aber bei korrekten muskeltiefen Biopsien auf den inflammatorischen Prozess in der Blasenwand hin. In der Frauenklinik des
Inselspitals Bern werden Blasenbiopsien routinemässig bei Verdacht auf IC durchgeführt. Wegen der Möglichkeit der Blutung sollte nach Biopsieentnahme ein grosslumiger Katheter eingelegt und belassen werden, bis der Urin wieder klar ist. Eine Schmerzexazerbation nach Zystoskopie ist möglich und kann mit nichtsteroidalen Schmerzmitteln und synthetischen Opioiden, wie beispielsweise Tramadol, aufgefangen werden. Die Leitsymptome der IC sind ■ häufiger Harndrang ■ Schmerzen im Beckenbereich ■ Pollakisurie ■ schmerzhafte Miktion ■ fehlende Bakteriurie. In der Frauenklinik Bern benutzen wir die Kriterien für eine IC/PFS wie in der Tabelle dargestellt. Abbildung 1 zeigt sich ausbreitende, initial petechiale Einblutungen in die Blase.
Therapiemöglichkeiten Eine der häufigen pathophysiologischen Thesen für die Entstehung einer IC basiert auf der Störung der Glykosaminoglykanschicht (GAG-Schicht), die als
Abbildung 1: Diffuse, sich ausbreitende Einblutungen bei der Zystoskopie
Schutzschicht zwischen Urothel und Blasenlumen besteht. Etliche Therapieansätze basieren auf der Wiederherstellung der GAG-Schicht, deren Durchlässigkeit bei der IC für die Schmerzen verantwortlich gemacht wird. Die Therapien sind vielfältig und meistens schlecht evaluiert, was dazu geführt hat, dass wir in der Frauenklinik unseren Patientinnen prospektiv das in Abbildung 2 aufgeführte Therapieschema vorschlagen. Zu jedem Zeitpunkt ist die zusätzliche Gabe von Schmerzmedikamenten wie nichtsteroidale Antirheumatika oder stärkere Medikationen inklusive synthetische Opioide möglich und auch sinnvoll. Die Analyse der Trinkgewohnheiten anhand des Miktionstagebuchs lohnt sich immer. Fragen nach besonderen Lebensmitteln oder Flüssigkeiten, die die Symptome exazerbieren lassen, sollten dazugehören. Einige Patientinnen mit IC vertragen scharfe Gewürze nicht, andere sind empfindlich auf unverdünnte Fruchtsäfte oder trinken deutlich reduziert, um so dem Harndrang auszuweichen. Für die Instillationen müssen die Patientinnen intermittierenden Selbstkatheterismus lernen, was in der Pflegesprechstunde ambulant instruiert wird. Dieses erfordert viel Fingerspitzengefühl, weil bei den Patientinnen Ängste vor Schmerz und Exazerbation ihrer Symptome bestehen. Mittels visueller Analogskala (visual analoge scale, VAS), dem Miktionstagebuch und dem King’s Health Questionnaire, einem validierten Fragebogen, welcher die Lebensqualität der Patientinnen erfasst, haben wir unsere Therapieschritte einzeln evaluiert.
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SCHWERPUNKT
Diagnose: Interstitielle Zystitis (IC): Therapieschema
Die meisten Patientinnen wurden bereits mit Östrogenen und Anticholinergika behandelt
Tetrazykline mit Partnertherapie Blasentraining
geheilt oder gebessert
nicht besser: Installation via ISK Heparin, Nabic und LA für 6 Wochen
geheilt oder besser
nicht besser: 1 mg/kg KG Prednisolon
Antihistaminika TENS
geheilt oder besser
nicht besser: DMSO-Instillation
EMDA
geheilt oder besser
nicht besser: Neurostimulator
Abbildung 2: Therapieschema bei interstitieller Zystitis
Abbildung 3 zeigt den Einfluss der Therapie auf die Symptome der Patientinnen. Alle Symptome konnten unter diesem Therapieschema signifikant verbessert werden, was sich auch in der Lebensqualität der Patientinnen niedergeschlagen hat. Bei den Patientinnen, bei denen die Instillationstherapie gut angeschlagen hat, hielt der Therapieerfolg durchschnittlich sechs Monate, danach war eine erneute Instillation erforderlich. Die längste Beschwerdefreiheit bis anhin betrug zwölf Monate.
IC diskutiert, ohne dass derzeit valable Daten zu diesem Thema vorhanden sind. Im Bereich der Molekularbiologie versuchen weltweit mehrere Zentren, Fragen nach der Ätiologie der IC/PBS zu beantworten. In Bern läuft im anatomischen Institut ein Projekt zu diesem Thema unter der Leitung von PD Dr. Katia Monastyrskaya in Zusammenarbeit mit der Frauenklinik und der Urologischen Klinik. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bei dieser komplexen Erkrankung ist
sinnvoll und ermöglicht eine ergänzende
Therapie.
Ein Team aus den Disziplinen Gynäkolo-
gie, Urologie und Psychosomatik mit
Forschungseinrichtung ist sinnvoll und
notwendig, um grössere Patientenzahlen
zu rekrutieren und eine umfängliche Be-
treuung zu gewährleisten.
Viele Fragen zum Thema interstitielle
Zystitis sind offen; weder ist die Ätiologie
geklärt noch ist derzeit eine gut vali-
dierte Therapie verfügbar. Eine einheitli-
che Terminologie wird die Vergleich-
barkeit von Studien erleichtern.
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Dr. med. Annette Kuhn Leiterin Zentrum für Urogynäkologie Universitäts-Frauenklinik Inselspital Effingerstr. 102 3010 Bern E-Mail: annette.kuhn@insel.ch
Quellen: 1. Karsenty A.l., Taweel W. et al.: Efficacy of interstitial cystitis treatments: A review EAU-BAU update series 4: 47–61. 2. Curtis Nickel J., Tripp D. et al.: Sexual function is a determinant of poor quality of life for women with treatment refractory interstitial cystitis. J Urol 2007; 177 (5): 1832–1836. 3. Rothrock N.E., Lutgendorf S.K. et al.: Depressive symptoms and quality of life in patients with interstitial cystitis J Urol 2002; 167, 1763–1767.
Weitere Literatur auf Wunsch bei der Autorin erhältlich.
Offene Fragen Die Rolle des Botox zur Therapie der interstitiellen Zystitis ist bis heute nicht geklärt: Im Expertenbrief zum Thema Botox wird eine fortgeschrittene interstitielle Zystitis (IC) als Ausschlusskriterium zitiert, einige Autoren, besonders im angelsächsischen Raum, propagieren Botox dagegen für die Behandlung der IC. Wir gehen davon aus, dass eine IC nicht heilbar ist und die Patientinnen lebenslang begleiten wird. Psychosoziale Faktoren werden im Zusammenhang mit der
Abbildung 3: Symptome bei interstitieller Zystitis (IC) vor und nach Therapie. Die hellblaue Säule bezieht sich auf die Symptome vor, die dunkelblaue Säule auf solche nach der Therapie.
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