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SCHWERPUNKT
Anale Inkontinenz der Frau
Ursachen, Diagnostik,Therapieoptionen, Prophylaxe
Anale Inkontinenz ist überwiegend ein Problem der Frau. Mit Physiotherapie, medikamentöser Behandlung, operativen Strategien und Neurostimulation stehen heute therapeutische Optionen zur Verfügung, welche die Stigmatisierung und soziale Isolation durch diese Inkontinenzform verhindern können. Zunehmende Bedeutung gewinnt auch ein vertieftes Verständnis für das Vermeiden direkter Sphinkterläsionen und deren zuverlässige Diagnose durch die Geburtshelfer sowie eine adäquate chirurgische Versorgung während der Geburt.
BERNHARD SCHÜSSLER
Unter analer Inkontinenz wird das Unvermögen verstanden, den Abgang von Stuhl und Wind über den Analkanal jederzeit suffizient kontrollieren zu können. Überwiegend Frauen sind betroffen, bedingt durch die anatomischen Besonderheiten und den Einfluss der Geburt auf den Beckenbodenbereich.
Anatomie, Physiologie von Defäkation und analer Kontinenz
Das anale Kontinenzorgan schliesst den Darm respektive seinen letzten Teilabschnitt, das Rektum, nach aussen ab. Dabei geht die Darmschleimhaut an der Linea dentata in die sehr sensible Analhaut über (Sensibilität/Vorwarnzeit). Während der innere, ringförmige, glattmuskuläre Darmwandanteil sich zum Sphincter ani internus verdickt (Ruhetonus auch
Abbildung 1: Schematische Darstellung der Anordnung verschiedener Schichten im Bereich des analen Kontinenzorgans ( rechte Hälfte). Klassifikation von Sphinkterverletzungen (7): 3a = partieller Riss des Musculus sphincter ani externus 3b = komplette Läsion des Musculus sphincter ani externus 3c = zusätzliche Läsion des Sphincter ani internus 4 = komplette Läsion des gesamten Sphinkterapparates einschliesslich der Rektumschleimhaut (Modifiziert nach A. Sultan)
während des Schlafs), bildet die Längsmuskulatur der Darmwand im Sphincter ani eine Trennschicht zwischen Sphincter ani internus und externus. Letzterer schliesst sich in seinem kranialen Anteil an den M. levator ani an. Die Muskulatur des Sphincter ani externus besteht zum überwiegenden Teil aus «Slow-twich-Fasern», die im Gegensatz zu den «Fasttwich-Fasern» deutlich langsamer ermüden, also Tonus halten können (Abbildung 1). Ebenso wie bei der Harnblasenfunktion steht der anale Verschlussmechanismus als Reflexgeschehen unter willkürlicher Kontrolle. Diese wird über die quergestreifte Muskulatur des Sphincter ani und des Beckenbodens vermittelt. Unter physiologischen Bedingungen signalisiert die gefüllte Rektumampulle den Wunsch nach Defäkation. Über eine willkürliche Relaxation des Sphincter ani externus und des Beckenbodens kommt dann die Defäkation in Gang. Gleichförmige Kontraktionen der weiter oben gelegenen Darmabschnitte sorgen dafür, dass auch dort vorhandener Stuhl entleert werden kann. Darüber hinaus besitzt der Analkanal eine sehr differenzierte Sensorik, welche es ermöglicht, Stuhl- respektive Windqualität zu überprüfen und wenn gewollt beispielsweise nur einen als Flatus erkannten Wind nach aussen zu entlassen. Die Grenze dieses Systems wird auch unter physiologischen Bedingungen dann erreicht, wenn beispielsweise bei einer entzündlichen oder infektiösen Darmerkrankung über dünnen Stuhl und extreme Gasbildung die Ampulle extrem überdehnt wird und/ oder gleichzeitig eine Hypermotorik des Kolons besteht. Bewusste Maximalkontraktion von Beckenboden und Sphinkterapparat (individuell unterschiedlich) reichen dann für die Kontinenzerhaltung nicht mehr aus. Aus diesen Zusammenhängen zeigt sich, dass jeder muskuläre Sphinkterdefekt ebenso wie eine nervale Beeinträchtigung von Feinmotorik und Sensibilität des analen Verschlussorganes eine Schwächung für
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die Sphinkterfunktion darstellen (Abbildung 2).
Prävalenz, Ursachen und Risiken
Anale Inkontinenz ist definiert als der unwillkürliche Abgang von Stuhl und/oder Wind. Die Prävalenz bei der Allgemeinbevölkerung liegt bei zirka 2%, in Pflegeheimen ist sie erwartungsgemäss mit 40% deutlich höher (1, 2). Neben allgemeinen Risiken, welche auch Männer betreffen können, ist die Frau durch die vaginale Geburt, aber auch durch die Schwangerschaft selbst für die Entwicklung eines solchen Problems prädestiniert. Nachgewiesene Risikofaktoren sind Forzepsentbindungen, vorausgegangene DR III beziehungsweise DR IV, narbige Sphinkterdefekte, parallel bestehende Urininkontinenz sowie Prolapszustände (3). Erfahrungsgemäss zeigt sich eine anale Inkontinenz häufig unmittelbar nach der Geburt. Sie ist aber meistens, auch nach einem Dammriss III. oder IV. Grades, ein passageres Ereignis. Mit zunehmendem Alter und Erschlaffung der Muskulatur zeigen sich geburtshilfliche Schäden erst im späteren Leben, und zwar im Sinne einer schleichenden Funktionsverschlechterung. Aktives Nachfragen ist deshalb sinnvoll. Auch wenn bei einer analen Inkontinenz in der Analsonografie ein relevanter Sphinkterdefekt nachzuweisen ist, liegt in den meisten Fällen noch eine gleichzeitige Störung in der nervalen Versorgung vor, sei es sensorisch, motorisch oder kombiniert. Die Kombination aus anatomischem Defekt und (partieller) Denervierung macht auch klar, dass eine noch so gelungene chirurgische Korrektur des Sphincter ani nicht zwingend zu einer Restitution ad integrum führt.
Diagnostik
Die Anamnese soll dazu dienen, sich zunächst ein grobes Bild von der Problematik zu verschaffen. Dazu gehört auch die Unterscheidung, inwieweit es sich tatsächlich um eine anale Inkontinenz oder lediglich um Stuhlkontamination, beispielsweise bei ausgedehnter Mariskenbildung, handelt. Schlüsselsymptome sind:
Abbildung 2: Schematischer Ablauf der Physiologie der Defäkation. (Modifiziert nach A. Sultan)
Abbildung 3: Kombinierte Inspektion und rektale Palpation zur Identifikation von Sphincter-ani-Defekten. Typisch: Verkürzter Damm und partiell aufgehobene Analfältelung.
Normale Verhältnisse
Sphincter-int.- und ext.-Verletzungen mit narbiger Abheilung
Abbildung 4: Sonografische Darstellung eines normalen Sphinkterapparates (links) sowie eines Defektes des Sphincter ani internus und externus zwischen 11 und 2 Uhr (rechts).
■ Akutes Auftreten: Hinweis für darmspezifisches Problem mit veränderter Stuhlkonsistenz
■ Verkürzte Warnzeit: Hinweis für direkten externen Sphinkterschaden oder auch in der nervalen Versorgung. Gleiches gilt für Inkontinenz bei kör-
perlicher Belastung, beispielsweise bei Husten. ■ Nächtliches Stuhlschmieren: Hinweis für Sphincter-internus-Insuffizienz ■ Diskriminationsschwierigkeiten zwischen Wind und Stuhl («falscher Freund»): Sensorische Störung.
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Tabelle 1: EBM-basierte konservative Therapieansätze bei analer Inkontinenz
Tabelle 2: EBM-basierte invasive Therapieansätze bei analer Inkontinenz
Neben der Anamnese sind Inspektion und Palpation für die Diagnostik unersetzlich. Auf der Suche nach Sphinkterläsionen gibt eine Verkürzung des Dammes bereits einen wichtigen Hinweis, ebenso wie eine fehlende partielle Fältelung der Analregion. Manchmal erlaubt erst die Inspektion in Kombination mit rektaler Untersuchung die Identifikation der Pathologie (Abbildung 3). Die rektale digitale Untersuchung erlaubt einen sehr guten Rückschluss auf Ruhetonus respektive Kontraktionskraft des analen Sphinkters. Die anale Manometrie ermöglicht es, diese Parameter messtechnisch zu erfassen. Über den Auffülltest des Rektums lässt sich zusätzlich noch die Sensibilität beziehungsweise die Reflexaktivität einschätzen.
Das Ausmass neurogener Schädigung ist messtechnisch schwer zu erfassen. Die Messung der «Pudendal Nerve Terminal Latency» hat leider nicht die Bedeutung erzielt, welche man gerne hätte. Die anale Sphinktersonografie ist die wichtigste apparative Diagnostik. Sie erlaubt die Darstellung der gesamten externen und internen Sphinktermuskulatur in den verschiedenen Etagen und damit auch eine Identifikation entsprechender Defekte (Abbildung 4).
Therapie
Anale Inkontinenz hängt ab von der Stuhlkonsistenz, der Darmmotilität, dem Verschlussdruck in Ruhe, dem Sphinkterapparat, der Kontraktionskraft von Sphinkter und Beckenboden und der Reflexkontraktion während körperlicher
Belastung wie Husten, Niesen, Heben und so weiter. Konservative Therapie geht gezielt auf diese einzelnen Probleme ein. Medikamente und Physiotherapie sollten deshalb optimal kombiniert werden (Tabelle 2). Loperamid hat insofern einen zentralen Stellenwert, als es die Stuhlkonsistenz erhöhen hilft und die Darmmotilität vermindert, gleichzeitig aber auch den Tonus der glatten Muskulatur erhöht. Reicht die konservative Therapie nicht aus, kommen invasive Behandlungen zum Einsatz (Tabelle 3). Dass der «Sphincter Overlap Repair» nur gute Kurzzeiterfolge hat (60 bis 79%), hängt nicht an einer erfolgreichen anatomischen Rekonstruktion, sondern offensichtlich an den gleichzeitig bestehenden und apparativ nicht zuverlässig erfassbaren nervalen Defiziten. Langzeiterfolge nach 60 Monaten liegen jedenfalls nur zwischen 7,3 und 28%. In letzter Zeit hat sich die selektive sakrale Neuromodulation als Nachfolgebehandlung durchgesetzt. Neuere Studien ergeben für dieses Vorgehen erfolgreiche Resultate in 77 bis 95% (4). Nur in seltenen Fällen wird man bei Versagen aller Möglichkeiten einen destruktiven Ansatz wählen müssen. Dieser besteht in einer definitiven Darmableitung über einen Anus praeter. Eine entsprechend desolate Ausgangssituation vorausgesetzt, rechtfertigt aber die damit erzielte Lebensqualität den Einsatz dieser Methode.
Prophylaxe
Der sonografische Nachweis von Sphinkterdefekten durch die Analsonografie hat das Interesse an diesem Thema deutlich erhöht (5). Auch trägt das zunehmende Wissen über die Grenzen therapeutischer Möglichkeiten bei einer einmal eingetretenen Stuhlinkontinenz dazu bei, unter der vaginalen Geburt alle Vorkehrungen zu treffen, die Intaktheit des analen Sphinkterorgans wenn immer möglich zu gewährleisten. Dabei ist die sorgfältige Erkennung einer Sphinkterverletzung und ihres Ausmasses Voraussetzung für eine bestmögliche Sphinkter-Sofortrekonstruktion (siehe auch Abbildung 1). Ob der «Sphincter Overlap Repair» in der Akutphase der
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End-zu-End-Versorgung überlegen ist, ist
bis heute allerdings nicht geklärt. Was die
Planung der Geburt nach einem DR III/IV
bei vorangegangener Geburt anbelangt,
zeigen neuere Daten, dass eine erneute
vaginale Geburt dann ohne zusätzliche
Verschlechterung der Sphinkterleistung
angestrebt werden darf, wenn die erste
Läsion ohne objektivierbare, sonografi-
sche respektive funktionelle Einbusse ab-
gelaufen ist (6).
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Prof. Dr. med. Bernhard Schüssler (Korrespondenzadresse) Neue Frauenklinik Kantonsspital Luzern E-Mail: bernhard.schuessler@ksl.ch
Quellen:
1. Nelson, R., Norton, N. et al.: Community based prevalence of anal incontinence. JAMA 1995; 274: 559–561.
2. Roberts, R.O., Jacobsen, S.J. et al.: Prevalence of combined fecal and urinary incontinence: a community-based study. J. Am. Geriatr. Sov. 1999; 47: 837–841.
3. Morstwin, J., Bourcier, A. et al.: Fecal incontinence. In: Incontinence, Vol. 1. Health publication Ltd. 2005; 449–462.
4. Matzel, K.E., Besendörfer, M.: Surgery for fecal incontinence. In: Cardozo, L., Staskin, D.: Textbook of female urology and urogynecology. Informa Health Care 2006; Vol. II: 1122–1133.
5. Sultan, A.H., Kamm, M.A. et al.: Anal sphincter disruption during vaginal delivery. N. Engl. J. Med. 1993; 329: 1905–1911.
6. Scheer, J., Thakar R., Sultan, A.H.: Should women who sustained obstetrical anal sphincter injuries be allowed a vaginal delivery? Neurourol. Urodyn. 2006; 25: 512–513.
7. Royal College of Obstetrics and Gynecology. Management of III and IV degree perineal tears following vaginal delivery RCOG Guideline No. 29. RCOG Press, London 2001.
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