Metainformationen


Titel
Arsenicum: ASAP
Untertitel
-
Lead
Vielleicht bin ich nur altersentsprechend langsamer? Oder sprechen tatsächlich immer mehr Leute in Ellipsen, lassen Wörter und ganze Satzteile aus? Die MTV-Generation liebt kurze Filmsequenzen. Zappt bei langen Einstellungen à la Alain Tanner tödlich gelangweilt weiter (wie ich auch …). Redet im Telegrammstil. Beim Jahreswechsel schallte mir «Rutsch!» entgegen.
Datum
Autoren
-
Rubrik
Rubriken
Schlagworte
-
Artikel-ID
1530
Kurzlink
https://www.rosenfluh.ch/1530
Download

Transkript


MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
ASAP*

V ielleicht bin ich nur altersentsprechend langsamer? Oder sprechen tatsächlich immer mehr Leute in Ellipsen, lassen Wörter und ganze Satzteile aus? Die MTV-Generation liebt kurze Filmsequenzen. Zappt bei langen Einstellungen à la Alain Tanner tödlich gelangweilt weiter (wie ich auch …). Redet im Telegrammstil. Beim Jahreswechsel schallte mir «Rutsch!» entgegen. Wünschten mir meine Patienten etwa, auf Eis auszugleiten, mit Schlittschuhlaufen anzufangen? Sie riefen «Nois!.» Redeten sie vom englischen Lärm oder der Stadt vis-à-vis von Düsseldorf? Nein, sie wünschten mir einen guten Rutsch in ein gutes neues Jahr. Auch ihre Erkrankungen kürzen sie ab. «Ich habe Verdauung.» Ja, hoffentlich. Oder wie Horst Schlämmer, die Figur des Entertainers Hape Kerkeling: «‘schab Rücken.» Das hat zwar den Vorteil, den Zeitbedarf für die Anamnese zu senken, aber auch den Nachteil, dass die selbstgestellte Diagnose eindringlich wie ein Monolith im Sprechzimmer steht und vom Arzt kaum zum Wanken gebracht werden kann. «Drüsen!», trompeten die Übergewichtigen. Nun, falls es Appetitdrüsen gibt, die hungermachende Sekrete absondern, wohl schon. Vielleicht gibt es sie ja wirklich? Further studies are needed … Die Comic-sozialisierte Jugend beschreibt Schmerz und Stress wie Donald Duck mit: «Ächz, kreisch, stöhn.» Ihre SMS sind nur noch Abkürzungen: LOL für «laugh out loud». Die Netiquette von RFC 1855 ist keine Chatiquette. Sie erinnert mich fatal an die Telefonate meiner Jugend, wo meine Eltern die kostbaren drei Minuten, die sie sich leisten wollten, mit «Fass dich kurz! Ferngespräche sind teuer!», vergeudeten. Selbst Alkoholintoxikierte fassen sich kurz. «Dommschnöffkappaduffa!», schallte es mir im Notfalldienst aus dem Strassengraben entgegen. Die Polizisten, die mich angefordert hatten, soufflierten: «Passen Sie auf! Wenn Sie eine dumme Schnörre hätten, könnten Sie eins drauf kriegen.» Ich hatte keine, sondern sagte nach der neurologischen Untersuchung einsilbig: «Ausnüchterungszelle.» «Megastress. Spinnenallihüt.

Nit könnenabsitzeganzedag. Chefrotiert», fasste unser MTA-Lehrling den hektischen Praxistag beim Telefonat mit ihrem Liebsten zusammen. Der Mutismus greift um sich. Selbst unsere wortgewaltigen Kollegen aus der Romandie pflegen nicht mehr die Kultur ihrer Sprache, die Troubadoure, Epiker, Essayisten und Romanciers zu Werken erster Güte inspirierten. Mit «Qu’est-ce que …» beginnen nur noch Deutschschweizer ihre Fragen, und das liebgewonnene «veuillez agréer, cher confrère, l’expression de ma considération distinguée», muss man – mit sentiments respectueux et dévoués – in den Abfalleimer der Kanzleisprache des letzten Jahrtausends werfen. Was macht einer wie ich, der erst mal ins Unreine redet, der sich langsam mit vielen unnützen Worten an den Kern der Sache anpirscht? In dieser Stichwortwelt, deren Einsilber nach Befehlen klingen? Mein Deutschlehrer säuselte immer: «Mach e ganze Satz!», wenn man zu faul war, eine schön geordnete syntaktische Konstruktion zu ersinnen. Er liess die Freude an Schachtelsätzen mit nachgestellten Appositionen, Relativsätzen und raffinierten Subjekt- und Prädikatsgruppen wachsen. Heute ist er tot. Wo findet ein logorrhoischer Schwätzer wie ich, dessen sanft plätschernder Small Talk so manchen Patienten zum Reden brachte, der beim schweigenden Psychoanalytiker verstummt war, seine sprachliche Heimat? Im Arsenicum, diesem Ballenberg aussterbender Ganzsatzschreiber? (Anm. d. Layouters: Nein. Musst kürzer. Sprengt Format.) Umzingelt von Ellipsen, die Eindringlichkeit, Alltäglichkeit, Unruhe vermitteln, sehne ich mich nach Plauderparadiesen. Glücklicherweise gibt es Mesut, dessen Erzählungen gemächlich wie der Orientexpress durch halb Europa bummeln. «Ich kenne da eine Geschichte …», beginnt er. Nein, er hebt an. Setzt sich mit einem Kaffee für sich und mich zu mir und erzählt. Von schönen Frauen, deren Liebreiz mit einer ganzen Palette von Adjektiven beschrieben wird: sanftäugig, lieblächelnd, grazil, leichtfüssig … Von lustigen, besonderen, herzerfrischenden Begebenheiten. Plauderparadiesisches Parlieren.
*As short as possible

ARSENICUM

8 ARS MEDICI 1 ■ 2012