Transkript
ROSENBERGSTRASSE
Rosenbergstrasse 115
Die Apotheker werden den Kampf gegen die Selbstdispensation fortsetzen, aber vielleicht nur noch mit halber Kraft, denn ein weiterer, weit intensiverer Kampf kündigt sich an. Er entscheidet nicht mehr über das Wohlergehen der selbstdispensierenden Kolleginnen und Kollegen, sondern über das Überleben des Hausarztes in seiner heutigen Form. Denn ganz ehrlich, hatte Pascal Couchepin nicht Recht mit seiner Prophezeiung, dass es künftig keine Hausärzte mehr gebe? Braucht es Hausärzte wirklich? Wo doch die Apotheker und Pflegefachkräfte ganz ohne Medizinstudium einen Grossteil der Fälle fast genau so gut lösen können wie wir? Das ab April 2012 anlaufende «integrierte Versorgungsmodell» von Apothekern, Helsana und Medgate unter dem Namen netCare (siehe auch Editorial) ruft nach flexiblen und fortschrittlichen Denkansätzen und originellen Antworten auf diese Fragen.
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Sicher ist, es geht in 80 Prozent der Fälle tatsächlich ohne Hausarzt. Dumm ist einzig, dass keiner im Voraus weiss, welcher Patient bzw. welche Patientin zu den 20 Prozent der Fälle gehört, für die eine Nurse oder ein Apotheker nicht genügen. Aber derartige Spitzfindigkeiten haben die sparwütigen unter den Politikern noch nie daran gehindert, die Grundversorgung künftig eher bei billigen medizinischen Hilfspersonen angesiedelt zu sehen. Die haben schliesslich nur die simple Aufgabe, eine Triage vorzunehmen und Bagatellfälle selber zu behandeln. Wie gesagt: Dumm nur, dass es ohne medizinische Ausbildung nicht so einfach ist zu unterscheiden, was nun Bagatelle ist und hinter welcher Bagatelle sich eine ernster zu nehmende Störung verbirgt. Aber es sind ja bloss sechs Jahre Medizinstudium und ein paar Jahre Assistenzarzttätigkeit bis zum Facharzt für Allgemeinmedizin; was sich da an wirklich relevantem Wissen und Können anhäuft, werden sich die Nurse wohl noch berufsbegleitend innert zwei Jahren und der Apotheker im Rahmen seiner Aus- und Weiterbildung aneignen können. Hausärzte werden noch eine Zeit lang als nostalgische Form der
Grundversorgung und in den Bergen als folkloristische Attraktivität überleben – aber dann …
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Natürlich wird es zunächst weiterhin Ärzte mit allgemeinmedizinischem Wissen geben, aber sie werden in Callund Telemedizin-Zentren sitzen und mit soviel Empathie wie nötig den bei den Nurses und in den Apotheken oder anderen Care-Zentren aufkreuzenden Patienten mit Videorat beistehen und allenfalls nötige Rezepte an den Apotheker mailen. Die junge urbane Klientel wird sich an wechselnde «Lebens-» und «Tagesabschnittsärzte» gewöhnen, die jederzeit – auch in der Pause über Mittag – verfügbar sind. Subito und ohne Wartezeiten. Sie nehmen die ohnehin nicht auf den ersten Blick erkennbare medizinische Minderkompetenz der Nurse oder des Apothekers in Kauf. Im Interesse einer speditiven Abarbeitung medizinischer Fragestellungen und letztlich der Volkswirtschaft. Und eben – in 80 Prozent der Fälle geht ja auch tatsächlich nichts schief.
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Offenbar rechnet man damit, dass viele Befindensgestörte und leicht bis mittelschwer Kranke mit Videodoktoren in der Apotheke und iPhone-Betreuung zu Hause zufrieden sind oder sich daran gewöhnen werden. Aber die Entwicklung wird weiter gehen. Noch sitzt am andern Ende der Leitung ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Arzt, der den Patienten/die Patientin im Versorgungskabäuschen der inzwischen multifunktionalen Apotheke per Skype befragt und ihn berät. (Die Analogie zur Verrichtungsbox, in die moderne Zürcher Stadtväter ihre ungeliebten Flach- und Blasarbeiterinnen verbannen möchten, liegt nahe.) Da, was am patientenseitigen Ende der Leitung ankommt, aber letztlich ohnehin nur Bits und Bytes sind, und sich letztlich alles standardisieren lässt, auch der Patient und seine Krankheit (Tarmed und die Fallpauschalen mit ihrem exakten Codierungssystem zeigen das), wird auf Dauer auch das Fleisch und Blut am ärztlichen Ende der früher «Arzt-Patient-
Beziehung» genannnten Interaktion überflüssig werden.
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Pixar wird in längstens zehn Jahren in der Lage sein, die Telemedizin-Zentren mit den von den Kabäuschen-Patienten am häufigsten gewünschten Arzttypen zu versorgen. Ununterscheidbar von einem «echten» Arzt (der Begriff «echt» wird dannzumal ohnehin eine ganz andere Bedeutung haben). Die erste Frage des Apothekers wird sein: Wünschen Sie von einem Mann oder einer Frau beraten zu werden? Mit tiefer sonorer oder mit heller klarer Stimme? Jung oder gesetzteren Alters? Im seriösen weissen Kittel oder im coolen Casuallook? Abgesehen von wenigen stilistischen Modifikationen werden alle diese «Ärzte» und «Ärztinnen» gleichermassen vorgehen. Die ausgeklügelte, von einer Fachkommission (zusammengesetzt aus Kommunikationsfachleuten, IT-Speziailisten, Öko- nomen, Apothekern und einem Arzt) entwickelte und der Fragestellung angepasste Checkliste wird dem Patienten maximale Kompetenz und konzentriertes Interesse an ihm suggerieren. Nur was der Videoarzt schon heute nicht kann – den Patienten berührend inspizieren – wird auch künftig nicht möglich sein. Für die Auskultation hingegen wird sich ein technischer Weg finden lassen – und Laboranalysen nimmt der Apotheker gerne vor.
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Nein, Managed Care und DRG haben nicht direkt damit zu tun. Sie sind lediglich Vorboten einer Entwicklung, an deren Ende eine Medizin ohne Hausarzt steht. Wenn man das so will … gut, dann soll es so sein. Wenn nicht, dann sollten die heutigen Hausärzte und die Patienten kräftig gegensteuern, solange noch Zeit ist.
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Und das meint Walti: An manchen Tagen geht alles schief, aber dafür klappt an anderen gar nichts.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 1 ■ 2012
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