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FORTBILDUNG
Sollen Beschwerden des unteren Harntrakts bei Männern ohne exakte Diagnose behandelt werden?
Zwei Experten, zwei Meinungen
Zu vielen medizinischen Fragestellungen gibt es gegensätzliche Ansichten, so auch hier: Paul Abrams hält invasive Untersuchungen bei Harnwegsbeschwerden in den meisten Fällen für überflüssig. Julian Shah ist dagegen der Ansicht, dass eine exakte Diagnose für eine erfolgreiche Behandlung unabdingbar ist.
BMJ
Beschwerden des unteren Harntrakts sind in der Weltbevölkerung weitverbreitet. Der Begriff LUTS (engl. lower urinary tract symptoms = Beschwerden des unteren Harntrakts) wurde 1994 eingeführt. Später teilte die Internationale Kontinenzgesellschaft die Symptome in drei Kategorien ein. Zu den Speichersymptomen gehören die Merkmale einer überaktiven Blase wie Harndrang, Dranginkontinenz, häufiges Wasserlassen, Nykturie und auch die Stressinkontinenz. Entleerungssymptome sind häufig durch einen abgeschwächten Harnstrahl gekennzeichnet. Das Gefühl einer unzureichenden Entleerung und Tröpfeln nach der Miktion gehört zu den Symptomen nach der Blasenentleerung. Obwohl Harnwegsbeschwerden häufig die Lebensqualität beeinträchtigen, gehen längst nicht alle Patienten damit zum Arzt (1).
Genaue Diagnose zu Beginn meist nicht erforderlich Paul Abrams (Professor für Urologie am Southmead Hospital in Bristol) ist der Ansicht, dass invasive Untersuchungen bei den meisten LUTS-Patienten – zumindest bei Behandlungsbeginn – nicht erforderlich sind (1). Um die Ursachen von Harnwegsbeschwerden zu ermitteln, sind urodynamische Untersuchungen erforderlich. Dazu muss ein Katheter gesetzt werden, was für die Patienten unangenehm und zudem teuer ist. Angesichts der grossen Anzahl von Patienten mit Harnwegsbeschwerden hält Abrams die Behandlung von
Merksätze
❖ Die Prostatavergrösserung ist die häufigste Ursache von LUTS bei älteren Männern.
❖ Die urodynamische Untersuchung ist der Goldstandard zur Abklärung von LUTS.
LUTS ohne definitive Diagnose für den einzig praktizierbaren Weg für das Management der meisten Patienten. Zudem stimmen Betroffene seiner Erfahrung nach einer unangenehmen diagnostischen Untersuchung eher nicht zu, wenn ihnen auch eine einfache, sichere und kostengünstige Alternative angeboten wird. Verschiedene internationale Gremien empfehlen, urodynamische Untersuchungen nur dann durchzuführen, wenn eine invasive Behandlung in Betracht gezogen wird. Vielen Patienten mit LUTS kann mit einer Kombination aus Veränderungen des Lebensstils und des Verhaltens und/oder mit Medikamenten geholfen werden. Eine exakte Diagnose ist für einen Beginn mit diesen einfachen Massnahmen nicht erforderlich. Zu den wirksamen Veränderungen des Lebensstils gehört die Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme. Viele Patienten trinken viel mehr, als erforderlich ist, häufig aufgrund der nach Abrams’ Meinung falschen Empfehlung, täglich zwei Liter Wasser zu trinken. Eine reduzierte Flüssigkeitszufuhr kann die Symptomatik einer überaktiven Blase verbessern. Ausserdem gibt es Hinweise, dass eine Einschränkung des Kaffeekonsums vielen Patienten mit einer überaktiven Blase hilft, da Kaffee als mildes Diuretikum wirkt und zudem die glatte Muskulatur im Harntrakt stimuliert. Die Symptomatik einer überaktiven Blase mit oder ohne Dranginkontinenz kann auch durch Beckenbodenübungen verbessert werden. Die Kontraktion des Beckenbodens erhöht den urethralen Schliessdruck, sodass mit den Übungen der zur Kontinenz erforderliche Druck wieder erreicht werden kann. Ausserdem hemmt die Kontraktion des Beckenbodens Detrusorkontraktionen, die für die Symptome der überaktiven Blase verantwortlich sind. Mit einem Blasentraining kann eine überaktive Blase ebenfalls positiv beeinflusst werden. Dabei soll der Patient zunächst einmal in der Stunde Wasser lassen. Anschliessend wird das Intervall alle zwei bis drei Tage um eine Viertelstunde verlängert, bis der Patient in akzeptablen Zeitabständen urinieren kann. Eine Harnwegsobstruktion aufgrund einer vergrösserten Prostata und die damit verbundenen Beschwerden können häufig mit Alphablockern und 5-alpha-Reduktasehemmern gelindert werden. Eine überaktive Blase kann mit Antimuskarinika und eine Nykturie in bestimmten Fällen mit Desmopressin behandelt werden. Harnwegsbeschwerden sind meist ungefährlich, bei bestimmten Symptomen sollte nach Meinung von Paul Abrams jedoch eine diagnostische Abklärung erfolgen. Dazu gehören Hämaturie, Dysurie, eine neu einsetzende nächtliche Inkontinenz und Anzeichen einer vergrösserten Blase. Aber sogar
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Bei LUTS eingesetzte Medikamentengruppen:
Alphablocker
Alfuzosin
Xatral® oder Generika
Tamsulosin
div. Generika; im Kombinationspräparat Duodart®
5-alpha-Reduktasehemmer
Finasterid
Proscar® oder Generika
Dutasterid
Avodart®; im Kombinationspräparat Duodart®
Antidiuretisches Hormon
Desmopressin Minirin®, Nocutil®
Antimuskarinika (Parasympatholytika)
Darifenacin
Emselex®
Fesoterodin
Toviaz®
Oxybutynin
Ditropan®, Kentera®, Lyrinel®
Solifenacin
Vesicare®
Tolterodin
Detrusitol®
Trospiumchlorid Spasmo-Urgenin® Neo
Phytotherapeutika
Sägepalmextrakte (Sabal, Serenoa repens) Monopräparate: z.B. A. Vogel Prostamed; Prostadyn; Prosta-Urgenin; Prostagutt uno; Prostasan; Sabcaps Kombinationspräparate: Cefasabal (Sägepalme + Goldrute + Rosskastanie); Granu Fink Prosta (Sägepalme + Kürbis); Prostagutt F (Sägepalme + Brennnessel); Uroprosta (Sägepalme + Kürbis)
Erkrankungen wie eine Prostatavergrösserung, die lange als potenziell gefährlich erachtet wurden, haben sich in Longitudinalstudien als relativ gutartig und wenig progressiv erwiesen. «Die hier beschriebenen konservativen Massnahmen sind mit einem geringen Risiko für den Patienten und mit niedrigen Kosten verbunden. Daher empfehlen weder die NICERichtlinien zur Inkontinenz noch die NICE-Richtlinien zu LUTS eine gesicherte Diagnose vor der Behandlung der Symptome», lautet das Fazit von Paul Abrams.
Evidenz für Behandlungserfolg unabdingbar Julian Shah vom Institute for Urology an den University College London Hospitals hält eine genaue Diagnose zur Abklärung von Harnwegsbeschwerden dagegen für zwingend erforderlich, um auf dieser Grundlage gezielt und erfolgreich behandeln zu können (2). Die Prostatavergrösserung ist die häufigste Ursache von LUTS bei älteren Männern, und die wirksamste Behandlung besteht seiner Ansicht nach in der Operation. Eine Fallstudienserie mit 3830 Männern zeigte jedoch, dass LUTS nicht immer von einer Harnwegsobstruktion verursacht werden und deshalb urodynamische Untersuchungen zur Abklärung erforderlich sind. Dies ist vor allem bei jüngeren Männern und Diabetikern sowie bei Schlaganfallpatienten und Männern mit einer kleinen Prostata der Fall. Zudem gibt es auch noch andere Blasenfehlfunktionen. Bei manchen Patienten kommt es aufgrund akuter Erkrankungen wie einer Prostatitis oder eines Harnwegsinfekts kurzfristig zu Beschwerden. In diesen Fällen ist es sehr einfach, eine Diagnose zu stellen. Bei Patienten mit chronischen Beschwerden kann eine persistierende Ursache wie eine insta-
bile Blase vorliegen, was nur mit einer urodynamischen
Untersuchung festgestellt werden kann. Zudem ist nicht bei
allen Männern mit einer Prostatavergrösserung eine Opera-
tion erforderlich. Die urodynamische Untersuchung kann
beispielsweise eine unzureichende Blasenkontraktilität auf-
grund einer chronischen Blasenüberdehnung ergeben, die
besser mit intermittierender Selbstkatheterisierung als mit
einer Operation behandelt werden kann.
Eine objektive Evidenz ist auch bei allen Männern mit Mik-
tionsproblemen wie schwachem oder zögerlichem Harnstrahl
erforderlich. Zu den nichtinvasiven Untersuchungsoptionen
gehören die freie Uroflowmetrie und die Ultraschallunter-
suchung zur Evaluierung des Restharns in der Blase. Auch
nichtinvasive Druck-Fluss-Messungen können bei der Dia-
gnosestellung hilfreich sein. Urodynamische Untersuchungen,
nach Möglichkeit mit einer Röntgenuntersuchung des Blasen-
ausgangs, bleiben jedoch immer noch der Goldstandard zur
Diagnose einer Obstruktion. Aus zahlreichen Studien geht
hervor, dass nichtinvasive Untersuchungen zur Überprüfung
der Notwendigkeit einer Operation nicht genau genug sind,
da nur 26 Prozent der Männer mit einer tatsächlich vor-
liegenden Obstruktion identifiziert werden können, wenn
Symptomscores und nichtinvasive Untersuchungen zur Prä-
diktion einer Harnwegsobstruktion herangezogen werden.
Die primäre urodynamische Diagnose ermöglicht das Ver-
ständnis der Erkrankung und ist die Grundlage für das lang-
fristige Management. Der Nutzen einer exakten Diagnose
besteht zum einen in einem wahrscheinlich besseren Opera-
tionsergebnis. Wird eine Operation zugunsten der konser-
vativen Therapie zeitlich verschoben, geschieht dies unter
Kenntnis der Blasenfunktion. Das Risiko für eine Harnreten-
tion beträgt bei Männern mit einer Obstruktion 2 Prozent
pro Jahr. Dieser prognostische Wert ist vor allem bei jüngeren
Männern im Langzeitmanagement von Nutzen.
Die therapeutische Vorgehensweise über eine initiale Dia-
gnose ist der Behandlung von Symptomen ohne exakte Dia-
gnose vorzuziehen, denn Harnwegsbeschwerden können
meist nicht mit einer Behandlung nach «bestmöglichem Er-
raten» behoben werden. Ein systematischer Review zeigte,
dass 43 bis 83 Prozent der Patienten ihre Medikamente nach
30 Tagen wieder absetzen. Dies kann als Verschwendung von
Ressourcen angesehen werden. Wenn kein Langzeitnutzen
gewährleist werden kann, ergibt nach Ansicht des Wissen-
schaftlers auch eine kurzfristige Behandlung keinen Sinn,
ausser man teilt dem Patienten mit, dass es sich dabei um ein
Experiment handelt.
«Harnwegsbeschwerden sollten nicht ohne exakte Diagnose
behandelt werden. Die Kenntnis der Ursache ermöglicht ein
angemessenes Management, erhöht die Wahrscheinlichkeit
der Compliance und gewährleistet zudem ein besseres klini-
sches Ergebnis», resümiert Julian Shah (2).
❖
Petra Stölting
Quellen: 1. Abrams Paul: Should we treat lower urinary tract symptoms without a definite dia-
gnosis? Yes, BMJ 2011, 343: d6038 2. Shah Julian R: Should we treat lower urinary tract symptoms without a definite dia-
gnosis? No, BMJ 2011, 343: d6058
Interessenkonflikte: Beide Autoren haben Gelder von Astellas und anderen Pharmaunternehmen erhalten.
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