Transkript
Fortbildung
Peer-Support in Einsatzorganisationen
Im Mittelpunkt steht die Hilfe zur Selbsthilfe
Lorenz Richner
In der Regel wird heute nach potenziell traumatisierenden Ereignissen den Betroffenen psychosoziale und psychologische Nothilfe durch Care-Teams angeboten. Diese Unterstützung ist für die Führung von Einsatzorganisationen – wie Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Zivilschutz – noch viel zu oft kein Thema. Dieser Artikel erläutert einige
Was ist Peer-Support?
Peers (engl.: Gleicher, Ebenbürtiger) sind in psychosozialer Nothilfe ausgebildete Angehörige von Einsatzorganisationen (Feuerwehr, Polizei, Rettungssanität, Zivilschutz usw.) oder anderen Risikobetrieben (Spitäler, Care-Teams, Transportunternehmen, u.a.).
Sie ■ informieren ihre KollegInnen über mögliche Folgen potenziell
traumatisierender Einsätze und ■ zeigen ihnen Methoden und Techniken zur Stressbewältigung.
Ziel ihrer Interventionen ist es, die Einsatzfähigkeit ihrer KollegenInnen während und nach potenziell traumatisierenden Einsätzen zu erhalten oder wiederherzustellen. Es liegt auf der Hand, dass von einem gut organisierten PeerSupport das Personal wie auch der Betrieb profitieren.
der relativ einfachen Prinzipien des
Peer-Supports.
S owohl die Retter selber als auch ihre Chefs und die Bevölkerung haben hohe Erwartungen an Angehörige von Einsatzorganisationen. Ihre Arbeit verlangt hohe Fachkompetenz, Kontrolle, Risikofreudigkeit und Engagement. Retter haben oft das Image von «Übermenschen», welche auch unter Stress überlegt und korrekt funktionieren. In einer solchen Kultur von Machertum darf der Einzelne keine Schwächen zugeben. Wer Probleme durch Einsätze bekommt, gerät allzu leicht in eine Isolation: Mit den Kollegen können die belasteten Einsatzkräfte nicht reden, zu Hause dürfen sie nicht (Schweigepflicht) oder wagen es nicht (aus Angst, die Familie zu belasten). Nicht selten entwickeln sie dysfunktionale Problemlösungsversuche (Verdrängen, Sarkasmus, Substanzmissbrauch usw.), was zusätzliche Schwierigkeiten nach sich ziehen kann. Studien zeigen regelmässig die enormen Probleme von Peers in diesem Zusammenhang auf. Wagner, Heinrichs und Ehlert (1999) beispielsweise zeigten, dass lediglich ein Viertel von ihnen keine psychischen Auffälligkeiten aufweist. Anstelle des psychologischen Debriefings entwickelten verschiedene Fachleute einen auf Gruppen- und Einzel-
gesprächen aufbauenden Peer-Support. Durch strukturierende Gespräche mit belasteten Kollegen und auch mit deren Umfeld (Familie), in denen die individuellen Erlebnisse verarbeitet werden, konnten die Stresssymptome reduziert werden. Trotz der eindeutigen Befunde verzichte(te)n bisher viele Einsatzorganisationen auf die Einführung eines Peer-Support-Systems. Andere, wie etwa die Einsatzorganisationen der Stadt Basel, verhielten sich proaktiv und dürfen sich jetzt an den sichtbaren Erfolgen freuen: weniger Personalausfälle nach belastenden Ereignissen und grössere Arbeitsplatzzufriedenheit.
Peer-Support im Alltag
Im Alltag ist der Peer eine leicht zu erreichende Ansprechperson für Probleme im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit. Er informiert Kollegen und Vorgesetzte über psychische und körperliche Auswirkungen von akutem und kumulativem Stress. Gleichzeitig hilft er seinen Kollegen, Symptome psychischer Überbelastung frühzeitig zu erkennen. Er berät seine Kollegen und die Vorgesetzten über Möglichkeiten, den Alltagsstress zu reduzieren (Vermindern der Stressoren, Abläufe, Selbstschutztechniken usw.). Weiter leitet er strukturierende Gespräche nach belastenden Einsätzen.
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Er pflegt den Kontakt zu Therapeuten, die im Umgang mit durch extremen Stress belasteten Patienten geübt sind. Er wird fachlich beraten von einer «Fachperson mit Zusatzqualifikation in psychologischer Nothilfe» (Zertifikat von einem Berufsverband).
Peer-Support im Einsatz
In einem Einsatz beobachtet der Peer seine Kollegen. Stellt er während des Einsatzes, in einer Einsatzpause oder nach dem Einsatz Stresssymptome bei Kollegen fest, veranlasst er zu deren Schutz Massnahmen bei den Vorgesetzten. Stellt der Peer Zeichen von erhöhtem Stress bei seinen Kollegen fest, wie zum Beispiel verbissenes Arbeiten ohne Pausen, Überreizung, Verweigerung von Pausen, Konzentrationsabfall oder Apathie, dann kann er nach folgendem «SAFER»-Schema auf die Kollegen einwirken: S: Stabilization: zum Beispiel kurze Zeit aus der Arbeits-
situation herausholen A: Acknowledgement: schwierige Situation anerkennen F: Facilitation: Verstehen der Situation fördern (inkl.
Informationen auch über die vom Helfer beklagten Reaktionen) E: Encouragement: Ermutigung zur Bewältigung der Situation, Besprechen von Unterstützungsmassnahmen zur Lösung des Auftrags. R: Restoration: Wiedereinsetzen in die eigenständige Funktion oder Ablösung. Man beachte: Das Schema ist streng kognitiv und ressourcenorientiert.
Gruppeneinsatznachbesprechungen
Das technische Debriefing entspricht einer «Manöverkritik». Es dient dem Austausch von Informationen über Abläufe und Verbesserungsmöglichkeiten. Ziel ist ein gemeinsames, möglichst vollständiges Bild der Ereignisse. Die Demobilisation hat das Ziel eines inneren Abschlusses und des geordneten Übergangs in den Alltag. In einem Gruppengespräch werden vor allem psychohygienisch wichtige Informationen ausgetauscht: Anerkennung der Leistung in der quälenden Situation, Informationen über psychische Störungen, welche nach einem schlimmen Einsatz normale Reaktionen auf eine abnorme Situation sind, welche unabhängig von der Berufserfahrung bis ein Drittel des Personals betreffen können und innert Tagen abklingen und so weiter. Besonders wichtig sind die Informationen zur salutogenen Lebensführung in den folgenden Tagen. Der Peer weist auf seine Offenheit für individuelle Unterstützung hin. Das Defusing findet in der Regel einige Stunden nach Abschluss des Einsatzes statt. Es entspricht einer Kombination der beiden oben skizzierten Gesprächsschemata,
Ausbildungsmöglichkeiten und weitere Informationen
Verschiedene Organisationen bieten Kurse für Peers an. Erkundigen Sie sich bei den dafür verantwortlichen kantonalen Instanzen oder bei Ihrer Standesorganisation.
Weitere Informationen: ■ Clemens Hausmann, Handbuch Notfallpsychologie und
Traumabewältigung, facultas-Verlag, 2. Auflage ■ Kurse des Bundesamts für Bevölkerungsschutz ■ www.nnpn.ch → Downloads → Einsatzrichtlinien und
Ausbildungsstandards ■ www.saez.ch → 2005 → Nr. 15 → Übersicht über
die psychologische Nothilfe ■ www.bevoelkerungsschutz.ch ■ www.psychologie.ch
wobei vor allem der kognitive Austausch über die psychischen Aspekte deutlich ausgebaut ist. Die Anordnung der genannten Massnahmen ist Führungssache, wobei die Teilnahme am Defusing freiwillig ist. Der Peer sorgt dafür, dass alle Kollegen, auch Chefs, hospitalisierte Kollegen und allenfalls Familienangehörige, adäquat betreut werden.
Einzelgespräche
In Einzelgesprächen mit belasteten Kollegen kann der
Peer helfen, die Erinnerungen an die Situation und deren
Verhalten kognitiv zu ordnen. Falls die geschilderten
Massnahmen nicht den gewünschten Erfolg zeigen soll-
ten, ist der Beizug einer traumatologisch geschulten
Fachperson notwendig.
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Dr. med. Lorenz Richner Psychiatrie und Psychotherapie FMH Fachperson Psychologische Nothilfe mit Zusatzausbildung
Psychiater in freier Praxis Schauplatzgasse 23 3011 Bern
Interessenkonflikte: keine
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Psychologische Nothilfe im Einzelsetting
Ein Fallbeispiel
Das Ereignis
Ein erfahrener Pilot stürzt in seinem Kleinflugzeug kurz nach dem Start ab. Seine Familienangehörigen und sein bester Freund, Flieger- und Berufskollege Herr Flug, schauen zu. Dieser rennt sofort mit dem Feuerlöscher zur Absturzstelle und sieht die grausigen Verletzungen an Kopf und Extremitäten seines offensichtlich getöteten Vertrauten. Zu löschen gibt es nichts, für seinen Freund kann er auch nichts mehr tun. Bei meinem Eintreffen wenige Stunden später sind die Einsatzkräfte (Polizei, Feuerwehr) vor Ort. Die Familie des Opfers wird von einem meiner Kollegen betreut. Ich bekomme den Auftrag, mich um den Pilotenkamerad zu kümmern.
Mein Vorgehen Eindruck bei Kontaktaufnahme
Der Betroffene, Herr Flug, wirkte zwar gefasst, aber etwas «verloren». Gefangen in seinen Gefühlen, war er nur vermindert erreichbar.
Äussere Sicherheit Nach der Begrüssung des Betroffenen begab ich mich mit ihm in die Pilotenkantine. Dies ist einen Ort in der Nähe des Unglücksorts, welcher einen gewissen Komfort (warm, trocken, Verpflegung) bietet und in welchem das äussere Geschehen nicht wahrnehmbar ist. Herr Flug bot mir einen Kaffee an, welchen ich wegen der adrenergen Wirkung ablehnte. Wir tranken Wasser.
Joining Herr Flug schilderte mir seine Beziehung zum Verstorbenen und dessen Familie. Sie waren seit Jahren privat und beruflich enge Freunde. Ich zeigte dem Betreuten meine Anteilnahme.
Würdigung des Einsatzes Herr Flug hatte nicht «nichts» getan, sondern völlig richtig alles das, was er konnte: Geistesgegenwärtig nahm er beim Losrennen den Feuerlöscher mit, während des Hinrennens überlegte er, welche Situationen er möglicherweise antreffen würde und was er jeweils tun könnte. In der Diskussion kam er zur Einsicht, dass in dieser Lage kein Mensch mehr tun kann.
Kognitive Rekonstruktion des Ereignisses Um dem Geschehenen seinen Charakter als überwältigendes Ereignis zu nehmen und es kognitiv besser einordnen zu können, rekonstruierten wir den Flug mit allen uns zur Verfügung stehenden Informationen (Kenntnis des Piloten und des Flugzeuges, Motorengeräusche, Flugverhalten, Umweltbedingungen usw.). Am Ende waren Herrn Flug die Abläufe bis auf wenige nun klar formulierte Fragen nachvollziehbar.
Versuch der Einordnung Anhand der Fotogalerie in der Kantine verglichen wir das soeben Geschehene mit früheren Unfällen, zu denen der Betreute einen Bezug hat. Schliesslich war auch emotional klar, dass Flugunfälle – bei aller Tragik und Trauer – zu dem tollen Hobby gehören, also kein unfassbarer und unerklärlicher Schicksalsschlag sind.
Suche nach Tröstlichem «Immerhin war es ein rascher Tod – und kein Brand». Die freundschaftliche Beziehung zur Familie wird überdauern.
Abschätzen der psychischen Stabilität Herr Flug war gegen Ende der Betreuung kognitiv klar, emotional traurig, aber nicht mehr überwältigt vom Ereignis, und wirkte psychisch stabil und «vertragsfähig». Im Kontakt war Herr Flug wieder normal spürbar. Der übrige Psychostatus, inklusive Suizidalität, war unauffällig.
Planung der nächsten Stunden und Tage Herr Flug hatte bereits vor dem Unfall einen Besuch bei seinen Eltern vereinbart gehabt. Am nächsten Tag würde er an seinen Wohnort fahren, wo er sozial gut integriert sei. Auch an der Arbeit «sind wir wie eine enge Clique». Damit war die Wiederherstellung der Normalität (als strukturierende Stütze) einfach und die Vernetzung bereits gegeben.
Abschluss Herr Flug schien meine Informationen über mögliche noch auftretende Symptome zu verstehen. Ebenso glaubte er meine psychoedukativen Informationen bezüglich Lebensführung und Abstinenz von psychotropen Substanzen (inkl. Psychopharmaka) in den nächsten Tagen gut umsetzen zu können. Eine weitere Betreuung schien nicht nötig. Für allfällige Fragen gab ich ihm einige Telefonnummern.
Abschied Herr Flug wirkte zwar traurig, aber deutlich entspannter. Er zeigte sich froh über das Gespräch.
Nach der Flugzeugkatastrophe: Blumen liegen neben der Turbine. (Bodensee, 2002; Quelle: dpa-Bildarchiv)
Bemerkungen
Geschulten Lesern werden einige Unterschiede zu einem therapeu-
tischen Gespräch auffallen: Ein zwar empathisches, aber streng
kognitives Vorgehen sollte dem Betroffenen gedankliche Struktur
geben, sodass er weniger von Affekten beherrscht würde.
Herr Flug gab mir bereitwillig die Erlaubnis zur Publikation dieses
Textes.
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