Transkript
STUDIE REFERIERT
Höhere Lebenserwartung für HIV-Patienten
Frühe Therapie bringt mehr Lebensjahre
Die Entwicklung der Mortalitätsraten bei HIV-Patienten in Grossbritannien belegt, dass deren Lebenserwartung mittlerweile deutlich gestiegen ist. Sie liegt aber immer noch unter derjenigen der Allgemeinbevölkerung.
BMJ
Die Autoren werteten die Daten von HIV-Patienten aus, die in der UK Collaborative HIV Cohort (UK CHIC) Study zwischen 1996 und 2008 mit einer retroviralen Therapie bei einem CD4-Spiegel von ≤ 350 Zellen/mm3 begonnen hatten. Von der Analyse ausgeschlossen wurden Personen mit vermutetem Drogenmissbrauch, unter 20-Jährige oder Patienten mit unvollständigen Datensätzen. Insgesamt kamen damit 17 661 Personen für die Studie infrage. Endpunkt war die statistische Lebenserwartung eines/einer exakt 20-Jährigen, das heisst: Wie viele weitere Lebensjahre sind zu erwarten? Verglichen wurden die Lebenserwartungen bei Patienten, die von 1996 bis 1998 oder von 2006 bis 2008 mit antiretroviralen Medikamenten behandelt worden waren, sowie die Lebenserwartung von Männer und Frauen unter antiretroviraler Therapie. Ausserdem wurde die Lebenserwartung in Abhängigkeit des CD4-Werts zu Beginn der antiretroviralen Therapie ermittelt.
Merksätze
Die Lebenserwartung 20-jähriger HIVPatientinnen und -Patienten unter antiretroviraler Therapie stieg von 1996/98 bis 2006/08 um durchschnittlich 16 Jahre, nämlich von 30 Jahren (1996– 1998) auf 45,8 Jahre (2006–2008). Während 1996/98 nur 60,8 Prozent der 20-jährigen HIV-Infizierten damit rechnen durften, den 44. Geburtstag noch zu erleben, waren es 2006/08 schon 83,2 Prozent.
Männer sterben deutlich früher Es zeigte sich ein deutlicher Unterschied bezüglich der Lebenserwartung der HIV-infizierten Männer und Frauen. Im Zeitraum 1996 bis 2008 durfte ein 20-jähriger HIV-Patient mit weiteren 39,5 Jahren rechnen (normal wären 57,8 Jahre), eine HIV-infizierte Frau jedoch mit 50,2 weiteren Lebensjahren (normal wären 61,6 Jahre). Bei den HIV-Infizierten ist der ohnehin schon bestehende Unterschied in der Lebenserwartung von Männern und Frauen also noch ausgeprägter als in der Allgemeinbevölkerung. Die Lebenserwartung eines HIV-infizierten Mannes liegt 18,3 Jahre unter dem Bevölkerungsdurchschnitt, bei den Frauen sind es 11,4 Jahre. Als Gründe kommen nach Ansicht der Studienautoren mehrere Faktoren infrage. So hätten HIV-infizierte Männer eher einen gesundheitsschädlichen, riskanten Lebensstil als Frauen, und bei den Frauen würde die HIV-Infektion durch das routinemässige Screening bei Schwangerschaft eher entdeckt und dementsprechend früher behandelt.
❖ Eine möglichst frühe antiretrovirale Therapie steigert die Lebenserwartung HIV-Infizierter.
❖ Frauen haben eine bessere Prognose als Männer.
Heutzutage wird früher behandelt Während 1996/98 noch 38 Prozent aller CD4-Tests zu Beginn der antiretroviralen Therapie ein Resultat unter 200 Zellen/mm3 lieferten, waren es 2006/08 nur noch 12 Prozent. Um-
gekehrt stieg die Zahl derjenigen, bei denen zu Beginn der Therapie der CD4Wert noch über 350 Zellen/mm3 lag (34 vs. 65%). Die höhere Lebenserwartung der heutigen HIV-Patienten dürfte zu einem grossen Teil auf der früher einsetzenden Therapie beruhen, weil Patienten mit einem niedrigen Wert (< 200 CD4-Zellen/mm3) mit 10 Jahren weniger rechnen mussten als diejenigen mit 200 bis 350 CD4-Zellen/mm3 zu Beginn der Therapie. Umgerechnet auf die Lebenserwartung des 20-jährigen Modellpatienten bedeutet dies: Zu Therapiebeginn < 100 CD4-Zellen/mm3 rauben 20,9 Lebensjahre, bei < 200 CD4-Zellen/mm3 sind es 17,8 und bei < 350 CD4-Zellen/mm3 noch 5,4 Jahre. Konsequenzen für die Praxis Die statistischen Zahlenspiele mit dem 20-jährigen Modellpatienten haben einen durchaus realen Hintergrund. Sie machen anschaulich, was eine möglichst frühe HIV-Therapie bewirken kann. Daten aus den Niederlanden und dem europäischen Verbund COHERE (Collaboration of Observational HIV Epidemiological Research in Europe) zeigten überdies, dass heutzutage sogar eine annährend normale Lebenserwartung – zumindest für HIV-infizierte Frauen – möglich scheint. Die Autoren der Studie sprechen sich darum für ein möglichst umfassendes HIV-Screening aus, auch wenn sie die Schwächen ihrer Studie nicht verschweigen. Dazu zählt beispielsweise, dass sie ihre Berechnungen nicht bezüglich Lebensstils und sozio-ökonomischer Faktoren bereinigen konnten, um Risikoprofile klarer zu definieren. Auch sei klar, dass nicht nur die neuen HIV-Medikamente, sondern nicht zuletzt auch die gewachsene Erfahrung der Ärzte in der Behandlung von HIVPatienten beträchtlich zur gestiegenen Lebenserwartung beigetragen hat, schreiben Erstautorin Margaret May und ihre zahlreichen Ko-Autoren. ❖ Renate Bonifer May M et al.: Impact of late diagnosis and treatment on life expectancy in people with HIV-1: UK Collaborative HIV Cohort (UK CHIC) Study. BMJ 2011; 343: d6016 doi: 10.1136/bmj.d6016. Interessenlage: Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Die Studie wurde vom UK Medical Research Council finanziert. ARS MEDICI 4 ■ 2012 185