Transkript
STUDIE REFERIERT
Antidepressiva und Schmerzselbstmanagment bei muskuloskeletalen Schmerzen
Randomisierte kontrollierte Studie bei allgemeinmedizinischen Patienten
Schmerz und Depression kommen
in der Primärversorgung durchaus
oft zusammen vor. Bei Patienten
mit Depression und Schmerzen in
Lumbalbereich, Hüfte oder Knie
wurde der Stellenwert einer kom-
binierten, pharmakologischen und
verhaltenstherapeutischen Inter-
vention mit einer Standardbehand-
lung verglichen.
JAMA
Bei ambulanten Patienten sind Schmerzen das häufigste somatische Symptom und eine Depression die häufigste psychische Störung. Beide kommen in der Praxis oft zusammen vor (in 30 bis 50%). Diese Kombination hat weitreichende, ungünstige Auswirkungen auf Lebensqualität und Behinderung der Betroffenen sowie auf die Gesundheitskosten. Es ist nahe liegend, von einer kombinierten Therapie bei muskuloskeletalen Schmerzen und gleichzeitiger Depression eine Synergie zu erwarten. Bei Depressionen sind Antidepressiva eine etablierte Therapie, bei den häufigen durch degenerative Veränderungen hervorgerufenen Schmerzen im Lendenbereich sowie an Hüfte oder Knie haben
sich Anleitungen zum Schmerzmanagement durch die Betroffenen als effektiv erwiesen. Die Stepped-Care-for-AffectiveDisorders-and-Musculosketal-Pain(SCAMP-)Studie wollte dies unter praxisnahen Bedingungen überprüfen.
Methodik Die Patienten wurden in 2 Netzwerken mit insgesamt 11 Ambulatorien in der Agglomeration von Indianapolis, USA, rekrutiert. Einschlusskriterien waren das Vorliegen von Schmerzen mindestens mässiger Intensität in Kreuz, Hüfte oder Knie trotz adäquater konventioneller analgetischer Behandlung mit mindestens zwei Analgetika während drei oder mehr Monaten sowie einer ebenfalls mit einem spezifischen Fragebogen quantifizierten Depression mindestens mittlerer Intensität. Die Patienten wurden sorgfältig randomisiert entweder einer Intervention oder der Standardbetreuung zugeteilt. Die Intervention bestand während der ersten 3 Monate in einer optimierten Antidepressivabehandlung, in einem zweiten Schritt in 6 Sitzungen eines Schmerz-Selbstmanagement-Programms während der anschliessenden 3 Monate. Die letzten 6 Monate bildeten eine Fortsetzungsphase mit Rückfallprävention. Bei Patienten, die schon unter Antidepressiva standen, aber gemäss Einschlusskriterien immer noch depressiv waren, wurden Dosisanpassungen oder Wirkstoffwechsel vorgenommen. Ebenso wie bei den antidepressivanaiven Patienten kam in erster Linie ein kombinierter Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-
hemmer (SNRI) zum Einsatz, da diese Wirkstoffgruppe besonders auf für Schmerz relevante absteigende, hemmende Bahnen einwirken soll. Als am häufigsten verschriebene und absehbar generisch erhältliche Substanz kam zunächst Venlafaxin (Efexor® oder Generika) zum Einsatz. Abhängig von der klinischen Konstellation sah die SCAMPStudie aber auch weitere Antidepressiva vor (Tabelle). Im Schmerz-Selbstmanagement-Programm erhielten die Patienten Grundwissen über chronischen Schmerz, zum Beispiel Triggermechanismen und Exazerbationen, erlernten Bewältigungsstrategien für Angst und andere negative Emotionen und übten wichtige Vorkehren wie körperliche Aktivität, Muskelentspannung, tiefes Atmen, Ablenkung, Schlafhygiene und den Umgang mit Medizinalpersonal und Arbeitgebern. In der Kontrollgruppe erfuhren die Patienten lediglich, dass sie an einer Depression litten und ärztlichen Rat einholen sollten. Hauptsächliche Outcome-Messwerte waren Depression (gemessen mit der 20item-Hopkins-Symptom-Checklist), Schweregrad und Behinderung durch Schmerz (gemessen mit dem Brief Pain Inventory) sowie globale Besserung des Schmerzes nach 12 Monaten.
Merksätze
■ Die randomisierte, kontrollierte SCAMPStudie prüfte bei Patienten mit chronischem Schmerzsyndrom und Depression eine Intervention, die sich aus der Optimierung der Antidepressivabehandlung und einem Selbstmanagementprogramm zum Umgang mit Schmerzen zusammensetzte.
■ Diese Intervention führte im Vergleich zur Standardbetreuung zu einer substanziellen Besserung der Depression und zu mässigen Reduktionen beim Schweregrad der Schmerzen und bei der Behinderung.
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STUDIE REFERIERT
Tabelle: Auswahl und Dosierung der Antidepressiva in der SCAMP-Studie
Priorität Indikationen und Vorsichtsmassnahmen
Wirkstoff- Medikament klasse
Anfangs- Steigerungs-
dosis
möglichkeiten
1 Vermeiden bei kardiovaskulären Erkrankungen, SNRI abnormem EKG, schlecht kontrollierter Hypertonie
Venlafaxin (Efexor® oder Generika)
75 mg
150, 225 mg
2 SSRI der Wahl
SSRI Fluoxetin
20 mg 30, 40 mg
(Fluctine® oder Generika)
2 SSRI der Wahl bei kardiovaskulären Erkrankungen SSRI
Sertralin (Zoloft® oder Generika)
50 mg
100, 150 mg
3 Wenn Therapie mit dem ersten SSRI (Fluoxetin SSRI Citalopram
20 mg 30, 40 mg
oder Sertralin) versagt hat
(Seropram® oder Generika)
4 Falls Fettsucht, Gewichtszunahme oder sexuelle andere Bupropion
Nebenwirkungen
(Wellbutrin® XR)
200 mg 300, 400 mg
4 Falls Insomnie ein Problem ist; bei Fettsucht vermeiden
andere
Mirtazapin (Remeron®)
15 mg
30, 45 mg
5 Vermeiden bei kardiovaskulären Erkrankungen, Trizyklika Nortriptylin
abnormem EKG, schlecht kontrollierter Hypertonie
(Nortrilen®)
25 mg
50, 75 mg
SNRI: selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; SSRI: selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
KOMMENTAR
Prof. Dr. Peter Keel, Basel
Der Aufwand für die psychotherapeutische Intervention ist eher bescheiden
Eine beachtenswerte Studie, die zeigt, dass die Kombination von Antidepressiva und Schmerz-Selbstmanagement (d.h. eine vor allem kognitive Psychotherapie) recht gute Erfolge bringen kann. Im Vergleich zu Studien mit «chronischen Schmerzpatienten» (sei es chronischer Rückenschmerz oder Fibromyalgie) sind die Veränderungen erstaunlich gross. Das mag auch daran liegen, dass die Patienten teilweise auch lokale Schmerzsyndrome (Knie, Hüfte) aufwiesen und vermutlich noch nicht sehr chronifiziert waren (Erfassung in Praxisnetzwerken). Der Aufwand für die psychotherapeutische Intervention mit nur 6 Sitzungen ist eher bescheiden und daher wohl auch sehr praktikabel.
Bei der Wahl der Antidepressiva fallen zwei Aspekte auf. Erstens wird Duloxetin (Cymbalta®) gar nicht erwähnt, obwohl es eigentlich als zweite Wahl nach Venlafaxin (auch ein SNRI) gelten müsste. Vielleicht verzichtete man darauf wegen den häufigeren Problemen mit der Verträglichkeit, trotz der nachgewiesenen guten Wirkung bei Schmerz und Depression. Zweitens wird als fünfte Priorität mit Nortriptylin (Nortrilen®) ein trizyklisches Antidepressivum eingebracht, welches bei uns — wohl zu Unrecht — in Vergessenheit geraten ist. Sein Wirkprofil — laut Arzneimittel-Kompendium — macht deutlich, weshalb ihm eigentlich gegenüber dem Amitriptylin der Vorzug gegeben werden sollte: «Wegen seiner relativ niedrigen anticholinergen Potenz und weil es im Gegensatz zu anderen trizyklischen Antidepressiva einen nur leichten orthostatischen Blutdruckabfall verursacht (und auch weniger stark sedierend ist), ist Nortrilen oft das bevorzugte Präparat bei älteren Patienten». Das Gleiche gilt für Schmerzpatienten, welche die Nebenwirkungen oft schlecht ertragen. ■
Resultate Nach 12 Monaten hatten 46 von 123 Patienten in der Interventionsgruppe (37,4%) eine mindestens 50-prozentige Reduktion der Depression, im Vergleich zu 21 von 127 (16,5%) in der Kontrollgruppe. Dies entspricht einem relativen Risiko [RR] von 2,3 (95%-Konfidenzintervall [KI] 1,5– 3,2) und auch einer viel geringeren Zahl von Patienten mit Major Depression (40,7 vs. 68,5%; RR 0,6; 95%-KI 0,4–0,8). Bei den Patienten der Interventionsgruppe war auch eine signifikante (≥30%) Reduktion der Schmerzen wesentlich wahrscheinlicher (41,5 vs. 17,3%; RR 2,4; 95%-KI 1,6–3,2), ebenso wie eine globale Besserung der Schmerzen (47,2 vs. 12,6%; RR 3,7; 95%-KI 2,3–6,1). Auch der primäre Outcome – die Kombination von Linderung der Depression und Besserung bei den Schmerzen – wurde in der Interventionsgruppe häufiger erreicht (26,0 vs. 7,9%; RR 3,3; 95%-KI 1,8–5,4). Trotz nicht ganz vollständiger Follow-up-Daten zum Antidepressiva-
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STUDIE REFERIERT
konsum halten die Autoren fest, dass mindestens ein Drittel der Patienten innerhalb der 12 Monate entweder das Antidepressivum gewechselt oder ein weiteres hinzubekommen hatte. Bei den Patienten unter Monotherapie betrug die mittlere Dosis für Venlafaxin 147 mg, Sertralin 140 mg, Bupropion 295 mg, Mirtazapin 36 mg und für Fluoxetin 27 mg.
Schlussfolgerungen Drei Punkte heben die Autoren besonders hervor. Erstens hat die Kombination von optimierter Antidepressivatherapie und Selbstmanagementprogramm in der SCAMP-Studie nicht nur zu substanziellen Reduktionen der Depression geführt, sondern auch höhere Response- und Re-
missionsraten erzielt. Zweitens führte die kombinierte Intervention auch zu mässigen Reduktionen der Scores von Schmerzschweregrad und -behinderung. Drittens liessen sich die Behandlungsnutzen sowohl auf Schmerzlinderung wie Depressionbeeinflussung über 12 Monate aufrechterhalten, auch im zweiten Halbjahr in der Fortsetzungsphase. Hinsichtlich der Beeinflussung der Depression war die Effektgrösse in der SCAMP-Studie ähnlich wie bei vergleichbaren ambulanten Patienten ohne gleichzeitiges chronisches Schmerzsyndrom. Das bessere Abschneiden in der Interventionsgruppe könnte darauf beruhen, dass diese Patienten Antidepressiva län-
ger einnahmen als in der Kontrollgruppe
(9,2 vs. 2,0 Monate), auch noch nach
12 Monaten viel häufiger ein Antidepres-
sivum einnahmen (66,7 vs. 4,7%) und
dass bei ihnen auch doppelt so oft eine
Anpassung der antidepressiven Medika-
tion (Dosisanpassung, Präparatwechsel)
erfolgte (35 vs. 17%).
■
Halid Bas
Kurt Kroenke et al.: Optimized antidepressant therapy and pain self-management in primary care patients with depression and musculoskeletal pain. JAMA 2009; 301 (20): 2099—2110.
Interessenlage: Die Studie wurde durch das National Institute of Mental Health gesponsert. Mehrere Autoren deklarieren Forschungs- und Beratungsgelder von verschiedenen Pharmafirmen mit Interessen in der Rheumatologie und Schmerzforschung.
BEKANNTMACHUNG
8. Zürcher Review Kurs in Klinischer Kardiologie
Donnerstag bis Samstag, 22. bis 24. April 2010
Kongresslokalität Swissôtel Zürich Oerlikon Am Marktplatz Oerlikon 8050 Zürich http://zurich.swissotel.com
ReferentInnen Insgesamt ca. 50 Referenten: Kardiologen aus der ganzen Schweiz, Europa und den USA (Mayo Clinic)
Sprachen Deutsch und Englisch
Zielgruppe Kardiologen, Internisten, interessierte Allgemeinpraktiker, Endokrinologen, Nephrologen
Veranstalter
HerzGefässStiftung Zürich, Klinik im Park Mayo Clinic, Rochester MN, USA
Wissenschaftliche Leitung
Prof. Dr. med. Ch. Attenhofer Jost, HerzGefässZentrum Zürich, Klinik Im Park Prof. Dr. med. A.J. Tajik, Mayo Clinic, Rochester MN, USA Prof. Dr. med. H. Connolly, Mayo Clinic, Rochester MN, USA
Organisation
CONTENT GmbH Frau Simone Abegg Eggenwilerstrasse 13a, 5620 Bremgarten Tel. 056 648 28 00, Fax 056 648 28 01 E-Mail: simone.abegg@contenter.ch Internet: www.contenter.ch
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