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Elternratgeber
Bettnässen – der Schrecken beim Aufwachen
Bettnässen bei Kindern ist häufig und meist ungefährlich, löst jedoch bei Kindern wie Eltern eine Menge Frust und Schuldgefühle aus. In vielen Fällen hört es von alleine wieder auf, daneben gibt es auch nützliche Hilfsmittel.
von Alexandra Suter
M ichaels Bett ist morgens häufig nass. Weil sich in der Nacht seine Blase von selbst geleert hat und er davon nicht aufgewacht ist. Michael schämt sich, er kommt sich vor wie ein Kleinkind, obwohl er eben seinen achten Geburtstag gefeiert hat. Aufs bevorstehende Klassenlager freut er sich nicht. Er sieht sich schon jetzt nächtelang wach liegen, um zu verhindern, dass das Bett nass wird. Sich seinen Kameraden als Bettnässer zu erkennen geben – nein danke.
Nicht gefährlich, aber unangenehm
Bettnässen ist noch immer tabu: Die Betroffenen meinen, die jeweils Einzigen weit und breit zu sein, welche während der Schlafenszeit die Blase nicht kontrollieren können. Doch weit gefehlt: Jedes zehnte Kind im Alter von sechs Jahren ist davon betroffen, bei den Zehnjährigen sind es sechs von Hundert. Unter den Knaben gibt es mehr Bettnässer als bei den Mädchen, das Verhältnis beträgt etwa sechs zu vier. Was ist diese häufige Erscheinung überhaupt? Von «Enuresis nocturna», zu Deutsch «Bettnässen», spricht man, wenn sich regelmässig und vorwiegend nachts unwillkürlich die Blase leert. Da die meisten Kinder etwa mit vier Jahren trocken werden, wird erst von Bettnässen gesprochen, wenn es mit der Blasenkontrolle ab dem fünften Lebensjahr nicht klappt. Primäres Bettnässen liegt vor, wenn ein Kind nie gelernt hat, trocken zu bleiben. Um sekundäres Bettnässen handelt es sich, wenn Kinder plötzlich wieder nässen, nachdem sie einige Monate oder Jahre aus den Windeln heraus waren. Bettnässen ist in der Regel keine Störung, welche die Gesundheit bedroht. Doch es kann für Kind und Eltern zur Belastung werden: Verständlich, dass wer den Haushalt besorgt, sich über häufiges Waschen und nasse Matratzen ärgert. Viele Eltern bekommen es mit Schuldgefühlen zu tun, vielleicht weil sie einmal zu viel mit dem bettnässenden Kind geschimpft haben. Für Kinder fängt der Leidensdruck richtig an, wenn sie zur Schule kommen. Sie wollen sich nicht mit dem Tragen von Windeln lächerlich machen. Bettnässen kratzt am Selbstbewusstsein.
Wie der Vater und die Tante
Über die Ursachen des Bettnässens gibt es bis heute keine Klarheit. Sicherlich
spielen mehrere Faktoren zusammen. Studien konnten bisher einzig belegen, dass die Gene eine bedeutende Rolle spielen. Fast immer nämlich hatten sich bereits nahe Verwandte mit dem Problem des Bettnässens herumschlagen müssen. Manche Fachleute haben zudem eine physiologische Erklärung für das Phänomen: Bei BettnässerInnen werde das Anti-Diurese-Hormon (ADH) zuwenig produziert, welches dafür zuständig ist, während der Nacht die Urinproduktion der Nieren zu vermindern. Auf diese Weise fülle sich die Blase – und entleere sich unwillkürlich. Warum allerdings die BettnässerInnen keinen Harndrang verspüren und darum nicht aufwachen, bleibt unklar. An organischen Störungen wie etwa Tumoren oder Missbildungen liegt es in den allermeisten Fällen nicht. Und Beweise für psychische Ursachen gibt es keine. Allerdings scheint die psychische Verfassung in manchen Fällen durchaus eine Rolle zu spielen.
Wenn äussere Umstände mitspielen
Besonders wenn ein Kind bereits gelernt hat, nachts trocken zu bleiben, können belastende Lebensumstände wie zum Beispiel die Geburt eines Geschwisters, Ehescheidung oder Umzug mitspielen (sekundäres Bettnässen). Diese Vermutung liegt auch bei Silvio nahe: Er hatte sich vor zweieinhalb Jahren vollständig von den Windeln verabschiedet, vor einem halben Jahr jedoch war der Erstklässler eines Morgens in nassen Bettlaken erwacht, was sich bald wiederholte. «Silvio fühlt sich seit einiger Zeit von der Schule überfordert», sagt seine Mutter und vermutet einen Zusammenhang mit dem Bettnässen. Während der Schulferien im Sommer war Silvios Bett meistens trocken geblieben. Sobald die Schule wieder angefangen hatte, kehrte das Bettnässen zurück. Ein paar Wochen
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später jedoch war wieder Schluss damit – ganz von alleine. Auch Zahlen sprechen dafür, dass das Bettnässen häufig nach einiger Zeit von selbst verschwindet: Jährlich werden 15 von 100 Kindern von selbst trocken.
Wer nicht warten will – wie behandeln?
Nicht alle wollen warten, bis das lästige Problem Bettnässen selbst aufhört. Was tun, wenn Gefühle der Ohnmacht aufkommen? Betroffene sollen sich dann ärztlich untersuchen und beraten lassen, wenn das Kind seelisch unter dem Bettnässen zu leiden beginnt. Wo familiäre Spannungen (Trennung, Geschwisterrivalitäten) bestehen, wo ein Kind persönliche Probleme hat (Prüfungsängste, Geplagtwerden durch andere Kinder), empfiehlt sich eine psychologische Beratung. Manchmal kann schon helfen, wenn die Eltern selbst mit dem Kind über allfällige Schwierigkeiten sprechen und mit ihm einen Plan aufstellen, welche konkreten Gegenmassnahmen sich eignen würden. Die Medizin hat hauptsächlich zwei Me-
thoden gegen das nächtliche Bettnässen zur Auswahl: zum einen ein ADH-ähnliches, rezeptpflichtiges Medikament mit dem Wirkstoff Desmopressin, das in Form eines Nasensprays oder Tabletten abends vor dem Schlafengehen angewendet wird und bewirkt, dass die Nieren weniger Urin produzieren (Wasser wird im Körper zurückgehalten). Wenn die PatientInnen auf das Medikament ansprechen (in etwa 60 Prozent der Fälle), hört das Bettnässen auf. Allerdings nur so lange, wie das Medikament eingenommen wird. Hilfe bietet auch ein Weckgerät: Es handelt sich um einen kleinen Apparat, der je nach Modell am Pyjama-Oberteil getragen wird oder in Reichweite liegt. Sobald einige Tropfen Urin in Kontakt mit dem Befeuchtungsmesser kommen, der am Slip oder auf einer Betteinlage befestigt ist, piepst es laut. Durch das Erwachen stoppt der Urinfluss, es bleibt Zeit, um auf die Toilette zu gehen. Beim Weckgerät steht die Idee vom eigenverantwortlichen Handeln im Vordergrund. Es hilft dem Kind, sein Problem selbst in den Griff zu bekommen. Nach einiger Zeit und meist einigen Fehlversuchen merkt die bettnässende Person selbst, wenn sich die Blase meldet. Sieben von zehn Kinder werden mit dem Gerät nach zwei bis drei Monaten trocken.
In Eigenregie gegen das Bettnässen
Oft können bereits einfache Methoden hilfreich sein, oder sie ergänzen die fachliche Hilfe:
Toilette: Vor dem Schlafen nochmals gehen. Variante Autogenes Training: Auf dem Bett liegend die Augen schliessen, sich vorstellen, es sei Nacht und man/frau schlafe. Die volle Blase spüren und das Bedürfnis, Wasser zu lösen. Die Augen öffnen, aufstehen und auf die Toilette gehen. Fördert Körpergefühl. Wecker: dem Kind einen eigenen besorgen. Es kann so die Verantwortung fürs Aufstehen selbst übernehmen. Kalender: Darauf die nassen/trockenen Nächte eintragen (Wolke/Sonne). Unterstützt den Lernprozess zusätzlich. Anatomie: Dem Kind die Funktionsweise der Blase erklären. So weiss es,
Service
Windelhöschen: z.B. «DryNites» für Kinder bis über 10 Jahre, auch in der Migros erhältlich.
Die Krankenkassen-Grundversicherung übernimmt die ärztlich verordnete Behandlung von Bettnässen wie Medikamente oder die Miete eines Weckgerätes.
Bücher zum Thema: Urs Eiholzer: «Über das Bettnässen und wie man es los wird». Verlag Hans Huber, 2000. Fr. 26.–. ISBN: 3-456-82-648-6. Der erste Teil des Buches richtet sich an Kinder und Eltern, der zweite an ÄrztInnen. Alexander von Gontard: «Bettnässen – Verstehen und behandeln». Walter-Verlag, 2001. Fr. 26.80. ISBN: 3-530-40119-6. Enthält einen Überblick über verschiedene psychologische Behandlungsformen.
was beim Urinieren und Bettnässen passiert. Vererbung: Das Kind einen Stammbaum zeichnen lassen, in dem es Verwandte eintragen kann, die von Bettnässen betroffen/nicht betroffen waren. Nimmt das Schamgefühl. Windeln: Nützlich, wenn ein Kind noch nicht bereit ist, trocken zu werden. Für ältere Kinder sind Windeln beim Auswärtsschlafen (z.B. Ferien) praktisch.
Nicht alle kursierenden Tipps gegen das Bettnässen sind empfehlenswert: Beim so genannten Blasentraining soll das Kind den Harndrang eine Zeitlang zurückzuhalten, um so angeblich die Muskulatur zu stärken. Doch häufig sind Verkrampfungen die Folge. Auch auf keinen Fall schon am Nachmittag aufs Trinken verzichten! Genügend Flüssigkeit ist wichtig! Zudem sollen Eltern ihr Kind nicht wecken und auf die Toilette schicken, bevor sie selbst zu Bett gehen. Das Kind soll lernen, das Problem selbst in den Griff zu bekommen. Ebenfalls keinen Sinn machen Bestrafungen, da niemand am Bettnässen schuld ist. Nützlicher ist, wenn dem Kind bewusst wird, was es gewinnt, wenn es trocken wird.
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