Transkript
Gastroenterologie
Zöliakie: mal so, mal anders
In den letzten zehn Jahren
wurde die Zöliakie zunehmend
häufiger diagnostiziert als
früher und zeigt sich auch bei
Kindern mehrheitlich oligo-
oder asymptomatisch. Deshalb
ist es wichtig, dass Kinderärzte
das komplexe Spektrum der
Erkrankung kennen und auch
bei atypischen Symptomen eine
Zöliakie in Erwägung ziehen.
von Regula Patscheider
Z öliakie, auch als glutensensitive Enteropathie oder einheimische Sprue bezeichnet, ist die häufigste chronische Dünndarmerkrankung. Sie wurde weltweit beschrieben und kann bei genetisch prädisponierten Personen in jedem Alter durch Beschwerden auffallen. Die immunologischen Vorgänge sind noch nicht vollständig geklärt. Durch die Einnahme glutenhaltiger Nahrungsmittel kommt es zu einer charakteristischen Entzündung und variablen Degeneration der Dünndarmschleimhaut. Die Folge davon ist Malabsorption mit klassischen gastrointestinalen, aber auch atypischen oder fehlenden Symptomen. Gluten ist der Sammelbegriff für die alkohollöslichen Prolamine im Kleberprotein von Getreiden wie Weizen, Gerste, Dinkel und Roggen.
Häufig: asymptomatische Zöliakie
Die klassische Präsentation mit Durchfall, Blähbauch, rezidivierenden Bauchschmerzen, Gedeihstörungen und Irrita-
bilität – ausgehend von Erfahrungen bei Kleinkindern – sieht man heute nur noch selten. Bei über 60 Prozent der Diagnostizierten verläuft die Erkrankung atypisch mit extraintestinalen, oft wenig ausgeprägten Symptomen. Auch in der Schweiz ist die asymptomatische Zöliakie verbreitet. Eine Studie mit 1450 Ostschweizer Jugendlichen ergab eine Prävalenz von 1:132. Das Fehlen von subjektiv erkennbaren Symptomen, einer Familiengeschichte mit Zöliakie oder anderen Risikofaktoren macht es schwierig, diese Form von Zöliakie zu erkennen. Nur ein Screening der Gesamtpopulation würde dies ermöglichen, ist aber durch ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht gerechtfertigt. Konsequent gescreent werden sollten jedoch die Risikogruppen: Personen mit einem Fall von Zöliakie in der Familie, Patienten mit Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes, Autoimmunthyreoiditis, chronischen Lebererkrankungen oder Dermatitis herpetiformis sowie Personen mit Sjögren-, Down- und TurnerSyndrom. Ebenso getestet werden sollten Patienten mit suggestiven Symptomen wie Anämie, Entwicklungsretardierung, kryptogener Osteoporose, Zahnschmelzdefekten, veränderten Leberwerten, IgAMangel oder Depression, Epilepsie, Ataxie und anderen psychischen beziehungsweise neurologischen Störungen.
Lebenslang glutenfreie Diät
Die bisher einzige Therapie ist eine lebenslange glutenfreie Ernährung. Das bedeutet konsequenter Verzicht auf sämtliche glutenhaltigen Getreide sowie alle daraus hergestellten Nahrungsmittel. Das erfolgreiche Diätmanagement verlangt viel Wissen, ist aufwändig und mit sozialen Einschränkungen und Mehrkosten verbunden. Generell müssen sämtliche Speisen und beim Einkaufen jede Deklaration genau überprüft werden. Probleme im Alltag bereiten fehlende Deklarationen im
Service
Adressen:
Deutschschweiz: www.zoeliakie.ch Romandie: www.coeliakie.ch Tessin: www.celiachia.ch
Klub der unter 30-Jährigen: www.zoeliakieclub.ch
Rezepte mit Beratung auf Anfrage: www.glutenfreie-rezepte.ch
Weiterbildung:
20. Jahrestagung der Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung GPGE: Universität Basel, 10.–12. März 2005; Zöliakie ist ein Hauptthema
Offenverkauf, Rezepturänderungen, Essen auswärts, auf Reisen und im Ausland sowie von Natur aus glutenfreie Nahrungsmittel, die während der Verarbeitung mit Gluten kontaminiert werden können. Als idealer technischer Hilfsstoff ist Gluten in über 70 Prozent aller maschinell hergestellten Nahrungsmittel enthalten und kann auch in Medikamenten «versteckt» vorhanden sein. Gewähr bieten die regelmässig kontrollierten Spezialprodukte mit der durchgestrichenen Ähre auf der Verpackung (Grenzwert: 20 mg Gluten pro 100 g Trockenmasse). Im Zweifelsfall sollte man den Produzenten, die Ernährungsberaterin oder die Zöliakiegesellschaft fragen beziehungsweise das Produkt weglassen.
Unerwünschte Spätfolgen
Die Dauer der Glutenexposition korreliert mit einer Zunahme von organischen Folgeerkrankungen und assoziierten Autoimmunerkrankungen. Neue Studien belegen, dass das intestinale Karzinomrisiko bei unbehandelter Zöliakie insbesondere für T-Zell-Lymphome erhöht ist, jedoch nicht in dem Ausmass, wie früher postuliert wurde. Unter glutenfreier Diät liegt das Malignomrisiko im Normalbereich.
Literatur bei der Verfasserin
Korrespondenzadresse: Regula Patscheider Ruebsteinstrasse 25 8706 Meilen
E-Mail: regula_patscheider@hotmail.com
23 • Pädiatrie 4/04
Gastroenterologie
Interview mit Prof. Dr. med. Christian P. Braegger
Bei unklaren Beschwerden auch an Zöliakie denken!
PÄDIATRIE: Welches sind die häufigsten Fragen von Eltern, deren Kinder Zöliakie haben? Christian Braegger: Eine der häufigsten ist die Frage nach der Ursache der Zöliakie. Doch diese ist grundsätzlich noch nicht geklärt. Wichtig ist die genetische Disposition: Im Erbgut von Zöliakiepatienten finden sich praktisch immer die Histokompatibilitätsantigene HLADQ2 oder -DQ8 als Voraussetzung, um eine Zöliakie zu entwickeln. Es ist jedoch so, dass rund ein Viertel der Bevölkerung diese Histokompatibilitätsantigene trägt und die meisten dieser Träger trotzdem nie eine Zöliakie entwickeln. Die Gründe dafür kennen wir nicht. Oft wird auch die Frage gestellt, ob die Zöliakie sich «auswachsen» kann. Prinzipiell ist jedoch eine Ausheilung nicht möglich. Bei gewissen Patienten führt eine erneute Glutenexposition nach erfolgreicher Diät sofort zu Reaktionen mit Symptomen, bei anderen kann es länger dauern. Doch die Erfahrung zeigt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zum Rückfall kommt.
Wie soll der Kinderarzt bei Verdacht auf Zöliakie vorgehen? Wenn aufgrund von Symptomen der Verdacht auf Zöliakie besteht oder das Kind einer Risikogruppe angehört, sollen primär in einem guten Labor die serologischen Tests zum Nachweis der spezifischen Antikörper (Anti-GliadinIgA/IgG, Anti-Endomysium-IgA und Anti-Gewebetransglutaminase-IgA) durchgeführt werden. Zusätzlich sollte das Gesamt-IgA bestimmt werden, da Zöliakiepatienten gelegentlich einen selektiven IgA-Mangel haben. Bei positiven oder unklaren serologischen Befunden muss der Patient zur Dünndarmbiopsie an einen Spezialisten überwiesen
werden. Sehr wichtig ist, dass vor der Überweisung keine glutenfreie Diät verordnet wird, da sonst die histopathologischen Befunde nicht mehr klar zu interpretieren sind.
Wie geht es nach der Diagnosestellung weiter? Nach bestätigter Diagnose müssen Patient und Eltern durch eine erfahrene Ernährungsberaterin professionell beraten werden, denn die konsequente Durchführung der glutenfreien Diät im Alltag erfordert eine gründliche Instruktion und Motivation.
Kann bei Kindern in gewissen Fällen auf die Dünndarmbiopsie verzichtet werden? Da die Zöliakie histopathologisch definiert ist, muss eine Dünndarmbiopsie durchgeführt werden, um die Diagnose zu stellen. Sie schafft auch für den Patienten klare Verhältnisse bezüglich Notwendigkeit der Therapie und ist die Voraussetzung für eine anhaltende Diätcompliance.
Welche Nachkontrollen sind nötig? Nach der Diagnosestellung werden allfällige Mangelzustände oder Komplikationen der Zöliakie behandelt und gegebenenfalls kontrolliert. Bei gutem Verlauf empfehlen sich anschliessend jährlich klinische und serologische Kontrollen. Anlässlich dieser Kontrolltermine haben Patient und Eltern immer auch die Gelegenheit, Fragen zur Zöliakie zu stellen.
Ein kritisches Alter für die Diätcompliance ist die Pubertät. Welche Hilfen gibt es zusätzlich zur Ernährungsberatung? Es ist normal, dass sich die Kinder beim Eintritt in die Pubertät gegen Diät- und andere Vorschriften auflehnen. Wichtig ist, mit den Jugendlichen einen offenen
Christian P. Braegger, Leiter Abteilung
Gastroenterologie und Ernährung Universitäts-Kinderklinik Zürich
Umgang zu pflegen. Arzt und Eltern sollten sie dazu ermutigen, offen zu legen, ob sie die Diät einhalten oder nicht. Wenn die Diät nicht oder nur teilweise eingehalten wird, sollte der behandelnde Arzt alle drei Monate eine Antikörperkontrolle durchführen.
Was können Sie den Eltern von Kindern mit Zöliakie generell empfehlen? Die Eltern sollten über die Erkrankung sowie die Handhabung und Bedeutung der glutenfreien Diät gut informiert sein und die Entwicklung des Kindes im Auge behalten. Bei Klein- und Schulkindern ist es sinnvoll, auch das unmittelbare Umfeld über Zöliakie aufzuklären. Jugendlichen Betroffenen sollten die Eltern die Verantwortung für das Diätmanagement übergeben und sie zu den regelmässigem Nachkontroll-Untersuchungen motivieren. Grundsätzlich ist die Mitgliedschaft bei einer der Patientenorganisationen zu empfehlen. Diese geben regelmässig wichtige Informationen an die Mitglieder weiter, vermitteln Kontakte zu anderen Betroffenen und haben oft auch spezielle Angebote für Kinder und Jugendliche.
Was möchten Sie den Kinderärzten speziell ans Herz legen? In der Abklärung von vielen sowohl gastrointestinalen wie auch unspezifischen Beschwerden sollte die Zöliakie in die Differenzialdiagnose einbezogen werden.
Interview: Regula Patscheider
Pädiatrie 4/04 • 24