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STUDIE REFERIERT
Diabetes, Blutzucker und Niereninsuffizienz
HbA1c zwischen 7 und 8 Prozent ist vorteilhaft
Der angemessene Blutzuckerzielwert im Hinblick auf die Nierengesundheit scheint in dem Rahmen zu liegen, der sich bereits in anderen Studien abgezeichnet hat: Allzu tief ist offenbar genauso schlecht wie allzu hoch.
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Dass eine gute Blutzuckerkontrolle die Entwicklung einer Niereninsuffizienz bei Diabetes mellitus verhindern oder zumindest hinauszögern kann, ist bekannt. Ob jedoch Diabetiker, die bereits eine chronische Niereninsuffizienz aufweisen, ebenfalls von einer strikten Blutzuckerkontrolle profitieren könnten, wurde bis anhin noch kaum untersucht. Im Gegenteil: Solche Patienten wurden bei Diabetesstudien in der Regel systematisch ausgeschlossen. Als Richtwert gilt für Diabetiker mit oder ohne Niereninsuffizienz zwar ein HbA1c von 7 Prozent, wirklich evidenzbasiert sei dies aber nicht, so die Autoren einer vor Kurzem in der Zeitschrift «Archives of Internal Medicine» erschienenen epidemiologischen Studie aus Kanada. Das Autorenteam um Sabin Shurraw von den Universitäten Alberta in Edmonton und Calgary versuchte, diese Wissenslücke durch das
Merksätze
Auswerten der Krankenakten von Typ1- und Typ-2-Diabetikern mit verminderter glomerulärer Filtrationsrate (GFR) zu schliessen. Diese Patienten wiesen bei der routinemässigen Untersuchung zwischen 2005 und 2006 eine GFR von weniger als 60 ml/min/1,73 m2 auf. Insgesamt fanden sich in den Krankenakten 21 155 Diabetiker mit einer chronischen Niereninsuffizienz im Stadium 3 (30– 59,9 ml/min/1,73 m2; entspricht einer moderaten Nierenfunktionseinschränkung) und 2141 Diabetiker mit einer chronischen Niereninsuffizienz im Stadium 4 (15–29,9 ml/min/1,73 m2; entspricht einer schweren Nierenfunktionseinschränkung). Über einen mittleren Follow-up-Zeitraum von 46 Monaten wurde der Zusammenhang zwischen HbA1c und den folgenden Parametern betrachtet: Mortalität, Spitaleinweisungen, kardiovaskuläre Ereignisse (Myokardinfarkt, Hirnschlag, Herzinsuffizienz), Nierenversagen (Endstadium), Progression der Niereninsuffizienz (= Verdoppelung des Serumkreatinins bei 2 konsekutiven Messungen). Der mittlere HbA1c-Wert betrug 6,9, und etwa jeder Zehnte hatte ein HbA1c von über 9 Prozent. Zur Berechnung relativer Risiken wurden in jeder Niereninsuffizienzstufe (Stadium 3 oder Stadium 4) je drei Gruppen gebildet: HbA1c < 7, HbA1c 7 bis 9 und HbA1c > 9. Referenzwert (Risiko = 1) war jeweils die Gruppe HbA1c < 7. ❖ Eine bessere glykämische Kontrolle kann bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz zu einer besseren Prognose führen. ❖ Ein HbA1c-Zielwert unter 7 Prozent ist dabei nicht sinnvoll. U-förmige Assoziation von HbA1cWert und Mortalität Unabhängig von der ursprünglichen GFR ergab der Vergleich HbA1c < 7 versus HbA1c 7 bis 9 oder HbA1c > 9 immer ein statistisch signifikantes, erhöhtes relatives Risiko für alle oben genannten Parameter.
Doch die sich anbietende Annahme «je tiefer das HbA1c, umso besser» erwies sich als falsch: Trug man in einem Diagramm die Mortalität nach HbA1c auf, so wurde ein bereits in anderen diabetologischen Studien zu beobachtender Effekt bestätigt, dass sowohl ein relativ hohes wie ein allzu tief angesetztes HbA1c nicht sinnvoll ist (Abbildung): «Eine bessere glykämische Kontrolle bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz der Stadien 3 und 4 geht mit einer besseren klinischen Entwicklung einher, aber eine übermässig intensive Therapie (d.h. HbA1c-Zielwert unter 7%) könnte schädlich sein», schreiben die Autoren der kanadischen Studie. Im Gegensatz zur Mortalität fand sich für die kardiovaskulären Parameter und das Nierenversagen kein erhöhtes Risiko bei den tiefen HbA1c-Werten.
Welche Diabetiker mit Niereninsuffizienz profitieren am meisten? Weniger eindeutig als bei der Mortalität sieht es bezüglich eines allfälligen Zusammenhangs zwischen HbA1c und der Prognose der Niereninsuffizienz aus: Ist es im Niereninsuffizienzstadium 4 vielleicht sowieso schon «zu spät», um mittels Blutzuckerkontrolle die Prognose zu verbessern? Für die Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz im Stadium 3 bei einem HbA1c zwischen 7 und 9 wurde ein um 22 Prozent höheres relatives Risiko für Nierenversagen innert vier Jahren errechnet, für diejenigen mit einem HbA1c über 9 lag es gar um 152 Prozent höher. Für Patienten im Niereninsuffizienzstadium 4 hingegen war die Assoziation mit dem HbA1c weniger beeindruckend: Hier stieg das relative Risiko für Niereninsuffizienz nur um 3 beziehungsweise 13 Prozent. Die Autoren deuten dies als «Point of no return»-Effekt. Sie nehmen an, dass die Nieren bei Patienten im Stadium 4 sowieso bereits dermassen geschädigt sind, dass es auf den Blutzucker offenbar nicht mehr allzu sehr ankommt. In einem Gastkommentar in der gleichen Ausgabe der «Archives of Internal Medicine» warnt der Epidemiologe Dr. David C. Goff Jr. von der Wake Forest School of Medicine, WinstonSalem (USA), jedoch vor allzu raschen Schlussfolgerungen. Er gibt zu bedenken, dass es nur bezüglich des Nieren-
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STUDIE REFERIERT
Hazard Ratio Anteil Patienten (%)
20 1,8
16 1,6
1,4 12
1,2 8
4 1,0
0,9 0 5 6 7 8 9 10 11
HbA1c
Abbildung: HbA1c-Wert und Mortalitätsrisiko in der epidemiologischen Studie von Shurraw et al. 2011; die graue Schattierung markiert das 95-Prozent-Konfidenzintervall. Die roten Balken geben den Anteil der Diabetiker an, die in dieser Studie den entsprechenden HbA1c-Wert aufwiesen.
versagens überhaupt einen statistisch relevanten Unterschied für einen «HbA1cEffekt» gemäss Niereninsuffizienzstadium gegeben habe. Hingegen sei die Risikoassoziation GFR-Rückgang/ HbA1c unabhängig vom Niereninsuffizienzstadium. Es sei doch merkwürdig, so Goff, dass zwei Nierenparameter hier zu unterschiedlichen Resultaten führten. Auch könne bei dem vermeintlichen Unterschied zwischen den Niereninsuffizienzgruppen der Zufall seine Hand im Spiel gehabt haben. Die Statistik zu den insgesamt 7 Parametern in der Stu-
die würde nämlich mit einer einer doch recht beachtlichen Wahrscheinlichkeit von 30,2 Prozent so oder so einen p-Wert von < 0,05 liefern, so Goff. Den durchschnittlichen Leser mögen diese vermutlich korrekten, aber mitunter doch schwer nachvollziehbaren statistischen Überlegungen noch nicht an der klinischen Relevanz der auf den ersten Blick beeindruckenden Risikobeziehung zwischen HbA1c und Nierenversagen bei Diabetikern zweifeln lassen. Die Betrachtung der absoluten Zahlen, auf die Goff im Gegensatz zu den Studienautoren eingeht, ist allerdings recht ernüchternd und stellt obendrein die Hypothese vom «Point of no return» infrage: Bei den Diabetikern im Niereninsuffizienzstadium 3 und mit einem HbA1c < 7 entwickelten 42 von 10 709 (0,4%) innert 46 Monaten das Endstadium Nierenversagen. Bei denjenigen mit einem HbA1c < 9 waren es 40 von 2386 (1,7%); die absolute Differenz beträgt 1,3 Prozent. Bei den Diabetikern im Niereninsuffizienzstadium 4 und einem HbA1c < 7 kam es bei 116 von 1072 Patienten zum Nierenversagen (10,8%), bei denjenigen mit einem HbA1c < 9 waren es 54 von 276 (19,5%); die absolute Differenz beträgt 8,7 Prozent. David Goff wagte sich noch einen Schritt weiter und schätzte die «number needed to treat» folgendermassen ein: Im Stadium 3 müsste man 168 Diabetiker auf den niedrigen HbA1c-Wert bringen, um bei einem von ihnen das Endstadium Nierenversagen zu verhindern. Bei denjenigen im Stadium 4 müssten es hingegen nur 71 Patienten sein, um einen zu retten. So gesehen wäre der absolute «HbA1c-Effekt» für diejenigen mit Niereninsuffizienzstadium 4 vielleicht sogar wichtiger. Résumé für die Praxis Diese Studie wird das Vorgehen in der Praxis vermutlich nicht verändern. Die einmal mehr bestätigte Hypothese, dass bei Diabetikern ein HbA1c von 7 bis 8 Prozent nicht unbedingt noch weiter gesenkt werden muss, bildet ab, was ohnehin in der Praxis gemacht wird. Sicher wichtig für die Praxis ist jedoch die Bemerkung von Kommentator David Goff, dass – im Gegensatz zur HbA1c-Frage – die Evidenz für den Nutzen einer guten Blutdruckkontrolle zur Prävention von Nierenschäden bei Diabetikern sehr gut sei. ❖ Renate Bonifer Shurraw S et al.: Association Between Glycemic Control and Adverse Outcomes in People With Diabetes Mellitus and Chronic Kidney Disease. A Population-Based Cohort Study. Arch Intern Med 2011; 171(21): 1920–1927. Goff DC: Glycemic Control and Cardiorenal Outcomes in Patients With Advanced Chronic Kidney Disease – Relative or Absolute Risks? Arch Int Med 2011; 171(21): 1927–1928. Interessenlage: Die Autoren der Studie geben keine finanziellen Interessenkonflikte an; die Studie wurde von verschiedenen öffentlichen Institutionen gefördert. Der Autor des Kommentars gibt Studiensponsoring von Merck und Takeda an. 292 ARS MEDICI 6 ■ 2012