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Titel
Arsenicum: Aussterbende Hausärzte
Untertitel
-
Lead
Die Hausärzte, so hört man, sterben gerade aus. Politiker mit Krokodilstränen in den Augen, Medien mit erschreckenden Statistiken beklagen diesen Zustand. Aber tun tut niemand etwas. Ausser den alten Aussterbenden, die bis zum endgültigen Ende weiterschuften werden. Doch wir sind in grosser und guter Gesellschaft. Schliesslich ist fast jedes vierte Säugetier vom Aussterben bedroht! Laut IUCN 1141 von 5487 Arten. Zusammen mit Walen, Tigern, Elefanten, Pandas, Nashörnern könnte auch der Gemeine Hausarzt diesen Planeten verlassen.
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Aussterbende Hausärzte

D ie Hausärzte, so hört man, sterben gerade aus. Politiker mit Krokodilstränen in den Augen, Medien mit erschreckenden Statistiken beklagen diesen Zustand. Aber tun tut niemand etwas. Ausser den alten Aussterbenden, die bis zum endgültigen Ende weiterschuften werden. Doch wir sind in grosser und guter Gesellschaft. Schliesslich ist fast jedes vierte Säugetier vom Aussterben bedroht! Laut IUCN 1141 von 5487 Arten. Zusammen mit Walen, Tigern, Elefanten, Pandas, Nashörnern könnte auch der Gemeine Hausarzt diesen Planeten verlassen. Was sind die Ursachen? Klimaveränderung und feindliches Umfeld, Lebensraumzerstörung, Übernutzung? Da können wir nur zustimmen. Das Klima erwärmt sich nicht für Grundversorger, sondern wird immer rauer, das Umfeld immer feindlicher, wichtige (Über-)Lebensräume wie Praxislabor und Röntgen werden zerstört. Und übernutzt wird der Hausarzt seit jeher und ständig. Eine Studie aus Deutschland belegte jetzt wieder: Sie stellen eine langfristig stark durch Stress belastete Berufsgruppe dar. Für andauernd erbrachte hohe Arbeitsleistungen erhalten sie keine entsprechenden Gratifikationen. All dies führe zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Plus die in der Persönlichkeit verankerte Neigung zum «Overcommitment», nämlich sich über die Massen für die Arbeit zu engagieren und sich dabei zu verausgaben. Also – selbst dran schuld? Vermutlich. Oder emotionale Geiselnahme: Welcher Hausarzt hat das Herz, wenn seine alte Patientin mit juckender Ganzköperurtikaria nachts vom genauso greisen Ehemann gebracht wird, sie auf Sprechstundenzeiten zu verweisen? Oder die besorgte Mutter weiterzuweisen, die ein Nastuch auf die Galeawunde ihres fuss- und kopfballbegeisterten Achtjährigen drückt? Keiner. Man salbt, näht, berät, tröstet. Das kontraproduktive Einbringen gebietsfremder Tiere ist laut IUCN auch eine Gefahr. Dies spielt sich vor allem an den Kliniken ab: Deutsche Chefärzte und österreichische Chefärztinnen holen deutsche und österreichische

Assistenz- und Oberärzte, die dann in ihren Heimatländern fehlen und Schweizer Patienten und Kultur schlecht verstehen. Das führt dann in der Schweiz dazu, dass hier nicht mehr genügend Ärzte ausgebildet werden, was den Ärztemangel der Zukunft noch verschärfen wird. Mit dem Andauern des Grundversorgersterbens ist auch mit dem Verlust wichtiger und unbezahlbarer Ökosystemfunktionen – Ökonomiewie Ökologiesystem – zu rechnen. Denn Hausarztmedizin wird vom Patienten geschätzt und ist preisgünstig. Ihr Wegfall wird teuer werden. Aus Angst vor Haftpflichtprozessen wird das Spital beim chronischen Alkoholiker, der zum x-ten Mal gestürzt ist, die x-te Bildgebung während einer Notfallkonsultation mit Rundum-Laborcheck machen. Der Hausarzt hingegen weiss, dass der Aebi Chlaus nie so betrunken ist, dass er den Kopf anschlägt und sowieso auf der Matte hinter der Beiz weich gefallen ist. Er vermutet, dass die katastrophalen Transaminasen nicht besser geworden sind. Selbst wenn sie schlechter geworden sein sollten, hätte dies keine therapeutische Konsequenz, denn der Aebi Chlaus wird weiter trinken. Er tastet daher die schmerzhafte Mittelhand ab und riskiert, mal zuzuwarten. Meistens mit bestem Erfolg. Aebi, bis auf die Transaminasen genesen, bringt ihm eine Woche später eine Flasche selbstgebrannten Chrüter … Aber vielleicht sterben wir ja doch nicht aus. Anders als die Dinosaurier sind wir keine wechselwarmen, trägen und wenig intelligenten Tiere. Totgesagte leben länger. Immer mehr idealistische junge Menschen überlegen, ob das Grundversorger-Wildlife trotz allem nicht reizvoller ist, als die ausbeuterische Käfighaltung von Spitalärzten und der lukrativere, aber weniger abwechslungsreiche Job der Spezialisten. Vielleicht sollte man jetzt Zoos gründen, in denen zukünftige Grundversorgerchen liebevoll gezüchtet und aufgepäppelt werden, bevor sie in die Schweizer Berg- und Dorfwelt ausgewildert werden, von Rangern gegen Angriffe von Behörden, Krankenversicherern und Politikern geschützt?

ARSENICUM

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ARS MEDICI 7 ■ 2012