Transkript
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Hypertoniebehandlung mit ACE-Hemmern und Diuretika im Alter
Eine prospektive, randomisierte offene Studie
THE NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Die Einleitung einer blut-
drucksenkenden Therapie mit
ACE-Hemmern scheint im Ver-
gleich zu Diuretika bei ähnli-
chen Blutdrucksenkungen zu
besseren Outcomes zu führen.
Plazebokontrollierte Studien bei leichter bis mittelschwerer Hypertonie haben gezeigt, dass die Blutdrucksenkung mit einer Abnahme kardiovaskulärer Ereignisse und Todesfälle assoziiert ist. Zunächst liess sich dies für die Initialtherapie mit Diuretika, später auch für Betablocker nachweisen. Inzwischen sind weitere AntihypertensivaKlassen hinzugekommen, insbesondere ACE- Hemmer, Kalziumantagonisten sowie die Angiotensin-Rezeptorhemmer (A-II-Antagonisten). Die Datenlage ist gegenüber den älteren Antihypertensiva noch wenig eindrucksvoll. Die guten Behandlungsergebnisse bei beeinträchtigter Herzfunktion haben zur Annahme einer über die Blutdrucksenkung hinausgehenden günstigen Wirkung der ACE-Hemmer geführt. Die hier referierte Studie (Second Australian National Blood Pressure Study [ANBP2]) wollte unter praxisnahen Bedingungen untersuchen, ob sich gegenüber Diuretika für ACE-Hemmer ein klassenspezifischer Vorteil beim klinischen Verlauf der behandelten Hypertonie bei älteren Patienten über 65 Jahren ergibt.
Methodik Die Studie wurde in 1594 Allgemeinpraxen in ganz Australien durchgeführt. Die Teilnehmenden wurden prospektiv zu einer offenen Behandlung entweder mit dem ACE-Hemmer Enalapril (Reniten® und Generika) oder mit dem Diruetikum Hydrochlorothiazid (Esidrex® und in vielen Kombinationspräparaten) randomisiert. Die Auswertung der Studienendpunkte (kardiovaskuläre Ereignisse oder Tod jeder Ursache sowie ursachenspezifische erstmalige kardiovaskuläre Ereignisse) erfolgte blind durch ein Kommitee, das über die Gruppenzuteilung nicht informiert und von der Co-Sponsor-Firma unabhängig war. Eintrittskritierien waren: q Alter zwischen 65 und 84 Jahre q systolischer Blutdruck mindestens
160 mmHg oder diastolischer Blutdruck mindestens 90 mmHg (wenn der systolische BD gleichzeitig mindestens 140 mmHg ist) q keine kardiovaskulären Ereignisse innerhalb der vorangegangenen sechs Monate. Die Allgemeinpraktiker waren individuell für das Management der antihypertensiven Therapie verantwortlich. Ihnen setzte eine Guideline das Behandlungsziel einer systolischen BD-Senkung um mindestens 20 mmHg auf unter 160 mmHg mit weiterer Senkung auf unter 140 mmHg, sofern dies toleriert wurde, und eine diastolische BD-Senkung um mindestens 10 mmHg auf unter 90 mmHg mit weiterer Senkung auf unter 80 mmHg, sofern verträglich. Um diese Behanndlungsziele zu erreichen, wurde die Zugabe von Betablockern, Kalziumantagonisten und Alphablockern in beiden Behandlungsgruppen ausdrücklich empfohlen. Die Wahl des oder der zusätzlichen Medikamente war dem behandelnden Arzt überlassen.
Merk-
punkte
q Die Second Australian National Blood Pressure Study (ANBP2) verglich bei je gut 3000 Hypertonikerinnen und Hypertonikern über 65 Jahren ein Diuretikum (Hydrochlorothiazid) mit einem ACE-Hemmer (Enalapril).
q Die Ergebnisse favorisieren den ACE-Hemmer; allerdings trat der Behandlungsvorteil nur bei Männern klar hervor.
Ergebnisse Von über 50 000 ursprünglich gescreenten Personen verblieben 6083 Teilnehmende (zur Hälfte Frauen), die hälftig zu den beiden Behandlungsarmen randomisiert wurden. In beiden Gruppen waren 62 Prozent schon zuvor antihypertensiv behandelt worden. Bei ihnen wurde die Therapie vor Protokollbeginn unterbrochen. Die Auswertung erfolgte auf Intention-to-treat-Basis. Die Studienteilnehmenden wurden median 4,1 Jahre beobachtet. In beiden Gruppen erhielten 15 bis 16 Prozent zunächst das zugeteilte Medikament nicht, da der Behandlungsbeginn als nicht dringend eingestuft wurde. Am Studienende nahmen in der ACE-HemmerGruppe 58 Prozent und in der DiuretikumGruppe 62 Prozent noch das ursprünglich zugeteilte Medikament. Mit der zugeteilten Monotherapie kamen unter dem ACE-Hemmer 65 Prozent und unter dem Diuretikum 67 Prozent auch bei Studienende noch aus (Tabelle 1).
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Hypertoniebehandlung mit ACE-Hemmer und Diuretika im Alter
Tabelle 1: ACE-Hemmer vs. Diuretikum bei Hypertonie im Alter: Ausgangswerte, Medikation, Blutdruck
Frauen / Männer Alter (Mittel) – 65–74 Jahre – 75–84 Jahre Zuvor behandelt Behandlung bei Studienende: – initial zugeteiltes Medikament – Monotherapie mit dem
zugeteilten Medikament – 3 oder mehr Medikamente BD-Abnahme: – nach 2 Jahren – bei Studienende
ACE-Hemmer-Gruppe (n = 3044) 50% / 50% 72,0 Jahre 70% 30% 62%
Diuretikum-Gruppe (n = 3039) 52% / 48% 71,9 Jahre 70% 30% 62%
58% 65%
62% 67%
6% 5%
23/10 mmHg 26/12 mmHg
24/10 mmHg 26/12 mmHg
Tabelle 2: ACE-Hemmer vs. Diuretikum bei Hypertonie im Alter: Studienendpunkte
to treat (NNT): 32 Patienten beiderlei Geschlechts oder 23 Männer müssten eine ACE-Hemmer-basierte Therapie erhalten, um innert der ersten fünf Behandlungsjahre ein zusätzliches kardiovaskuläres Ereignis oder einen Todesfall zu verhindern. Bei den Männern traten beinahe doppelt so viele Ereignisse auf wie bei den Frauen. Der Nutzen der ACE-Hemmer-Therapie trat denn auch unter den männlichen Studienteilnehmern deutlicher zutage, hier war eine 17-prozentige Abnahme der Endpunkte zu verzeichnen. Bei den erstmaligen Koronarereignissen gab es zwischen den beiden Therapiegruppen keine signifikanten Unterschiede, aber in der ACE-Hemmer-Gruppe traten weniger erstmalige Herzinfarkte auf (Hazard Ratio 0,68 [95%-KI: 0,47–0,98]; p = 0,04). Die Häufigkeit ursachenspezifischer tödlicher Ereignisse zeigte keine signifikanten Unterschiede, mit Ausnahme der tödlichen Schlaganfälle, die unter ACE-Hemmer öfters vorkamen (Hazard Ratio 1,91 [95%KI: 10,4–3,5]; p = 0,04).
Alle Studienteilnehmer: Alle kardiovaskulären Ereignisse oder Todesfälle aller Ursachen Erstes kardiovaskuläres Ereignis oder Todesfall aller Ursachen Todesfälle aller Ursachen Männer: Alle kardiovaskulären Ereignisse oder Todesfälle aller Ursachen Erstes kardiovaskuläres Ereignis oder Todesfall aller Ursachen Todesfälle aller Ursachen Frauen: Alle kardiovaskulären Ereignisse oder Todesfälle aller Ursachen Erstes kardiovaskuläres Ereignis oder Todesfall aller Ursachen Todesfälle aller Ursachen
Hazard Ratio (95%-KI) p-Wert
0,89 (0,79–1,00)
0,05
0,89 (0,79–1,01)
0,06
0,90 (0,75–1,09)
0,27
0,83 (0,71–0,97)
0,02
0,83 (0,71–0,97)
0,02
0,83 (0,66–1,06)
0,14
1,00 (0,83–1,21)
0,98
1,00 (0,83–1,20)
0,98
1,01 (0,76–1,35)
0,94
Das Ausmass der BD-Senkung war in den beiden Behandlungsgruppen praktisch identisch, auch wenn die Abnahme zu Beginn unter dem Diuretikum geringfügig grösser ausfiel (Tabelle 1). Bei kardiovaskulären Ereignissen oder
Todesfall aller Ursachen ergab sich für die ACE-Hemmer-Gruppe im Vergleich zur Diuretikum-Gruppe eine Hazard Ratio von 0,89, entsprechend einer Abnahme der Last dieser Ereignisse um 11 Prozent (Tabelle 2). Formuliert als Number needed
Diskussion Die Autoren ziehen aus den Ergebnissen ihrer Studie den Schluss, dass der Outcome besser ist, wenn die Behandlung im Alter mit einem ACE-Hemmer anstatt einem Diuretikum erfolgt, wobei diese Differenz primär unter Männern zu beobachten ist. Im Gegensatz zu anderen Studien bei älteren Hochdruckkranken waren die Teilnehmenden hier relativ gesund und aktiv und hatten gesamthaft wenig vorangegangene kardiovaskuläre Ereignisse. Daher dürfe man erwarten, dass der Behandlungsnutzen geringer ausfalle als in anderen Studien, die Ergebnisse aber eher auf ältere und geriatrische Patienten übertragbar seien. Der Behandlungsvorteil des ACE-Hemmers äusserte sich bei der Häufigkeit aller kardiovaskulären Ereignisse und bei Todesfällen aller Ursachen, wobei vor allem nichttödliche Ereignisse seltener auftraten. Auch die Wahrscheinlichkeit eines erstmaligen kardiovaskulären Ereignisses oder eines Todesfalls war geringer. Die Ergebnisse widerspiegeln die wahrscheinlichen Behandlungseffekte in der
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Hypertoniebehandlung mit ACE-Hemmer und Diuretika im Alter
Praxis bei relativ gesunden älteren Menschen mit erhöhten Blutdruckwerten. So begannen in beiden Behandlungsarmen 15 bis 16 Prozent der Teilnehmenden nicht sofort mit der Medikation, weil der behandelnde Arzt oder die Patienten dies so vorzogen. Dies lässt sich bei minimal über dem Grenzwert von 140/90 mmHg liegendem Blutdruck auch durchaus vertreten. Im weiteren Verlauf wurden aber bis auf 3 bis 4 Prozent alle Patienten medikamentös behandelt. Der Anteil von rund 60 Prozent, die bei der ursprünglichen Medikation blieben, entspricht demjenigen in anderen Studien und der wahrscheinlichen Situation in der Alltagspraxis. Der Beobachtung, dass die relativen Behandlungsvorteile der ACE-basierten Therapie sich auf die männlichen Studienteilnehmer beschränkten, sollte mit Vorsicht begegnet werden, schreiben Wing et al. Sie bedürfe der Bestätigung in derzeit laufenden, grossen Studien. Männer hatten auch in dieser Studie fast doppelt so viele kardiovaskuläre Ereignisse wie Frauen. Bei ihrem erhöhten Risiko profitierten sie daher möglicherweise auch mehr von der Beeinflussung des atherosklerotischen Prozesses via Plaque-Stabilisierung und Verbesserung der Endothelfunktion unter dem ACE-Hemmer. Für die widersprüchlichen Beobachtungen bei den ursachenspezifischen Endpunkten – unter ACE-Hemmern war die Wahrscheinlichkeit grösser, dass ein Schlaganfall tödlich verlief, die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts jedoch geringer – sehen die Autoren keine offensichtliche Erklärung.
«Hypertoniebehandlung – was sollen wir nun glauben?»
Die Autoren der Second Australian National Blood Pressure Study (ANBP2) drücken sich in der Diskussion beklagenswerterweise um eine Auseinandersetzung mit der kürzlich publizierten ALLHAT-Studie. Diese war zu einem gegenteiligen Schluss gekommen, nämlich, dass Diuretika als Basis der antihypertensiven Therapie anderen Wirkstoffklassen (Kalziumantagonist, ACE-
Hemmer) überlegen seien. Diesen Ball nimmt in einem begleitenden Editorial Edward D. Frohlich von der Ochsner Clinic Foundation in New Orleans, ein Doyen der amerikanischen «Hypertonie-Szene», auf. Zunächst beklagt er lebhaft den Gang der Dinge, wenn grosse Studien bei verbreiteten Krankheiten publiziert und alsgleich von den Massenmedien und der interessierten Industrie in grosser Aufmachung unter die Leute – zuerst die Patienten, dann die Ärzte – gebracht werden. Die australische Blutdruckstudie ANBP2 mit über 6000 Patienten verglich ebenso wie ALLHAT mit über 42 000 Teilnehmern ein Diuretikum (im einen Fall Hydrochlorothiazid, im anderen Chlortalidon [Hygroton®]) mit einem ACE-Hemmer (hier Enalapril, dort Lisinopril [Prinil®, Zestril®]). Die Resultate müssten also vergleichbar sein, widersprechen sich jedoch – einmal liegen ACE-Hemmer vorn, einmal Diuretika. Was sollen wir nun glauben?, fragt Edward D. Frohlich. Beide Studien seien von öffentlichen Institutionen gesponsert und überwacht worden, ohne kommerzielle Einflussnahme. Ob die in jeder Wirkstoffklasse jeweils eingesetzten Medikamente äquivalent waren, wissen wir nicht mit Sicherheit. Die beiden Diuretika seien ausgezeichnet dokumentiert, wurden aber hinsichtlich blutdrucksenkender Wirksamkeit und Beeinflussung des klinischen Verlaufs nicht direkt miteinander verglichen. Ebenso wenig gibt es direkte Vergleiche zwischen Enalapril und Lisinopril (und wird sie auch nicht geben). Dies lässt Platz für die Frage, ob bei beiden neben der Blutdrucksenkung auch die Beeinflussung weiterer relevanter Faktoren, etwa des lokalen Renin-Angiotensin-Systems, gleich gross ausfällt. Schliesslich sind neben den eigentlichen Prüfsubstanzen auch weitere Antihypertensiva zum Einsatz gekommen, um die gesteckten BD-Ziele zu erreichen. Dies führt zu weiteren komplexen Wechselwirkungen, welche die Interpretation der Ergebnisse erschweren. In ALLHAT wurde der Blutdruck in der Diuretika-Gruppe etwas tiefer gesenkt – was zum besseren Abschneiden zumindest beigetragen haben könnte – in
ANBP2 erreichten die Patienten in beiden
Gruppen die gleiche BD-Senkung.
In ANBP2 war der primäre Endpunkt die
Zahl der tödlichen und nichttödlichen kar-
diovaskulären Ereignisse, und er favorisiert
Enalapril. In ALLHAT waren die beiden
Gruppen hinsichtlich der primären End-
punkte Herztod und nichttödlicher Herz-
infarkt gleichauf, und erst die Berücksich-
tigung auch der sekundären Endpunkte
(kardiovaskuläre Ereignisse) favorisierte
Chlortalidon. ANBP2 umfasste im Gegen-
satz zu ALLHAT praktisch keine nichtweis-
sen Hypertoniker, die Ausgangs-BD-Werte
waren höher, die Häufigkeit begleitender
Risikofaktoren tiefer und vorbestehende
KHK oder zerebrovaskuläre Erkrankung
seltener.
Epidemiologen untersuchen ganze Bevöl-
kerungs- oder Patientengruppen und sol-
len Behandlungsrichtlinien entwerfen, der
Arzt hingegen steht dem individuellen Pa-
tienten gegenüber und sollte sich absolu-
ter oder kategorischer Antworten enthal-
ten, meint Frohlich. Wenn es um die Wahl
zwischen Diuretikum und ACE-Hemmer
geht, solle er sich auch weiterhin auf die
individuelle Anamnese, das Ansprechen
auf die Therapie und die Beobachtung des
Verlaufs stützen.
q
Lindon M.H. Wing (School of Medicine, Flinders University, Adelaide/AUS): A comparison of outcomes with angiotensin-converting-enzyme inhibitors and diuretics for hypertension in the elderly. N Engl J Med 2003; 348: 583–592. Edward D. Frohlich (Ochsner Clinic Foundation, New Orleans/USA): Treating hypertension – what are we to believe? (Editorial). N Engl J Med 2003; 348: 639–641.
Halid Bas
Interessenlage: Die Studie wurde durch das Australian Commonwealth Department of Health and Aging, den Medical Research Council of Australia und durch die Firma Merck Sharp & Dohme, Australien, unterstützt. Mehrere Autoren deklarieren finanzielle Zuwendungen von dieser und anderen Pharmafirmen.
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