Transkript
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STUDIE REFERIERT
Piercings fernab der Ohrläppchen
Komplikationen sind bei Bodypiercing erstaunlich häufig
Sie sind oft nicht ohne Weiteres
sichtbar, und über Häufigkeit und
Komplikationen ist wenig bekannt:
modische Piercings am Körper.
Eine wissenschaftliche Studie aus
England versucht, etwas Licht in
die vielfältigen Aufenthaltsgebiete
dieses Körperschmucks zu bringen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Piercings sind in den letzten Jahren wohl jedem geläufig geworden, wissenschaftliche Untersuchungen zu den medizinischen Begleitumständen dieser Modeentwicklung sind jedoch rar. Methodisch wenig überzeugende Studien haben gewisse Anhaltspunkte zur Häufigkeit gegeben, mit der sich Menschen in verschiedenen industrialisierten Ländern Metallstücke am Körper anbringen lassen. Eine 2006 publizierte Befragung (Rücklaufquote 33%) aus den USA ergab, dass 24 Prozent der Antwortenden Tätowierungen trugen und 14 Prozent Körperpiercings hatten vornehmen lassen (1). Bodypiercing war unter Frauen häufiger. Menschen mit Hang zum Körperschmuck zeigten in dieser Studie Assoziationen zu fehlender religiöser Bindung, längeren Gefängnisaufenthalten sowie Gefallen an Alkohol- und anderen Freizeitdrogen. Lokale medizinische Komplikationen hatten sich bei einem Drittel ergeben, und Schmuckallergien nahmen mit der Zahl der Piercings zu. Die Autorinnen fanden, dass
Tätowierungen und Körperpiercings mit risikofreudigem Verhalten assoziiert waren, und dass Piercings eine hohe Prävalenz an Komplikationen mit sich bringen. Im Jahr 2005 ergab eine Erhebung aus Deutschland an einer repräsentativen Stichprobe von Menschen zwischen 14 und 93 Jahren eine Prävalenz von Tätowierungen von 8,5 Prozent und von Körperpiercings von 6,5 Prozent (2). Beide Arten von Körperschmuck waren in der Altersgruppe der 14- bis 24-Jährigen besonders häufig (Frauen 41%, Männer 27%). Unter den Jugendlichen und Erwachsenen bis 44 Jahre waren Körperpiercings ebenfalls mit Nichtzugehörigkeit zu einer Kirche, ferner auch mit Arbeitslosigkeit korreliert, und Tätowierungen schienen bei Menschen mit beeinträchtigter psychischer Gesundheit verbreiteter. Die Autoren schliessen auch hier, dass die Motivation für beide Arten des Körperschmucks durch den Wunsch genährt wird, mit Gleichaltrigen gleichzuziehen und einem Modeideal nachzuleben. Dieses Verhalten geht in Deutschland mit einer negativen Wahrnehmung der eigenen Lebensumstände, verminderter sozialer Integration sowie einem ausgeprägt erlebnissuchenden Verhalten einher. Die Autoren der vorliegenden Studie wollten nun Zahlen in Grossbritannien erheben und Näheres zu den zu beobachtenden Komplikationen erfahren.
Methodik Ein Marktforschungsinstitut befragte gut 10 000 Personen ab 16 Jahren aus einer Zufallsauswahl von zehn Regionen in England nach Piercings, die nicht im Ohrläppchen gemacht worden waren, sowie nach Gesundheitsproblemen, die durch das Piercen entstanden.
Resultate Insgesamt hatten 10 Prozent der Befragten ein Körperpiercing gehabt; die mittlere Anzahl an Piercings betrug 1,71. In jeder Altersgruppe waren Piercings bei Frauen häufiger als bei Männern (gesamthaft etwa dreimal häufiger). Piercings waren in jüngeren Altersgruppen häufiger, und ihre Prävalenz nahm mit steigendem Alter immer mehr ab. Entsprechend berichtete fast die Hälfte der Frauen zwischen 16 und 24 Jahren von diesem Körperschmuck. In höheren sozioökonomischen Gruppen und in der Hauptstadt London war die Vorliebe für
Merksätze
■ Körperpiercings, also das Anbringen von Schmuck an Stellen ausserhalb der Ohrläppchen, sind in verschiedenen Ländern vorwiegend bei jüngeren Menschen immer häufiger geworden, wobei junge Frauen diesen Trend wesentlich eifriger mitmachen als junge Männer.
■ Komplikationen kommen in einem substanziellen Anteil vor, schwerwiegende Probleme sind jedoch selten.
■ Besonders komplikationsträchtig scheinen Piercings an Zunge, Genitalien und Brustwarzen zu sein.
ARS MEDICI 24 ■ 2008 1093
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STUDIE REFERIERT
diese Selbstverschönerung eindeutig weniger verbreitet. Insgesamt konnte die Befragung über 1934 Körperpiercings Auskunft geben, die sich auf Nabelbereich (33%), Nase (19%), Ohr (13%), Zunge (9%), Brustwarze (9%), Genitalien (2%) und andere Stellen am Körper (3%) verteilten. Zwischen den Geschlechtern liessen sich Unterschiede bei den Lokalisationen eruieren. Bei Frauen waren die Orte in absteigender Häufigkeit Nabel, Nase, Ohr, Zunge, Augenbraue, Brustwarze und Lippe, bei Männern hingegen Brustwarze, Augenbraue, Ohr, Zunge, Nase, Lippe und Genitalien. Vier Fünftel der Piercings waren bei Piercingspezialisten oder in Tätowierungsshops vorgenommen worden. Beunruhigenderweise waren jedoch immerhin 9 Prozent der Zungenpiercings von Nichtspezialisten vorgenommen wor-
den. Zu einem kleinen Teil waren die Eingriffe auch von den Befragten selbst oder ihren Freunden oder Verwandten vorgenommen worden. Komplikationen wurden bei 533 von 1940 (27,5%) Körperpiercings rapportiert. Bei 250 (12,9%) dieser nicht reibungslos verlaufenen Eingriffe war Hilfe von aussen nötig geworden. In den jüngeren Altersgruppen scheinen sowohl Piercings wie auch damit in Zusammenhang aufgetretene Komplikationen relativ häufiger zu sein. Häufigste Piercingsprobleme waren Schwellung, Infektion und Blutung. Am ehesten kam es zu derartigen Komplikationen an Zunge, ferner an Genitalien und Brustwarzen. Schwerwiegende Komplikationen, die sogar zur Spitalaufnahme führten, waren signifikant häufiger, wenn der Eingriff von Nichtspezialisten vorgenommen worden war (3,0% vs. 0,5%).
Diskussion In England sind Körperpiercings bei jungen Frauen zwischen 16 und 24 Jahren besonders beliebt. Der klare Prävalenztrend zeigt, dass Körperpiercings bei beiden Geschlechtern ein ziemlich neues Phänomen sind. In diesen Altersgruppen kommt es auch häufiger zu Komplikationen. Ein Drittel aller Komplikationen betraf die Bauchnabelgegend, eine besonders häufige Lokalisation. Am meisten Komplikationen traten hingegen bei Zungenpiercings auf (ungefähr in der
Hälfte der Eingriffe) und erforderten in
der Hälfte der Fälle fremde Hilfe. Weitere
besonders komplikationsträchtige Loka-
lisationen sind Genitalien und Brustwar-
zen. Einige Komplikationen können sehr
schwerwiegend sein. Dies, zusammen
mit der Möglichkeit der Krankheitsüber-
tragung von Viren im Blut, macht Aufklä-
rung und Kontrollen weiterhin dringlich.
Die Autoren sorgen sich, dass beim
Anhalten des Modetrends für Körper-
piercings etwa die Hälfte der weiblichen
Bevölkerung einen derartigen Schmuck
an Körperstellen fernab der Ohrläppchen
aufweisen dürfte, und dass Gesundheits-
dienste angesichts der Tatsache, dass
Komplikationen auch lange nach dem
Eingriff auftreten können, noch auf
lange Sicht mit den Folgen dieser sozio-
logischen Erscheinung beschäftigt sein
werden.
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1. Anne E. Laumann, Amy J. Derick: Tattoos and body piercings in the United States: a national data set. Journal of the American Academy of Dermatology 2006; 55 (No.3): 413—421. doi:10.1016/j.jaad.2006.03.026.
2. Aglaja Stirna et al.: Prevalence of tattooing and body piercing in Germany and perception of health, mental disorders, and sensation seeking among tattooed and body-pierced individuals. Journal of Psychosomatic Research 2006; 60 (No. 5): 531—534. doi:10.1016/j.jpsychores.200509.002
3. Angie Bone et al.: Body piercing in England: a survey of piercing at sites other than earlobe. BMJ 2008; 336: 1426—1428. doi:10.113/bmj.39580.49717.25
Interessenkonflikte: Einer der Autoren deklariert ausgedehnte bezahlte und nicht bezahlte Tätigkeit als Hygieneberater bei Akupunkteuren, Piercinggeräteherstellern, Tätowierern und Schönheitsstudios.
Halid Bas
1094 ARS MEDICI 24 ■ 2008