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Titel
Das Allerletzte
Untertitel
-
Lead
Kollege S., ein dynamischer Typ, ist immer auf dem Laufenden. Was neu und chic ist in der Medizin, das kennt er, hat er, nutzt er. Auch Leuten, die sie gar nicht hören wollen, bringt er die frohe Botschaft des «dernier cri». Oder ist es der «last shout»? Er redet meist Halbenglisch. Alle seine Patienten hatte er schon mit dem Mittel V. behandelt, bevor ich überhaupt wusste, wie man es schreibt. «Was, das kennst du noch nicht?», lachte S. ungläubig, als wir uns zufällig im Supermarkt begegneten. «Dann wird’s aber Zeit. Ein echtes Zaubermittel.
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Rubriken — ARSENICUM
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Das Allerletzte

arsenicum
K ollege S., ein dynamischer Typ, ist immer auf dem Laufenden. Was neu und chic ist in der Medizin, das kennt er, hat er, nutzt er. Auch Leuten, die sie gar nicht hören wollen, bringt er die frohe Botschaft des «dernier cri». Oder ist es der «last shout»? Er redet meist Halbenglisch. Alle seine Patienten hatte er schon mit dem Mittel V. behandelt, bevor ich überhaupt wusste, wie man es schreibt. «Was, das kennst du noch nicht?», lachte S. ungläubig, als wir uns zufällig im Supermarkt begegneten. «Dann wird’s aber Zeit. Ein echtes Zaubermittel. Darfst du deinen Patienten nicht vorenthalten.» Und dann kam ich in den Genuss eines halbstündigen Vortrags über die chemische Zusammensetzung des Medikaments V., welches ein Racemat vom -aryl U. ist, und ausserdem eine Alkylgruppe mehr – oder vielleicht eine weniger – irgendwo dran hat. Eigentlich wollte ich in Musse Käse auswählen, aber Kollege S. folgte mir und erläuterte Galenik und Pharmakokinetik unter spezieller Berücksichtigung der Bioavailability. An der Wursttheke war er bei den Kontraindikationen und unerwünschten Wirkungen. Die Verkäuferin erbleichte, als S. herumtrötete, was der amerikanischen Verumgruppe alles zugestossen war. Man sollte meinen, dass S. dem Hersteller die entscheidenden Tipps gegeben hatte, so gut kannte er die Pathways im Metabolismus sämtlicher ethnischer Gruppen, die je das Medikament einnehmen könnten. Und die genderspezifischen Besonderheiten. Am Non-Food-Regal wusste ich plötzlich nicht mehr, welches Waschmittel ich für meine Frau mitbringen sollte, weil S. neben mir die Markennamen von Konkurrenzprodukten herunterbetete. «Eine neue Formel hat die Firma …», zischte er mir ins Ohr und ich versuchte, mich nicht auf die chemische Strukturformel zu konzentrieren, die er gerade in die Luft malte. Allenfalls interessiere ich mich für Formel Eins, aber unter dem stechenden Blick von Kollege S. griff ich geistesabwesend die Waschpulverpackung, auf der ein roter Kleber mit «Neue Formel! Noch mehr Waschkraft!» klebte. Meine Frau war nachher sauer, denn genau dieses Produkt lehnte sie ab. In der

Schlange vor der Kasse erfuhr ich, welche Metaanalyse zu welchem Schluss gekommen war. Beeindruckt schauten die anderen Wartenden, als Kollege S. von den Experten in den USA schwärmte, mit denen er augenscheinlich auf First-Name-Basis war. Dank Kollege S. hatte Joe aus Harvard die ANOVA-Methode eingesetzt, war Jack aus Stanford zu einer Post-Marketing-Studie inspiriert worden. Ich war dankbar, dass sich die Kassiererin ins Gespräch einmischte und Münz herausgab. Kollege S. rechnete mir sofort vor, was der Pharmahersteller verdiente. Vor einer Zwangsmedikation mit dem Mittel V. konnte ich mich vermutlich nur retten, weil ich S. auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt abhängte, in mein Auto sprang und wie in der Formel Eins wegraste. In den nächsten Wochen war das Mittel V. das Gesprächsthema in Hausarztkreisen, weil Kollege S. von einem gesponsorten Meeting zurückkam und erzwang, an unserer monatlichen Fortbildung zu sprechen. Dank seiner Promotion im Supermarkt konnte ich zumindest seinen Ausführungen über die Elimination folgen. Der Produktmanager des Herstellers servierte Lachshäppchen und Kollege S. tischte Anekdoten über seinen letzten Amerikatrip auf. Die anderen Kollegen beschlossen, Medikament V. auszuprobieren. Als dann die ersten Warnungen kamen, dass V. ernste Nebenwirkungen habe, hatte ich gerade erst begonnen, es vereinzelt einzusetzen. Kollege S. war schon zu Mittel W. umgeschwenkt, weil er bereits vom amerikanischen Professor Z. vorgewarnt war. Oder war es umgekehrt, hatte gar er die Koryphäe auf Nebenwirkungen aufmerksam gemacht, die beim Patientenkollektiv der Hausarztpraxis aufgetreten waren und von ihm epidemiologisch korrekt gemonitort wurden? «Habe ich immer gesagt, dass V. Shit ist», kommentierte Kollege S., «es gibt jetzt etwas Neues …»

934 ARS MEDICI 21 ■ 2008