Transkript
STUDIE REFERIERT
Behandlung ist auch bei sehr alten Hypertonikern nützlich
Medikamentöse Blutdrucksenkung reduziert Mortalität und Morbidität
Im randomisierten doppelblinden
Hypertension in the Very Elderly
Trial (HYVET) wurden Hyperto-
niker ab 80 Jahren im Rahmen
eines Stufenschemas entweder mit
Indapamid und Perindopril oder
Plazebo behandelt. Die Ergebnisse
sprechen für eine aktive Blut-
drucksenkung auch bei sehr alten
Patienten.
NEJM
Während unbestritten ist, dass die Senkung eines erhöhten Blutdrucks zur Verhütung von Hirnschlägen und anderen vaskulären Ereignissen inklusive Herzinsuffizienz bei einem weiten Spektrum von Subpopulationen und mit einer breiten Palette von Antihypertensiva effektiv ist, ist die Evidenz für die sehr alten Patienten (80 Jahre und älter) immer noch nicht schlüssig. Einerseits nimmt das Hirnschlagrisiko parallel zu Blutdrücken über 115/75 mmHg zu, andererseits wird der Zusammenhang zwischen Blutdruck und Stroke mit zunehmendem Alter schwächer. In epidemiologischen Bevölkerungsstudien war konsistent eine negative Korrelation zwischen dem Blutdruck und dem Todesrisiko bei über 80-Jährigen zu beobachten, was aber eher als Folge schwerer Erkrankungszu-
stände (Krebs, Demenz, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz) denn kausal zu interpretieren ist. Eine Beobachtungsstudie fand bei antihypertensiv behandelten alten Patienten bei Blutdrücken unter 140 mmHg ein kürzeres Überleben, randomisierte Studien schlossen diese Altersgruppe von vornherein aus oder rekrutierten zu kleine Fallzahlen bei den über 80-Jährigen, eine Metaanalyse schien auch eher auf Schäden als auf Nutzen der medikamentösen Blutdrucksenkung im hohen Alter zu weisen, war letztlich aber auch nicht schlüssig. In der Schilderung der HYVET-Autoren war die Ausgangslage für ihre Studie somit nach allen Richtungen offen, und eine Pilotstudie für HYVET zeigte in dieselbe Richtung wie die Metaanalyse: Für jeden durch Antihypertensiva verhinderten tödlichen Schlaganfall schien ein möglicher Todesfall aufgrund irgendeiner anderen Ursache möglich. Die kürzlich im «New England Journal of Medicine» publizierte Hauptstudie (1) sollte Klarheit schaffen.
Methodik HYVET war eine gross angelegte randomisierte, doppelblinde plazebokontrollierte Studie an 195 Zentren in 13 Ländern in West- und Osteuropa, China, Australasien und Nordafrika. Einschluss fanden Patienten von 80 oder mehr Jahren mit einer persistierenden Hypertonie, definiert als systolischer BD >160 mmHg. Nach einer Einlaufphase unter Plazebo und der Randomisierung erhielten die Patienten zunächst entweder täglich einmal 1,5 mg Indapamid (z.B. Fludex® SR oder Generika) in verzögerter Freisetzung (sustained release,
SR) oder ein Plazebo. Zielblutdrücke waren systolisch <150 mmHg und diastolisch <80 mmHg. Wurde dies nicht unter Indapamid allein erreicht, konnten 2 oder 4 mg Perindopril (Coversum®) hinzugegeben werden. Primärer Endpunkt war tödlicher oder nichttödlicher Hirnschlag (ohne transient ischämische Attacken). Sekundäre Endpunkte umfassten Todesfälle aller Ursachen, kardiovaskuläre Todesfälle und die Hirnschlagmortalität. Ergebnisse Die aktiv behandelte Gruppe (1933 Pat.) und die Plazebogruppe (1912 Pat.) waren mit einem mittleren Alter von 83,6 Jahren und einem mittleren Blutdruck im Sitzen von 173,0/90,8 mmHg gut ausbalanciert. 11,8 Prozent der Teilnehmenden hatten eine Anamnese von kardiovaskulärer Erkrankung. Das mediane Follow-up betrug 1,8 Jahre. Nach 2 Jahren war der mittlere BD in der aktiv medikamentös behandelten Gruppe um 15,0/6,1 mmHg tiefer als in der Plazebogruppe. Nach 2 Jahren nahm in der Aktivgruppe ein Viertel der Patienten Indapamid allein, ein weiteres Viertel Indapamid plus 2 mg Peridonpril und die Hälfte die Kombination des Diuretikums mit der höheren Dosis (4 mg) des ACEHemmers. Merksatz ■ Eine antihypertensive Therapie mit Indapamid in verzögerter Freisetzung (plus Perindopril bei weiterem BD-SenkungsBedarf) war im Vergleich zu Plazebo mit einer Reduktion der Gesamtmortalität um 21 Prozent sowie einer Senkung des relativen Risikos für Herzinsuffizienz von 64 Prozent und desjenigen für Stroke um 30 Prozent assoziiert. ■ Obwohl die Patienten in der HYVET-Studie gesünder waren als viele andere Betagte, lassen sich die Resultate doch als Aufforderung verstehen, dass es für eine aussichtsreiche antihypertensive Therapie nie zu spät ist. ARS MEDICI 18 ■ 2008 821 STUDIE REFERIERT In einer Intention-to-treat-Analyse war die aktive Therapie mit einer 30-prozentigen Reduktion der Rate an tödlichen plus nichttödlichen Hirnschlägen (95%Konfidenzintervall [KI]: -1–51; p = 0,06) und mit einer Abnahme der Todesrate an Hirnschlag von 39 Prozent (95%-KI: 1–62; p = 0,05) assoziiert, ferner mit einer 21-prozentigen Verringerung der Todesrate aller Ursachen (95%-KI: 4–35; p = 0,02). Ausserdem erfuhr die aktiv behandelte Gruppe im Vergleich zu Plazebo eine Abnahme der Todesfälle aufgrund von kardiovaskulären Ereignissen um 23 Prozent (95%-KI: -1–40; p = 0,06) und eine Verminderung der Herzinsuffizienzrate um 64 Prozent (95%-KI: 42–78; p < 0,001). In den Per-Protokoll-Analysen war die Risikoreduktion bei Hirnschlag im Vergleich zu Plazebo um 34 Prozent, die Abnahme der Herzinsuffizienzrate um 72 Prozent und der Todesfälle an kardiovaskulären Ursachen um 27 Prozent ebenso wie die Reduktion der Gesamttodesrate um 28 Prozent und der Todesrate wegen Hirnschlags um 45 Prozent jeweils statistisch signifikant. Bei den über einen Zeitraum von zwei Jahren beobachteten Patienten ergaben sich gegenüber den Ausgangswerten zwischen den Gruppen keine signifikanten Unterschiede bei Serum-Kalium-, Harnsäure-, Glukose- oder Kreatininwerten. Als schwere unerwünschte Wirkungen eingestuft wurden in der Plazebogruppe 448 Ereignisse und in der aktiv behandelten Gruppe 358 Ereignisse (p = 0,001). Nur bei ingesamt 5 dieser Vorfälle (3 in der Plazebo-, 2 in der Aktivgruppe) sahen die Studienverantwortlichen vor Ort einen möglichen Zusammenhang mit der Medikation. Diskussion «Die Ergebnisse der HYVET-Studie zeigen, dass eine antihypertensive Behandlung auf der Basis von 1,5 mg Indapamid SR mit oder ohne 2 bis 4 mg Perindopril das Risiko für tödlichen Hirnschlag und die Gesamtsterblichkeit bei alten Patienten signifikant senkt», schreiben die Autoren. «Dass auch die Sterblichkeit aller Ursachen günstig beeinflusst wurde, ist ein neues und unerwartetes Ergebnis.» Im Vergleich zu anderen klinischen Studien mit anderer Alterszusammensetzung war hier das Verhältnis tödlicher zu nichttödlichen Hirnschlägen höher. In der HYVET-Studie war der Anteil der tödlichen Hirnschläge mit 57,7 Prozent viel höher als etwa im Systolic Hypertension in Europe (Syst-Eur)-Trial (28,9%) oder im Swedish Trial in Older Patients with Hypertension (STOP-Hypertension) (18,3%). Dies spiegelt die höhere Strokegefährdung mit zunehmendem Alter wider. Besondere Beachtung verdient in den Augen der Autoren die hier beobachtete Verminderung der Sterblichkeit, bezogen auf alle Ursachen. Die HYVET-Studie gehört damit zu den wenigen, die einen Nutzen der medikamentösen Blutdrucksenkung auch bei diesem «härtesten» Endpunkt dokumentieren. Wie in vielen klinischen Studien waren auch hier die Teilnehmenden generell gesünder als die Allgemeinbevölkerung, was hier durch die niedrigeren Hirnschlag- und Gesamttodesraten ebenso wie den verhältnismässig geringen Anteil an vorbestehenden kardiovaskulären Erkrankungen dokumentiert ist. Es ist daher denkbar, dass die errechnete «number needed to treat» (NNT) zur Verhinderung eines Hirnschlags in zwei Jahren von 94 eine zu hohe Schätzung ist, obwohl sie im Rahmen der Prävention akzeptabel ausfällt, wie die Autoren anmerken. Eindrücklich sei hingegen eine NNT von 40, um während zweier Behandlungsjahre einen Todesfall zu verhindern. Allerdings warnen die Autoren auch davor, diese Ergebnisse nun ohne Weiteres auf gebrechlichere Populationen alter Menschen zu übertragen. Auch die grosse Risikoreduktion bei Herzinsuffizienz erscheint als bedeutsam. Die Ergebnisse stützen einen Zielblutdruck von 150/80 mmHg. Dieser wurde in HYVET nach zwei Jahren bei nahezu der Hälfte der Patienten erreicht. Ob eine darüber hinausgehende Blutdrucksenkung einen grösseren Nutzen bringt, muss offenbleiben. Obwohl in der Intention-to-treat-Analyse die Reduktion des Hirnschlagrisikos die statistische Signifikanz nominell nicht erreichte, plädierte eine unabhängige Überwachungskommission aus ethischen Gründen für eine vorzeitige Beendigung der Studie, da sie den signifikanten Be- handlungsnutzen beim Gesamtüberle- ben als gegeben erachtete. Der Entscheid ist nachvollziehbar, war so aber zuvor nicht festegelegt worden, wie John B. Kostis in einem Begleiteditorial bedauert (2). Auch er sieht die Ergebnisse der HYVET-Studie als konsistent mit frühe- ren Hypertoniestudien bei anderen Po- pulationen in Europa beziehungsweise in Schweden. Damit zeigt die Summe bisheriger klinischer Studien einen signi- fikanten Nutzen der Hypertoniebehand- lung auch bei sehr alten Menschen und verlegt die Altersgrenze für eine evidenz- basierte medikamentöse Therapie weiter nach oben. ■ 1. Nigel S. Beckett et al. for the HYVET Study Group: Treatment of hypertension in patients 80 years of age and older. NEJM 2008; 358: 1887—1898. 2. John B. Kostis (Robert Wood Johnson Medical School, University of Medicine and Dentistry of New Jersey, New Brunswick/USA): Treating hypertension in the very old. NEJM 2008; 358: 1958—1960. Interessenlage: Die HYVET-Studie wurde von der British Heart Foundation und vom Institut de Recherche Internationales der Firma Servier unterstützt. Die Autoren deklarieren mannigfache Verbindung zur Industrie, ebenso der Verfasser des Editorials J.B. Kostis. Halid Bas 822 ARS MEDICI 18 ■ 2008