Transkript
FORTBILDUNG
Soziale Angststörung
Oft gepaart mit niedrigem Selbstwertgefühl und ausgeprägter Selbstkritik
Die soziale Angststörung beginnt meist schon in der
Kindheit oder der frühen Adoleszenz. Mit Medikamen-
ten oder kognitiver Verhaltenstherapie kann die
Sozialphobie häufig erfolgreich behandelt werden.
THE LANCET
Die soziale Angststörung ist mit einer 12-Monats-Prävalenz von 18 Prozent in der Allgemeinbevölkerung die am weitesten verbreitete mentale Störung. Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV (DSM IV) und in der International Classification of Diseases 10 (ICD-10) wird sie gemeinsam mit der Agoraphobie und spezifischen Phobien als phobische Störung klassifiziert. Beziehen sich die Ängste auf die meisten sozialen Situationen, wird die Sozialphobie als «generalisiert» bezeichnet.
Schüchternheit und Sozialphobie Menschen mit einer sozialen Angststörung fürchten und meiden das Urteil anderer weit über das normale Mass hinaus. Die Ängste können so stark sein, dass Betroffene fast alle zwischenmenschlichen Begegnungen meiden oder nur unter extremem Unbehagen durchstehen. Personen mit einer sozialen Angststörung sind daher schüchtern, wenn sie neue Menschen kennenlernen, und verhalten sich zurückhaltend in Gruppen oder ungewohnten sozialen Situationen. Während der Interaktion mit anderen können sie Anzeichen von Unbehagen wie Rotwerden oder Vermeiden des Augenkontakts aufweisen, dies muss aber nicht sein. Alle Sozialphobiker empfinden jedoch starke emotionale oder körperliche Symptome wie Angst, Herzrasen, Schwitzen, Zittern oder Konzentrationsstörungen beim Umgang mit anderen Menschen. Menschen mit einer sozialen Angststörung sehnen sich nach der Gesellschaft anderer, vermeiden sie jedoch gleichzeitig aus Furcht, für unsympathisch, dumm oder langweilig gehalten zu werden. Ein niedriges Selbstwertgefühl und eine ausgeprägte Selbstkritik sind charakteristische Eigenschaften von Menschen mit einer Sozialphobie. Schüchternheit und ein zurückhaltendes Wesen sind häufige, nicht pathologische Charaktereigenschaften. Nach der Defi-
nition des DSM IV spricht man erst von einer sozialen Angststörung, wenn der Berufsalltag, soziale Freizeitaktivitäten, Freundschaften oder Beziehungen durch soziale Ängste stark beeinträchtigt werden oder die Betroffenen sich ihrer Phobie deutlich schämen. Das National Comorbidity Survey-Replication in den USA geht von Schätzungen einer 12-Monats-Prävalenz von 7,1 Prozent und einer Lebenszeitprävalenz von 12,1 Prozent der Erkrankung nach den Definitionskriterien des DSMIV aus. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Bei etwa 50 Prozent der Patienten beginnt die Erkrankung bereits mit 11 Jahren, und bei etwa 80 Prozent ist sie im Alter von 20 Jahren manifest. Soziale Angststörungen sind mit 3 bis 7 Prozent aller Fälle ein häufiges Krankheitsbild in der Hausarztpraxis. Trotz des hohen Leidensdrucks und gravierender sozialer Einschränkungen begibt sich nur etwa die Hälfte der Betroffenen in Behandlung, und dies meist erst 15 bis 20 Jahre nach Beginn der Symptome.
Diagnose und Evaluierung Menschen mit einer Sozialphobie sprechen ihre Probleme beim Arzt nur selten von selbst an. Direkte Fragen wie «Denken Sie, dass Sie Probleme mit exzessiver Schüchternheit oder sozialer Ängstlichkeit haben?» können jedoch einen produktiven Dialog eröffnen und zur raschen Diagnose führen. Spezielle Fragebögen können diesen Prozess unterstützen. Dazu wird am häufigsten die Liebowitz-Soziale-Angst-Skala (LSAS) verwendet, mit der anhand von 24 Fragen das Ausmass einer Sozialphobie erfasst werden kann. Die Differenzialdiagnose kann sich manchmal problematisch gestalten, vor allem, da eine Sozialphobie auch im Zusammenhang mit anderen psychischen oder körperlichen Erkrankungen auftreten kann.
Merksätze
■ In der Arztpraxis führt meist erst gezieltes Nachfragen zur Diagnose.
■ Charakteristische Merkmale Betroffener sind niedriges Selbstwertgefühl und ausgeprägte Selbstkritik.
■ Die Sozialphobie kann mit kognitiver Verhaltenstherapie oder Medikamenten oft erfolgreich behandelt werden.
ARS MEDICI 18 ■ 2008 811
FORTBILDUNG
Panikattacken und Agoraphobie: Bei Panikattacken handelt es sich um schwere unerwartete Angstanfälle, oft begleitet von Herzrasen und Atemnot. Patienten mit einer Sozialphobie sind sich der Quelle ihrer Angst, der Beurteilung durch andere, deutlich bewusst, während Patienten mit Panikattacken oder Agoraphobie zwar physische Angstsymptome erleben, die Ursache jedoch meist nur diffus benennen können. Major Depression: Die Sozialphobie ist, ebenso wie andere Angststörungen, ein Risikofaktor für die zusätzliche Entwicklung von Depressionen. Daher ist häufig ein komorbides Krankheitsbild anzutreffen. Bleiben Ängste im Umgang mit anderen auf die depressive Phase beschränkt, handelt es sich vermutlich nicht um eine soziale Angststörung. Andere psychiatrische Störungen: Soziale Ängste können als Teilsymptom einer Schizophrenie auftreten, andere Symptome stehen hier jedoch im Vordergrund. Eine Sozialphobie tritt häufig als Komorbidität bei bipolaren Störungen, Ess- oder Zwangsstörungen auf. Viele Patienten mit sozialen Ängsten sind anfällig für Substanzmissbrauch. Daher sollte eine Sozialphobie in Betracht gezogen werden, wenn Patienten mit Alkoholproblemen oder anderen Substanzabhängigkeiten vorstellig werden. Persönlichkeitsstörungen: Die Sozialphobie kann einer Persönlichkeitsstörung ähneln. Die Kriterien zur Erfassung der generalisierten Sozialphobie überlappen sich mit denen der vermeidenden Persönlichkeitsstörung, die bei 50 bis 90 Prozent der Sozialphobiker diagnostiziert wird. Die schizoide Persönlichkeitsstörung ist leicht von der sozialen Angststörung abgrenzbar, da die Betroffenen keinen menschlichen Kontakt suchen. Sie sind freiwillige Einzelgänger, im Gegensatz zu den Sozialphobikern, die sich eigentlich wünschen, mit anderen besser zurechtzukommen. Entwicklungsstörungen bei Kindern: Soziale Ängste und soziale Kommunikationsdefizite sind häufige Kennzeichen eines Spektrums von autistischen Erkrankungen wie dem AspergerSyndrom. Kinder mit einer Sozialphobie verfügen dagegen über angemessene Kommunikationsfähigkeiten, obwohl sie bei Erstkontakten mit anderen in dieser Hinsicht beeinträchtigt erscheinen können. Ein selektiver Mutismus, bei dem Kinder mit niemandem ausser mit Familienmitgliedern sprechen, ist fast immer mit einer Sozialphobie verbunden. Körperliche Beeinträchtigungen: Körperliche Beeinträchtigungen, die die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen, wie Parkinson, schwere Verbrennungsnarben oder Fettleibigkeit, können ebenfalls mit starken sozialen Ängsten einhergehen.
Ursachen und Pathogenese Über die Ursachen und die Pathogenese der sozialen Angststörung ist nicht viel bekannt, aber in der Wissenschaft wird auf verschiedenen Ebenen daran geforscht. Mittlerweile wurden einige Gene wie das Gen des Beta-1-adrenergen-Rezeptors (ADRB1-Gen), das Serotonin-Transporter-Gen oder das Glutaminsäuredecarboxylase-1-(GAD1-)Gen mit der Sozialphobie in Verbindung gebracht. Konsistente Zusammenhänge konnten jedoch bisher nicht nachgewiesen werden. In Unter-
suchungen des Dopaminrezeptors mit der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) wurden bei Patienten mit sozialer Angststörung Veränderungen der dopaminergen Funktion im Striatum sichtbar. Weitere funktionell bildgebende Studien haben ergeben, dass die Aktivität der Amygdala und der Insula eine grosse Rolle bei Angstreaktionen spielt. In Untersuchungen zur Aktivierung der Amygdala durch den Anblick menschlicher Gesichter korrelierte das Ausmass der Aktivität mit den Symptomen der sozialen Angst. Umgekehrt ist die Aktivität der Amygdala herabgesetzt bei Personen mit dem Williams-Syndrom, einer seltenen Erkrankung, die durch soziale Furchtlosigkeit gekennzeichnet ist.
Therapie Eine grosse Anzahl kontrollierter randomisierter Studien belegt die Wirksamkeit von Medikamenten und von kognitiver Verhaltenstherapie in der Behandlung der Sozialphobie. Monoaminooxidasehemmer (MAO) sind in der Behandlung der sozialen Angststörung nur von begrenztem Nutzen, da sie die Einhaltung strenger Diätregeln erfordern und mit starken Nebenwirkungen verbunden sein können. Kurzzeitige klinische Studien zu Moclobemid (Aurorix® und Generika) zeigten keine konsistent positiven Ergebnisse. Auch Benzodiazepine wie Clonazepam (Rivotril®) und Alprazolam (Xanax®) sind prinzipiell bei Sozialphobien wirksam. Bei diesen Medikamenten bestehen jedoch Sicherheitsbedenken, die ihre Anwendbarkeit einschränken. Die Wirksamkeit und Sicherheit einiger Serotoninwiederaufnahme-Hemmer und dualer Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer in der Therapie der sozialen Angststörung wurde während der letzten zehn Jahre in zahlreichen randomisierten Studien nachgewiesen. Zu diesen Substanzen gehören Escitalopram (Cipralex®), Fluvoxamin (Floxyfral®, Floxex®), Paroxetin (Deroxat® und Generika), Sertralin (Zoloft® und Generika) und Venlafaxin (Efexor®). Die Studienergebnisse zu Fluoxetin (Fluctine® und Generika) waren inkonsistent. Zur Behandlung von Sozialphobien hat sich vor allem auch die kognitive Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen. Geeignete Komponenten des therapeutischen Spektrums sind Psychoedukation, progressive Muskelrelaxation, Sozialfähigkeitstraining, imaginierte und konkrete Exposition, Video-Feedback und kognitive Rekonstruktion. Vergleichsstudien legen nahe, dass Medikamente zwar eine schnellere Wirkung zeigen, dass die Wirksamkeit einer kognitiven Verhaltenstherapie jedoch langfristiger und nachhaltiger ist. Zurzeit gibt es keine Beweise dafür, dass eine kombinierte Behandlung aus Psychotherapie und Medikamenten bessere Resultate erzielt als die jeweilige Option für sich. Die Auswahl erfolgt daher individuell nach den Erfordernissen des Patienten.■
Stein Murray B, Stein Dan J: Social anxiety disorder, Lancet, 200; 37: 1115—1125.
Interessenkonflikte: Beide Autoren haben Beratungshonorare und Forschungsgelder von einigen pharmazeutischen Unternehmen erhalten.
Petra Stölting
812 ARS MEDICI 18 ■ 2008