Transkript
Geborene Loser
arsenicum
N ach dem Ausscheiden aus der EM ging noch
nicht mal ein Aufschrei durchs Fussballland Schweiz. Das versteht kein Nichtschweizer. In Deutschland hätte man kollektiv die Trauer in Biermeeren ertränkt, in Frankreich hätten sie den Skalp des Trainers gefordert und in Italien denselben vermutlich mehr oder weniger auch erhalten. Genau wie es jetzt passiert ist. Auf jeden Fall hätte in unseren Nachbarländern ein kollektives Wehklagen eingesetzt, ein lustvolles Trauern. Hier hingegen ging man diszipliniert zur Tagesordnung über, besann sich auf seine Gastgeberpflichten und -qualitäten. Der Blick-Titel «Aus der Traum!» liess erahnen, dass ein Weiterkommen von vorneherein als unrealistisches Wunschdenken, nicht aber als potenzielle Realität angesehen worden war. Als Traumbild eben. Die, die es gewagt hatten, an eine Achtelfinalqualifikation zu glauben und dies gar noch auszusprechen, wurden der Grossmannssucht und Grossmäuligkeit geziehen. In der Schweiz bauen wir keine Luftschlösser oder Wolkenkuckucksheime, sondern handeln mit seriösen Immobilien. «Wir sind die geborenen Verlierer!» strahlte einer meiner Patienten. So, wie andere über «geborene Siegertypen» oder «angeborene Virtuosität» schwärmen. Die Verliererei als ein in die Wiege gelegtes Gottesgeschenk, als genetische Gabe. Dann erzählte er mir, dass ihm schon seine Grossmutter eingebläut hatte, dass er bei der Kinderparty an seinem Geburtstag nicht gewinnen dürfe. Er habe sogar aktiv mogeln müssen, um beim Topfschlagen und Sackhüpfen auf einem der letzten Plätze zu landen. «Du bist der Gastgeber, du hast jede Menge Gschänggli eingesackt, jetzt musst du für die anderen da sein! Es ist heute deine Pflicht als Geburtstagskindli, dass deine Gspänli sich freuen und amüsieren!» habe sie insistiert. Das sei damals zwar ein saures Opfer und harte Arbeit für ihn gewesen. Die Erfahrungen hätten ihm jedoch im späteren Leben in seinem Beruf als Gastronom gut geholfen. Auch Mr. Brown, ein englischer Patient, ist stolz darauf, dass die Briten sprichwörtlich gute Verlierer sind. «We’re such good losers that we’ve almost forgotten how to win!» schmunzelt er. Und wirklich –
es gab keinen Fussball-Kommentar, ohne dass einer «wenn Beckham diesen Pass bekommen hätte ...» oder «wenn die Briten da wären …» geseufzt hätte. Tatsächlich kann man das Verlieren fast so gut zelebrieren wie das Gewinnen und hat zudem keine Neider. Im Gegenteil – fast alle haben den Underdog gerne und trösten ihn. Die Holländer erzählten im Fernsehen, dass sie von den mitleidenden Baslern nach ihrem Unterliegen derartig viele Trost-Drinks spendiert bekamen, dass sie auch im Gesicht orange wurden. Wichtig ist es aber, GUT zu verlieren. Keine Wutausbrüche, sondern den Flop mit einem Lächeln wegstecken. Besonders professionell machen das die Stars, die jedes Jahr NICHT den Oskar bekommen. Je erfolgsverwöhnter der Sieger ist, umso schwieriger ist es für ihn, bei einer Niederlage noch locker zu bleiben oder dies zumindest glaubhaft vorzutäuschen. Auch dort ist Roger Federer der idealste Schweizer. Als er das Roland-Garros-Turnier in den Sand setzte, schüttelte er lächelnd Sieger Nadal die Hand. Er steckte keineswegs den Kopf in den Sand oder versuchte, Sand in die Augen der anderen zu streuen. Sein Fazit war nüchtern: «Der Bessere siegt. Und das war Nadal». Die Amerikaner haben ein besonderes Faible für Verlierer. So gibt es eine spezielle Webseite «Failure magazine» der ©2000 Mad Dog Productions, Inc. Vermutlich wird es bald Volkshochschulkurse geben, in denen man Verlieren lernen kann, vom Grundkurs bis hin zur Meisterklasse. Bevor ich mit unserem fünfjährigen Nachbarsmädchen Memory spiele, sollte ich solch einen Kurs besuchen. Ich sag’s ja ungern, aber ich bin leider kein geborener Loser, sondern ein ganz, ganz schlechter Verlierer.
598 ARS MEDICI 14 ■ 2008