Transkript
FORTBILDUNG
Depressionen bei Frauen
Warum sind Frauen häufiger betroffen als Männer?
Depressionen sind bei Frauen etwa doppelt so häufig
wie bei Männern. Soweit es sich um echte Geschlechts-
unterschiede handelt, sind diese meist multifaktoriell
bedingt — einerseits durch das biologische Geschlecht
(sex), insbesondere durch die Sexualhormone, anderer-
seits durch das psychosoziale Geschlecht (gender)
mit all den zugeschriebenen und übernommenen Rollen
in Partnerschaft, Familie, Beruf, Politik, ökonomischen
Strukturen und Kulturen.
ANITA RIECHER-RÖSSLER
Einleitung Obwohl die Lebenszeitprävalenz, also die Häufigkeit psychischer Erkrankungen über die Lebenszeit betrachtet, bei Frauen und Männern insgesamt gleich hoch ist, leiden Frauen doch zum Teil in anderer Art und Weise und zu anderen «Risikozeiten» (Überblick bei [1]). So werden Häufigkeit und klinisches Bild psychischer Erkrankungen bei Frauen zum Teil durch die Reproduktionsvorgänge beeinflusst, also zum Beispiel durch die Pubertät, die Menstruationsvorgänge, die Schwangerschaft und Perinatalzeit oder die Menopause. Aber auch unabhängig von den Reproduktionsvorgängen zeigen viele psychische Erkrankungen grosse Häufigkeitsunterschiede zwischen Frauen und Männern. Depressionen etwa sind bei Frauen etwa doppelt so häufig wie bei Männern, das gilt für die leichteren depressiven Zustände, die sogenannten neurotischen Depressionen und Dysthymien bis hin zu den schweren unipolaren affektiven Erkrankungen.
Artefakte – vorgetäuschte Häufigkeitsunterschiede Zum einen handelt es sich lediglich um vorgetäuschte Unterschiede, etwa durch geschlechtsspezifische Verzerrungen bei der Erhebung und Interpretation von Daten bei der Diagnosenvergabe. Auch zeigen verschiedene Studien, dass Frauen
ihre Beschwerden selbst besser wahrnehmen, bereitwilliger darüber berichten und vor allem schneller Hilfe in Anspruch nehmen als Männer (Überblick bei [1]). So gibt es etwa bezüglich der häufigeren Depression von Frauen Befunde, dass Frauen schneller Hilfe suchen als Männer, dass sie sich auch besser an depressive Symptome erinnern und diese eher berichten. Auch gibt es Hinweise auf einen «Geschlechterbias» bei der Diagnostik, etwa dahingehend, dass es für Mann und Frau je einer anderen Symptomschwelle bedarf, um zu einem «Fall» zu werden. Schliesslich sind auch Ärzte Rollenstereotypen unterworfen: Bei identischer Beschwerdenschilderung wird bei Frauen offensichtlich schneller eine Depression diagnostiziert als bei Männern. Weiterhin wird angeführt, dass bei Männern die Depression oft durch Alkoholismus maskiert werde (Übersicht bei [1]).
Echte Häufigkeitsunterschiede Auch nach Ausschluss der genannten Artefakte verbleiben immer noch beträchtliche echte Geschlechtsunterschiede in Inzidenz und Prävalenz (Überblick bei [1]). So zeigen auch die
Merksätze
■ Frauen leiden häufiger an Depressionen als Männer, und die Symptomatik und der Verlauf unterscheiden sich.
■ Die Gründe für die Krankheitshäufung sind vielfältig. Zum einen handelt es sich um vermeintliche Unterschiede, weil etwa die Diagnose Depression bei Frauen eher gestellt wird.
■ Es gibt aber auch echte Häufigkeitsunterschiede zwischen Männern und Frauen. Diese sind zum Teil biologisch, zum Teil psychosozial und kulturell, häufig aber multifaktoriell zu erklären.
■ Weibliche Sexualhormone und frauenspezifische Einflüsse wie Menstruation, Geburt und Menopause können ebenso eine Rolle spielen wie geschlechtsspezifisches Rollenverhalten und Rollenkonflikte, sozialer Status, Gewalt und Missbrauch.
■ Die Berücksichtigung dieser und vieler anderer Faktoren könnte unser Verständnis für depressive Erkrankungen und deren Behandlung — nicht nur bei Frauen — entscheidend verbessern.
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grossen epidemiologischen Studien mit zuverlässiger Methodik, die standardisierte Fragebogen, standardisierte Diagnosesysteme und geschulte Interviewer einsetzten und sich auf repräsentative Bevölkerungserhebungen stützten, Ergebnisse in die gleiche Richtung (2–7). Die Lebenszeitprävalenz depressiver Erkrankungen bei Frauen ist etwa doppelt so hoch wie bei Männern, und dieser Unterschied scheint in den verschiedensten Kulturen zu bestehen. Die echten Geschlechtsunterschiede sind sicherlich zum Teil biologisch, zum Teil psychosozial und kulturell, häufig aber multifaktoriell bedingt. Auf der biologischen Seite handelt es sich dabei vor allem um genetische und hormonelle Einflüsse – zum einen auf die Hirnentwicklung und Hirnmorphologie, zum anderen aber auch auf das aktuelle seelische Befinden (Übersichten bei [8]). So wissen wir inzwischen zum Beispiel, dass Östradiol, das wichtigste weibliche Sexualhormon, eine grosse Zahl von Neurotransmittersystemen moduliert, die mit unserem seelischen Befinden zu tun haben – unter anderem das dopaminerge, das serotonerge, das GABAerge Transmittersystem und auch die Monoaminoxidase (MAO) beeinflusst und dadurch nicht nur antidepressiv, sondern wahrscheinlich auch antipsychotisch, aggressionsmildernd und stressprotektiv wirkt und kognitive Funktionen positiv beeinflussen kann (Übersichten bei [9, 10]).
Die Bedeutung der Sozialisation Auch werden vielfältige psychosoziale Einflussfaktoren diskutiert. Von Bedeutung sind hier offensichtlich schon die frühen Geschlechtsunterschiede in der psychischen Entwicklung, einschliesslich der geschlechtsspezifischen Erziehung und Sozialisation von Knaben und Mädchen, die wiederum das geschlechtsspezifische Rollenverhalten prägen. Eine wichtige Rolle bei den Geschlechtsunterschieden in Häufigkeit und Verlauf psychischer Störungen spielen aber auch der unterschiedliche soziale Status von Männern und Frauen, die Unterschiede im sozialen Stress und in der sozialen Unterstützung, die sie erfahren, und vieles mehr (Übersicht bei [1]). Was die höhere Depressionsrate von Frauen betrifft, so sind in diesem Zusammenhang sicherlich schon die frühen Unterschiede in der psychischen Entwicklung und Erziehung von Knaben und Mädchen, die das spätere geschlechtsspezifische Rollenverhalten prägen, interessant. So zeigt etwa die Forschung, dass Mädchen eher zu «gelernter Hilflosigkeit» und geringem Selbstvertrauen, Buben dagegen eher zu aktiver Bewältigung erzogen werden. Frauen tendieren in der Folge eher dazu, Konflikte zu verinnerlichen und mit Schuldgefühlen und Depression zu reagieren, während Männer eher aktive, zum Teil aggressive Bewältigungsstrategien suchen oder aber zum Suchtmittel greifen oder Suizid begehen. Auch stehen Frauen oft ganz real in starken Abhängigkeiten, ohne Möglichkeit der eigenen Beeinflussung und Kontrolle – etwa in der
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Partnerschaft oder im Berufsleben –, was das Depressionsrisiko erhöhen kann. Schliesslich sind sie häufiger als Männer Gewalt, physischem oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Frauen leben häufiger unter der Armutsgrenze, insbesondere als alleinerziehende Mütter. Sie sind durch ihre multiplen Rollen – zum Beispiel als Mutter, Ehefrau, Haushälterin, Berufsfrau, Pflegende für Eltern/Schwiegereltern – oft zahlreichen Stressoren sowie einer allgemeinen Überlastung ausgesetzt. Vor allem aber leiden sie zum Teil an erheblichen Rollenkonflikten durch diese oft miteinander konkurrierenden Rollen. Frauen sind meist verantwortlich für die Beziehungspflege in der (Gross-)Familie und im Freundeskreis und erfahren daraus mehr Belastungen (Übersicht bei [1, 11]). Was die endokrinologischen Einflussfaktoren bei der Depression betrifft, so scheinen Östrogene eher psychotrop und stimmungsstabilisierend zu wirken (Übersicht bei [9, 10, 12]). Es ist daher erstaunlich, dass die Depression vor allem in der fertilen Lebenszeit der Frau häufiger ist, in der sie ja eigentlich einen Schutz durch ihre Östrogene geniessen sollte. Möglicherweise ist es aber der immer wieder stattfindende Östradiolabfall im Laufe des weiblichen Menstruationszyklus sowie postpartal und perimenopausal, der bei vulnerablen Frauen labilisierend wirkt.
Schlussfolgerungen
Eine «geschlechtersensible» Medizin berücksichtigt all diese
Einflüsse sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie.
Das bedeutet, dass sowohl in der Anamneseerhebung und wei-
teren Abklärung als auch in der Therapieplanung berücksich-
tigt werden sollte, in welcher Lebensphase sich eine Frau be-
findet, welchen hormonellen Schwankungen sie ausgesetzt ist,
aber auch welchen psychosozialen Belastungen in Partner-
schaft, Familie und Beruf. Überlastungen und Rollenkonflikte
sollten ebenso thematisiert werden wie Abhängigkeiten und
Gewalterleben. Häusliche Gewalt ist häufiger, als wir denken.
Hier eignet sich der Einsatz von Screeninginstrumenten (13)
oder entsprechenden Standardfragen. Vor allem aber sollte im
Gespräch das Selbstwertgefühl der Frauen gestärkt werden –
dann schaffen sie es oft selbst, sich aus einer misslichen, depres-
siogenen Lage zu lösen. In ausgeprägteren Fällen sollte immer
eine Überweisung zum Psychiater erfolgen, der die Ursachen
der Depression genauer abklären und entsprechende thera-
peutische Massnahmen einleiten wird.
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Literatur: 1. Riecher-Rössler A, Bitzer J. Epidemiologie psychischer Störungen bei Frauen. In: Riecher-Rössler
A, Bitzer J (Hrsg.). Frauengesundheit. Ein Leitfaden für die ärztliche und psychotherapeutische Praxis. Elsevier Urban & Fischer, München, Jena, 2005; 21—29. 2. Robins LN, Regier DA. Psychiatric disorders in America. The Epidemiological Catchment Area Study. The Free Press, New York, 1991. 3. Wittchen HU, Essau CA, von Zerssen D, Krieg JC, Zaudig M. Lifetime and six-month prevalence of mental disorders in the Munich Follow-Up Study. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1992; 241 (4): 247—258. 4. Wittchen HU, Nelson CB, Lachner G. Prevalence of mental disorders and psychosocial impairments in adolescents and young adults. Psychol Med 1998 Jan; 28(1): 109—126. 5. Kessler RC, McGonagle KA, Zhao S, Nelson CB, Hughes M, Eshleman S, et al. Lifetime and 12-month prevalence of DSM-III-R psychiatric disorders in the United States. Results from the National Comorbidity Survey. Arch Gen Psychiatry 1994 Jan; 51 (1): 8—19. 6. Bijl RV, Ravelli A, van Zessen G. Prevalence of psychiatric disorder in the general population: results of The Netherlands Mental Health Survey and Incidence Study (NEMESIS). Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 1998 Dec; 33 (12): 587—595. 7. Meyer C, Rumpf HJ, Hapke U, Dilling H, John U.: Lifetime prevalence of mental disorders in general adult population. Results of TACOS study. Nervenarzt 2000 Jul; 71 (7): 535—542. 8. Riecher-Rössler A, Bitzer J (Hrsg.). Frauengesundheit. Ein Leitfaden für die ärztliche und psychotherapeutische Praxis. Elsevier Urban & Fischer, München, Jena, 2005. 9. Bergemann N, Riecher-Roessler A (ed.). Estrogen effects in psychiatric disorders. Springer, Wien, New York, 2005. 10. Riecher-Roessler A, de Geyter C. The forthcoming role of treatment with oestrogens in mental health. Swiss Med Wkly 2007 Oct 20; 137 (41—42): 565—572. 11. Riecher-Roessler A, Steiner M. Perinatal Stress, Mood and Anxiety Disorders — from Bench to Bedside. Karger, Basel, 2005. 12. Kahn L, Halbreich U. Estrogen's effect on depression. In: Bergemann N, Riecher-Rössler A (ed.). Estrogen effects in psychiatric disorders. Springer, Wien, New York, 2005. 145—173. 13. Nyberg E, Hartman P, Stieglitz R, Riecher-Rössler A. Screening domestic violence. A Germanlanguage screening instrument for domestic violence against women. Screening Partnergewalt. Ein deutschsprachiges Screeninginstrument für häusliche Gewalt gegen Frauen. Fortschr Neurol Psychiatr 2008; 76 (1): 28—36.
Diese Arbeit wurde von der Autorin in einer Vorversion publiziert unter dem Titel: Geschlechterspezifische Aspekte der Depression — Frauenspezifische Aspekte der Depression. In: Journal für Gynäkologische Endokrinologie 2 (1) (Ausgabe für Schweiz): 31—32.
Prof. Dr. Anita Riecher-Rössler Chefärztin, Psychiatrische Poliklinik
Universitätsspital Basel Petersgraben 4, 4031 Basel Tel. 061-265 51 14, Fax 061-265 45 99 E-Mail: ariecher@uhbs.ch
Interessenkonflikte: keine
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