Transkript
FORTBILDUNG
COPD: Therapie nur bei deutlicher Atemwegsobstruktion
Empfehlungen des American College of Physicians zu Diagnose und Therapie der stabilen chronisch obstruktiven Lungenerkrankung
Bei der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) ist das Angebot an pharmako-
Merksätze
logischen und anderen Therapien gross. Eine
systematische Review und deren Essenz in
Form von sechs Empfehlungen für die Praxis
versuchen Klarheit zu schaffen.
ANNALS OF INTERNAL MEDICINE
Eine systematische Review … Im Hinblick auf Praxisrichtlinien zum Umgang mit der COPD haben Timothy J. Wilts vom Veterans Affairs Medical Center in Minneapolis und Mitarbeiter eine systematische Review der randomisierten kontrollierten Studien (RCT) und vorangegangenen Reviews zu medikamentösen Inhalationstherapien, pulmonaler Rehabilitation, Disease-Management (Patientenschulung, Anleitung zur Selbstanpassung der Therapie, systematische Überwachung durch medizinische Hilfspersonen etc.) und Sauerstoffzufuhr vorgenommen (1). Sie fanden 8 Metaanalysen und 42 RCT zur inhalativen Therapie mit kurz wirkenden (Ipratropium [Atrovent®]) und lang wirkenden (Tiotropium [Spiriva®]) Anticholinergika, lang wirkenden Betaagonisten (Formoterol [Foradil®, Oxis®]; Salmeterol [Serevent®]), Kortikosteroiden (Budesonid [Pulmicort®], Fluticason [Axotide®]) einzeln oder in Kombinationen (z.B. Seretide®, Symbicort®). Kurz wirkende Betaagonisten zur Notfall- oder Bedarfsbehandlung waren nicht eingeschlossen. Die Evidenz für nicht pharmakologische Therapien stützt sich auf 3 Reviews von 39 RCT sowie 6 zusätzlichen RCT zur pulmonalen Rehabilitation, 8 RCT zur Sauerstoffsupplementation sowie 2 Reviews von 13 RCT sowie 2 zusätzliche RCT zum Disease-Management. Insgesamt gesehen verminderten lang wirkende Inhalationstherapien, allein oder in Kombination eingesetzt, die Exazerbationen gegenüber Plazebo besser (23% vs. 15%). Auch hatten diese untereinander eine ähnliche Effektivität. Die durch-
■ Die Spirometrie soll gezielt eingesetzt werden und nicht zum Screening asymptomatischer Personen.
■ Inhalative Therapien mit lang wirkenden Anticholinergika, Betaagonisten oder Kortikosteroiden sollen nur bei deutlicher Einschränkung des Atemflusses erfolgen.
■ Wann Kombinationen die anzustrebende Monotherapie ersetzen sollen, ist noch unklar.
■ Pulmonale Rehabilitation und ambulante Sauerstoffzufuhr haben in den fortgeschrittenen Krankheitsstadien der COPD ihren berechtigten Platz.
schnittlichen Scores für den Gesundheitszustand erfuhren Änderungen, die nicht als klinisch bedeutsam zu betrachten waren. Die inhalative Monotherapie beeinflusste die Mortalität nicht. Inhalative Kortikoide plus lang wirkende Betaagonisten reduzierten das Sterberisiko (relatives Risiko [RR] 0,82; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,69–0,94) im Vergleich zu Plazebo, nicht aber zu lang wirkenden Betaagonisten allein (RR 0,82; 95%-KI 0,52–1,28). Die absoluten Sterbedifferenzen betrugen 1 Prozent oder weniger und waren statistisch nicht signifikant. Die pulmonale Rehabilitation verbesserte den Gesundheitszustand und die Dyspnoe, aber nicht die Gehstrecke. Weder Disease-Management noch ambulante Sauerstoffzufuhr verbesserten die gemessenen Outcome-Parameter. Eine Sauerstoffsupplementation reduzierte jedoch die Mortalitätsraten bei symptomatischen COPD-Patienten mit Ruhehypoxie (RR 0,61; 95%-KI 0,46–0,82). Unzureichende Evidenz liegt vor, um den Einsatz der Spirometrie in der Therapieüberwachung zu stützen. Die Autoren weisen einschränkend darauf hin, dass sie nur in der englischsprachigen Literatur gesucht haben und dass Behandlungstreue, Nebenwirkungen und Effektivität in Studien und Alltag abweichen können.
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COPD: THERAPIE NUR BEI DEUTLICHER ATEMWEGSOBSTRUKTION
Als Schlussfolgerung ihrer systematischen Review steht die Feststellung, dass lang wirkende inhalative Therapien, Sauerstoffsupplementation und pulmonale Rehabilitation bei Erwachsenen mit störenden Symptomen, insbesondere Dyspnoe, und FEV1 unter 60 Prozent des Vorhersagewerts nützlich sind.
… und daraus abgeleitete Empfehlungen für die Praxis Gewissermassen als Essenz der umfangreichen systematischen Review haben Amir Qaseem und Mitautoren zuhanden des American College of Physicians sechs Empfehlungen verfasst (2), an denen sich alle Ärzte, die Erwachsene mit COPD betreuen, orientieren können (jeweils in Klammern der Stärkegrad und die Qualität der Evidenz).
Empfehlung 1: Bei Patienten mit respiratorischen Symptomen, insbesondere mit Dyspnoe, sollte eine Spirometrie erfolgen, um eine Atemwegsobstruktion zu erfassen. Die Spirometrie sollte nicht zum Atemfluss-Screening Gesunder eingesetzt werden («starke» Empfehlung, mässige Evidenzqualität). Der gezielte Einsatz der Spirometrie zur Diagnose einer Atemwegsobstruktion ist bei Individuen mit respiratorischen Beschwerden von Nutzen. Die Evidenz unterstützt hingegen nicht das spirometrische Screening bei asymptomatischen Patienten, auch bei solchen mit COPD-Risikofaktoren nicht. Die Autoren halten fest, dass es keine Evidenz guter Qualität dafür gibt, dass ein liberaler Einsatz der Spirometrie Verbesserungen beim Rauchverzicht oder über die Identifikation und Therapie asymptomatischer, gefährdeter Patienten eine Beeinflussung der Abnahme der Lungenfunktion erzielt. Die nur wenig unterschiedlichen spirometrischen Klassifikationen der Global Intiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD) sowie der American Thoracic Society (ATS) und European Respiratory Society (ERS) zeigt der Kasten.
Kasten: Spirometrische Klassifikationen der COPD
nach GOLD* Leicht Mittelschwer Schwer Sehr schwer
FEV1–FVC-Verhältnis < 0,70 FEV1 ≥80% des Erwartungswerts FEV1–FVC-Verhältnis < 0,70 FEV1 50% bis 80% des Erwartungswerts FEV1–FVC-Verhältnis < 0,70 FEV1 30% bis 50% des Erwartungswerts FEV1–FVC-Verhältnis < 0,70 FEV1 ≤ 30% des Erwartungswerts oder FEV1 < 50% plus chronisches respiratorisches Versagen nach ATS/ERS** Risikopersonen FEV1–FVC-Verhältnis > 0,7 FEV1 ≥ 80% des Erwartungswerts bei: Rauchern; Exposition gegenüber Atemwegsschadstoffen; Husten, Auswurf oder Dyspnoe; familiärer Belastung für Atemwegserkrankungen
Leicht
FEV1–FVC-Verhältnis ≤ 0,7 FEV1 ≥ 80% des Erwartungswerts
Mittelschwer FEV1–FVC-Verhältnis ≤ 0,7 FEV1 50% bis 80% des Erwartungswerts
Schwer
FEV1–FVC-Verhältnis ≤ 0,7 FEV1 ≥ 30% bis 50% des Erwartungswerts
Sehr schwer
FEV1–FVC-Verhältnis ≤ 0,7 FEV1 < 30% des Erwartungswerts * Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease ** American Thoracic Society/European Respiratory Society Empfehlung 2: Die Therapie der stabilen COPD sollte Patienten mit respiratorischen Symptomen und einem spirometrisch dokumentierten FEV1 < 60 Prozent des Vorhersagewerts vorbehalten sein («starke» Empfehlung, mässige Evidenzqualität). Die verfügbare Evidenz zeigt, dass jene Individuen von einer Behandlung am meisten profitieren, die Atemwegssymptome und eine klinisch signifikante Einschränkung des Atemflusses haben. Keine Evidenz unterstützt eine Behandlung asymptomatischer Individuen, da dies den Verlauf nicht verbessert. Ebenso wenig unterstützt die heutige Evidenz periodische Spirometrien zur Überwachung des Krankheitsverlaufs nach Therapiebeginn oder zur Beurteilung der Notwendigkeit von Behandlungsänderungen. Empfehlung 3: Ärzte sollten bei symptomatischen Patienten mit FEV1 < 60 Prozent eine der folgenden Erhaltungsmonotherapien verordnen: lang wirkende Betaagonisten, lang wirkende Anticholinergika oder inhalative Kortikosteroide («starke» Empfehlung, gute Evidenzqualität). Die langfristige Monotherapie mit einer der erwähnten Wirkstoffgruppen reduziert die Zahl der Exazerbationen. Inhalative Kortikosteroide und lang wirkende Bronchodilatatoren haben in dieser Hinsicht eine ähnliche Effektivität, unterscheiden sich aber in den Nebenwirkungen und in der Reduktion von Todesfällen und Hospitalisationen. Die Review hat alle anderen Outcomes nicht systematisch untersucht. Die verfügbare Evidenz, so die Autoren, ist ungenügend, um eine Monotherapie gegenüber einer anderen vorzuziehen. Empfehlung 4: Für symptomatische COPD-Patienten und FEV1 < 60 Prozent kann eine inhalative Kombinationstherapie in Betracht kommen («schwache» Empfehlung, mässige Evidenzqualität). Die Autoren präzisieren, dass nicht klar etabliert sei, wann ARS MEDICI 5 ■ 2008 185 FORTBILDUNG anstelle einer Monotherapie eine Kombinationsbehandlung indiziert ist. Sie zitieren die TORCH-Studie mit Salmeterol plus Fluticason (Seretide®), in der die Kombination gegenüber der Monotherapie die Exazerbationen besser beeinflusste, der Vorteil bei der Mortalitätssenkung hingegen das vorgegebene statistische Niveau nicht erreichte. In einer anderen neueren Studie beeinflusste die zusätzliche Gabe von Salmeterol/Fluticason zu Tiotropium die Exazerbationsrate nicht, verbesserte aber Lungenfunktion, Lebensqualität und Hospitalisationsraten bei Patienten mit mittelschwerer und schwerer COPD. Empfehlung 5: Ärzte sollten bei COPD-Patienten mit Ruhehypoxämie (paO2 ≤ 55 mmHg) eine Sauerstofftherapie verschreiben («starke» Empfehlung, mässige Evidenzqualität). Der Sauerstoffeinsatz über täglich 15 oder mehr Stunden kann bei schwerer Atemflussobstruktion (FEV1 < 30%) das Überleben und die Ruhehypoxämie verbessern. Empfehlung 6: Bei symptomatischen COPD-Patienten mit FEV1 < 50 Prozent ist eine pulmonale Rehabilitation zu erwägen («schwache» Empfehlung, mässige Evidenzqualität). Die Evidenz stützt bei Patienten mit schwerer Atemwegsobstruktion den Einsatz der pulmonalen Rehabilitation, da Hospitalisationsbedarf, Gesundheitszustand und körperliche Belastbarkeit günstig beeinflusst werden. Ob dies auch für Patienten mit FEV1 > 50 Prozent gilt, ist aber nicht klar. ■
☞ LINKS
Revidierte Richtlinien für die langfristige Sauerstoffheimtherapie (2006) www.pneumo.ch/de/informationen-fuer-fachpersonen/ sgp-richtlinien/sauerstoff.html
European Respiratory Society Informationen für Fachpersonen, Internationale Guidelines etc.: www.ersnet.org
Lungenliga Formulare für die Verordnungen von Atemtherapiegeräten:/www.lung.ch/de/angebote/fuer-fachpersonen/ aerzteportal/verordnungen.html
Selbsthilfegruppe für Lungenkranke und Sauerstoffpatienten www.lungenkrank.ch
1. Timothy J. Wilt et al.: Management of stable chronic obstructive pulmonary disease: a systematic review for a clinical practice guideline. Ann Intern Med 2007; 147: 639–653.
2. Amir Qaseem et al.: Diagnosis and management of stable chronic obstructive pulmonary disease: a clinical practice guideline from the American College of Physicians. Ann Intern Med 2007; 147: 633–638.
Interessenkonflikte: Die meisten Autoren der Originalpublikationen deklarieren wissenschaftliche und finanzielle Beziehungen zu allen grossen Pharmafirmen mit Interessen auf dem Gebiet der COPDBehandlung.
Halid Bas
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