Transkript
INTERVIEW
«Der Hausarzt ist der Facharzt für Multimorbidität»
Ein Interview mit Professor Dr. Thomas Rosemann, Leiter des Instituts für Hausarztmedizin in Zürich
Hausarztmedizin ist ein junges, dynamisches Fach mit einer sehr guten Perspektive. Davon ist Thomas Rosemann überzeugt. Der frisch-
ren, um die Qualität hausärztlicher Arbeit adäquat darzustellen. Wir haben in Heidelberg die Erfahrung gemacht, dass das durchaus zu schaffen ist. An unserem Institut ist es uns gelungen, mehr Impactfaktoren zu generieren als in vielen kleineren klinischen Fächern.
gebackene Lehrstuhlinhaber des Instituts für
Hausarztmedizin am Universitätspitals Zürich
ist voller Tatendrang. In einem Gespräch
mit ARS MEDICI erläutert er seine Ideen und
erklärt, welche Projekte er anpacken will.
ARS MEDICI: Professor Rosemann, die Hausarztmedizin fristet an vielen Universitäten ein Schattendasein … Rosemann: Das trifft leider oft noch zu. Es hängt allerdings stark vom Standort ab. Oft ist die Hausarztmedizin nur als Lehrbereich universitär verankert, es gibt also kein unabhängiges Institut. Dann steht und fällt alles mit dem Engagement der niedergelassenen Kollegen, die ja hauptsächlich ihrer Arbeit in der Praxis nachgehen. In Heidelberg wurde 2001 ein Lehrstuhl und ein eigenes unabhängiges Institut für Hausarztmedizin gegründet. Inzwischen sind dort 35 Mitarbeiter beschäftigt. Das zeigt, welchen Aufschwung unser Fach nehmen kann.
ARS MEDICI: Was braucht es, damit Hausarztmedizin endlich mehr auf sich aufmerksam machen kann? Rosemann: Die Allgemeinmedizin muss zunächst einmal eine eigene Forschungsidentität entwickeln, um sich zu etablieren. Jedes medizinische Fachgebiet hat sich letztlich so akademisch etabliert. Zudem leben wir in einem universitären Umfeld, in dem es heute um Impactfaktoren geht und um leistungsabhängige Mittelvergabe. Dem können wir uns nicht entziehen, wir müssen bereit sein, uns darauf einzulassen. Das heisst also: Wir müssen auch in guten Journals publizie-
ARS MEDICI: Es hat aber den Anschein, dass sich die Hausarztmedizin, zumindest im Blickwinkel anderer medizinischer Fächer, nicht von selbst als eigene universitäre Disziplin erklärt. Welche Fragestellungen sind Gegenstand einer allgemeinmedizinischen Forschung, die andere Fächer nicht übernehmen können? Rosemann: Sie sprechen ein wichtiges Thema an. Es geht um die Identitätsfindung und Imagebildung unseres Faches. Es gilt, die Rolle der Primärversorger zu definieren und zu exponieren. Die Situation im Gesundheitswesen ist gekennzeichnet durch zwei Tendenzen: eine zunehmende Spezialisierung in der Ärzteschaft und eine immer älter werdende Bevölkerung. Ich sehe den Hausarzt als Facharzt für die Multimorbidität an. Als solcher hat er die einzigartige Rolle eines Lotsen und vertrauensvollen Begleiters. Er muss erkennen, welche Massnahmen im Einzelfall notwendig und sinnvoll sind. Ein multimorbider Patient beispielsweise kann nicht 20 Tabletten am Tag schlucken. Der Hausarzt muss hier in einem Prozess der partizipativen Entscheidungsfindung gemeinsam mit dem Patienten im Hinblick auf die Lebensqualität Prioritäten setzen. Das ist eine Aufgabe, die selbst ein moderner informierter Patient nicht alleine leisten kann.
ARS MEDICI: Schon im Studium wird der Hausarzt aber eher in seinen Defiziten wahrgenommen. Rosemann: Das ist leider oft noch der Fall. Hier wird ein Patient vorgestellt, bei dem der Hausarzt den Infarkt übersehen hat, dort einer, bei dem das Melanom übersehen wurde. Das ist natürlich eine grobe Verzerrung der Wirklichkeit. Dass der Hausarzt eine sehr wichtige Filterfunktion wahrnimmt, dass oftmals der Befund zum Zeitpunkt der Konsultation noch nicht so eindeutig war, das alles wird darüber leicht vergessen. Würde man alle Patienten mit Brustschmerzen zum Kardiologen oder zum Röntgenarzt überweisen, würde unser
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ARS MEDICI: Es geht Ihnen also auch darum, das Ansehen des Hausarztes zu stärken? Rosemann: Natürlich, wir müssen in der Lehre den ganzen Reichtum dieses Faches darstellen. So wird man auch Begeisterung für die Hausarzttätigkeit wecken können oder zumindest Verständnis für seine Arbeit.
Steckbrief
Thomas Rosemann legte das medizinische Staatsexamen 1996 ab und arbeitete anschliessend im Rahmen der Ausbildung zum Allgemeinarzt drei Jahre in der Chirurgie und der Inneren Medizin, anschliessend ein Jahr in einer Hausarztpraxis in Oberbayern. Seit 2003 ist er neben seiner hausärztlichen Tätigkeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Hausarztmedizin an der Universität Heidelberg. Dort habilitierte er sich mit dem Thema «Evaluation von hausartzentrierten Interventionen zur Verbesserung der Lebensqualität von chronisch Kranken am Beispiel von Patienten mit degenerativen Gelenkerkrankungen». Seit 1. März ist er Ordinarius und Leiter des Instituts für Hausarztmedizin am Universitätsspital Zürich. Einen Tag in der Woche wird er weiterhin in einer Hausarztpraxis tätig sein.
Gesundheitssystem kollabieren. Der Hausarzt sieht sich also zum Beispiel mit der Herausforderung konfrontiert, aus 300 Patienten mit Brustschmerzen den einen mit einem «abwendbar gefährlichen Verlauf» herauszufiltern. Das wird von den Spezialisten und den Studenten oft nicht so wahrgenommen. Dass auch Hausärzten – wie Spezialisten – Fehler unterlaufen, ist manchmal unvermeidbar. Der Spezialist aber steht da als der «Held» im System, der die Diagnostikmaschinerie anwirft und zum Resultat kommt. Ich denke, dass es oft mutiger ist, eine Diagnostik nicht durchzuführen, sondern mit dem sogenannten «test-of-time» unnötige Untersuchungen zu vermeiden. Diese Leistung gilt es auch, in der Lehre den Studenten positiv zu vermitteln.
ARS MEDICI: Und wie steht es um die Forschung? Welche wichtigen Ergebnisse hat denn Ihr Fach bisher erbracht? Nennen Sie uns bitte ein Beispiel. Rosemann: Es gäbe eine ganze Reihe sehr interessanter und aufschlussreicher Forschungen zu nennen. Zum Beispiel zur Rolle des Hausarztes als Gatekeeper: Wir haben zeigen können, dass Patienten besonders zufrieden mit den Ergebnissen einer fachärztlichen Behandlung waren, wenn sie dorthin vom Hausarzt überwiesen wurden, weniger zufrieden dagegen, wenn sie aus freier Entscheidung gleich den Facharzt aufsuchten. Hier wurde die Kompetenz des Hausarztes also sehr deutlich bestätigt. Es gibt auch Studien mit harten Endpunkten. Eine 2006 im «New England Journal of Medicine» publizierte Arbeit ergab, dass diejenigen Herzinfarktpatienten die geringste Mortalität aufwiesen, die im Team von Hausarzt und Kardiologen betreut wurden. Sie schnitten damit besser ab als die nur vom Spezialisten Betreuten. Eine andere Studie verglich Diabetiker, die je vom Hausarzt oder vom Diabetologen allein betreut wurden. Die Mortalität der Hausarztpatienten war geringer – auch wenn sie keine Komorbiditäten hatten!
ARS MEDICI: Welche Vorhaben wollen Sie in Zürich als erste angehen? Rosemann: Es hat sich gezeigt, dass die Herausforderungen grösser sind als ursprünglich gedacht. Die Lehre ist inhaltlich noch schlecht evaluiert, und auch didaktisch müssen wir sicher einiges modernisieren, Lernziele definieren und beginnen, diese mit modernen Mitteln umzusetzen. Die Kollegen sind, das habe ich in vielen Begegnungen bereits erfahren, alle hoch motiviert, ich bin sehr zuversichtlich.
«Wir können heute nicht mehr mit den alten Overhead-Folien kommen ...»
ARS MEDICI: Von welchen modernen Verfahren sprechen Sie? Rosemann: Ich denke daran, dass man sicher heute nicht mehr mit den alten Overhead-Folien kommen kann, sondern stattdessen ansprechende Powerpoint-Präsentationen wählt. Auch das Internet wird eine Rolle spielen. Es gibt ja in der Abteilung für Hochschuldidaktik schon eine Plattform für E-Learning, wo die Hausarztmedizin auch vertreten ist. Eine andere Unterrichtsmethode besteht darin, Schauspieler einzubeziehen, die die Rolle von Patienten in bestimmten Situationen
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übernehmen und mit deren Hilfe die Studenten diagnostische und therapeutische Schritte erlernen können, etwa eine Anamnese zu erheben oder den Blutdruck zu messen. In Heidelberg haben wir damit sehr gute Erfahrungen gemacht.
ARS MEDICI: Das hört sich innovativ an. Rosemann: Wir wollen natürlich versuchen, die Möglichkeiten optimal zu nutzen. Übrigens zeigen wir damit auch nach aussen, dass die Hausarztmedizin ein junges und dynamisches Fach ist.
ARS MEDICI: Sie klingen sehr optimistisch und tatendurstig. Werden auch die niedergelassenen Hausärzte von Ihrer Arbeit etwas mitbekommen? Rosemann: Das will ich hoffen (lacht). Im Unterschied zu anderen Institutionen ist ein Institut für Hausarztmedizin ohne den Rückhalt und die Akzeptanz der niedergelassenen Hausärzte verloren. Wir brauchen die Hausärztinnen und -ärzte, sie sind unser Rückgrat! Ich habe vor, jedes Jahr einen Tag der Hausarztmedizin durchzuführen, in dem praxisrelevante Workshops angeboten werden sollen, für Hausärzte und auch
ARS MEDICI: Und welche Forschungsvorhaben wollen Sie angehen? Rosemann: Zum einen werden wir bereits laufende Projekte fortsetzen, etwa jene, die von der Gruppe um Marco Zoller bereits mit grossem Engagement angegangen wurden. Des Weiteren denken wir daran, uns als Institution beim Thema Notfallversorgung einzubringen, die ja neu organisiert werden soll. Darüber hinaus geht es darum, eine eigene Forschungsidentität aufzubauen. Im klinischen Bereich wird es um den Schwerpunkt chronische Erkrankungen, speziell Kardiologie, gehen, ein anderes Feld ist die Versorgungsforschung. Hier wollen wir etwa untersuchen, inwieweit strukturelle Veränderungen wie das Case Management im Rahmen der Implementierung von Chronic-care-Modellen zu Verbesserungen der Versorgung führen.
«Ohne den Rückhalt der nieder-
gelassenen Hausärzte ist unser Institut
verloren. Sie sind unser Rückgrat!»
ARS MEDICI: Wieviele Mitarbeiter stehen Ihnen dafür zur Verfügung? Rosemann: Es gibt neben meiner Stelle eine für einen leitenden Oberarzt, eine Assistenzarztstelle, eine 50-ProzentPosition für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie zwei Rotationsassistenten. Bei letzteren handelt es sich um Kolleginnen und Kollegen, die bei Professor Battegay in der Inneren Medizin arbeiten und die ihr Interesse an hausarztmedizinischen Fragen bei uns einbringen wollen. Es geht dabei auch darum, neue Karrierewege aufzuzeigen. Wir brauchen in unserem Fach nämlich dringend akademischen Nachwuchs. Dessen Perspektiven sind übrigens sehr gut. Dass man sich für unser Fach auch wissenschaftlich begeistern kann, zeigt hervorragend die niederländische Universität Nijmegen, mit der wir auch kooperieren werden. An dem hausärztlichen Institut dort gibt es sage und schreibe 80 PhD-Studenten. Sie arbeiten zwei bis vier Jahre an einem Projekt und sind begleitend als Hausarzt tätig.
«Wir wollen uns von der Pharmaindustrie unabhängig halten.»
für Praxisassistentinnen. In Heidelberg ist das auf sehr positive Resonanz gestossen. Es geht also auch darum, den Kollegen in der Praxis von unserer Seite etwas zurückzugeben.
ARS MEDICI: Und wer finanziert eine solche Veranstaltung? Rosemann: Mit viel Engagement geht auch viel, selbst wenn die finanziellen Mittel beschränkt sind. In Heidelberg haben wir von den Kollegen eine vergleichsweise geringe Teilnahmegebühr von 30 Euro erhoben.
ARS MEDICI: Und wie halten Sie es mit der Pharmaindustrie? Werden Sie ohne ihre Unterstützung auskommen können? Rosemann: Es ist für die Glaubwürdigkeit unseres Instituts wichtig, uns von der Industrie unabhängig zu halten. Das bedeutet letztlich, dass wir viele Forschungsvorhaben mit Unterstützung des Schweizer Nationalfonds durchführen werden. In der Hausarztmedizin kosten Studien meistens glücklicherweise nicht so viel Geld, allerdings geht es ohne Personal natürlich nicht.
ARS MEDICI: Die Situation der Hausärzte ist nicht so rosig. Viele fühlen sich an den Rand gedrängt oder sehen sich politisch und wirtschaftlich unter Druck. Wie sehen Sie die Situation, und wie werden Sie sich in Ihrer Funktion in die aktuellen Diskussionen einbringen? Rosemann: Das ist richtig, es gibt teilweise unhaltbare Zustände, in Deutschland sind sie noch dramatischer als in der Schweiz. In Bayern überlegen sich viele Kassenärzte derzeit, ob sie ihre Kassenzulassung zurückgeben sollen. Ich denke, in der Schweiz gibt es ähnliche Tendenzen zu einer Arbeitsverdichtung und administrativen Überbelastung, aber mein Eindruck ist, dass man hier immer noch eine Menge beeinflussen kann.
ARS MEDICI: Und Sie wollen sich da einmischen? Rosemann: Ich sehe es primär als meine Arbeit an, die Qualität der Hausarztmedizin aufzuzeigen und zu belegen, dass der Hausarzt ein unabdingbarer Akteur im Gesundheitswesen
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ist. Ich glaube, es gibt auch unter den Hausärzten die Sehnsucht nach einer eigenen akademischen Heimat, die ihnen Rückhalt und Motivation zu geben vermag. Meine vordringliche Arbeit wird es sicher nicht sein, mich politisch zu engagieren, dafür gibt es genügend Kollegen, die das längst tun. Ich kann bestenfalls mittelfristig belastbare Daten liefern, die vielleicht eine Entscheidung oder die Argumentation in einer Sache erleichtern. Man darf nicht erwarten, dass ein Institut wie unseres nun gleich Lösungen zu allen hausärztlichen Problemlagen liefert.
ARS MEDICI: Würden Sie denn Daten liefern wollen, etwa zur Frage der Selbstdispensation? Rosemann: Warum nicht? Wenn man beispielsweise unter Beweis stellen könnte, dass selbstdispensierende Ärzte nicht mehr Arzneimittel abgeben als notwendig, dann wäre das sicher ein gutes Argument.
«Eine Politik, die den Hausarzt
weiter absteigen oder gar aussterben lässt,
ARS MEDICI: Werden Sie denn mit Standesorganisationen, etwa der SGAM, eng zusammenarbeiten? Rosemann: Mir geht es darum, dass unser Institut politisch unabhängig ist und sich nicht äusseren Einflüssen unterwirft. Was für die Industrie gilt, gilt prinzipiell auch für die Fachgesellschaften. Dass etwa die SGAM eine wichtige Fachgesellschaft ist und wir uns austauschen werden, ist andererseits klar – dasselbe gilt für die hausärztlich tätigen Internisten, da gibts keine Präferenzen meinerseits.
wird am Ende teuer dafür bezahlen.»
ARS MEDICI: Sind Sie ein Freund von Managed-CareModellen? Rosemann: Es kommt sehr auf die Ausgestaltung an. Ich habe das in den USA sehr genau verfolgen können. Managed Care kann ein interessantes Modell sein, aber auch in absehbarer Zukunft sehe ich verschiedene Versorgungsformen, die parallel existieren.
ARS MEDICI: Nehmen wir das Beispiel Selbstdispensation, die in Zürich bald zur Abstimmung kommen wird. Wie stehen Sie dazu? Rosemann: Ich möchte mich da nicht aus dem Fenster lehnen, solange ich keine harten Daten dafür oder dagegen kenne. Ohne Evidenz geht es nicht, eine unfundierte Meinung ist für mich wertlos. Ich möchte nur sagen, dass ein adäquates Einkommen für Hausärzte unbedingt sichergestellt sein muss. Es darf kein Gefälle zu den Spezialisten geben! Eine Politik, die den Hausarzt weiter absteigen lässt oder ihn gar aussterben lässt, wird am Ende teuer dafür bezahlen.
ARS MEDICI: Sie glauben also nicht, dass die Einzelpraxis vor dem Aus steht? Rosemann: Der Trend geht natürlich zu grösseren Versorgungseinheiten, aber auf dem Land wird sich das kaum realisieren lassen. Sie können nicht mehrere Hausärzte in ein Bergdorf setzen.
ARS MEDICI: Herr Rosemann, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer neuen Tätigkeit.
Das Interview führte Uwe Beise.
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