Transkript
STUDIE
Natalizumab bei MS: bei unverminderter Krankheitsaktivität Antikörper bestimmen!
Ergebnisse aus der AFFIRM- und der SENTINELStudie
Patienten mit schubförmig remittierend verlaufender multipler Sklerose können von der Therapie mit dem monoklonalen Antikörper Natalizumab profitieren. Allerdings bilden manche Patienten Antikörper gegen Natalizumab, welche die Wirksamkeit der Behandlung einschränken.
NEUROLOGY
Natalizumab (Tysabri®) ist der erste alpha-4-Integrin-Antagonist und erster Vertreter einer neuen Medikamentenklasse zur Behandlung der schubförmig, remittierend verlaufenden, multiplen Sklerose (relapsing remitting multiple sclerosis, RRMS). Natalizumab hemmt selektiv die durch alpha-4-Integrin vermittelte Adhäsion von Lymphozyten an das Endothel und verhindert so die Migration von Leukozyten durch die BlutHirn-Schranke ins ZNS. Wie bei anderen Therapeutika auf Proteinbasis kann es auch unter der Behandlung mit Natalizumab zur Entwicklung von Antikörpern kommen. Diese Antikörper erhöhen die Clearance des Medikaments oder behindern die Bindung von Natalizumab an alpha-4-Integrin, den Zielrezeptor. Beide Effekte können die Wirksamkeit von Natalizumab potenziell einschränken.
Um die Wirksamkeit und Sicherheit von Natalizumab bei RRMS zu beurteilen, wurden zwei plazebokontrollierte klinische Phase-III-Doppelblindstudien durchgeführt. Die AFFIRM-Studie, in der Natalizumab als Monotherapeutikum eingesetzt wurde, und die SENTINEL-Studie, in der Natalizumab zusätzlich zu Interferon beta-1a verabreicht wurde. In der zwei Jahre dauernden AFFIRMStudie reduzierte Natalizumab im Vergleich zu Plazebo das Risiko eines Fortschreitens der Behinderungen um 42 Prozent und die jährliche Rezidivrate um 68 Prozent. In der ebenfalls zwei Jahre dauernden SENTINEL-Studie reduzierte Natalizumab, das zusätzlich zu Interferon beta-1a verabreicht wurde, im Vergleich zu einer Monotherapie mit Interferon beta-1a das Risiko eines Fortschreitens der Behinderungen um 24 Prozent und das Risiko der jährlichen Rezidivrate um 55 Prozent. In einer aktuellen Veröffentlichung im Fachjournal «Neurology» berichten Dr. P.A. Calabresi vom Johns Hopkins Hospital, Baltimore, und Kollegen über die Inzidenz und die klinischen Effekte von Anti-Natalizumabantikörpern, die sich während der zweijährigen Natalizumabtherapie bei Patienten der AFFIRM- und der SENTINEL-Studie entwickelten.
Methoden und Ergebnisse Sowohl in der AFFIRM- als auch in der SENTINEL-Studie wurde den Patienten vor der Applikation der ersten Natalizumabdosis und anschliessend alle zwölf Wochen eine Blutprobe entnommen. Die Blutproben wurden mithilfe eines ELISA-Tests auf das Vorliegen von Anti-Natalizumabantikörpern unter-
Merksätze
■ Bei 6 Prozent der mit Natalizumab behandelten Patienten lassen sich persistierend AntiNatalizumabantikörper nachweisen.
■ Die klinische Wirksamkeit des Medikaments wird durch Anti-Natalizumabantikörper eingeschränkt.
■ Bei Patienten, die auf die Natalizumabbehandlung nicht gut ansprechen oder die nach der Natalizumabinfusion stets unerwünschte Wirkungen entwickeln, sollte ein Test auf Antikörper erwogen werden.
sucht. Die Patienten wurden als «transient positiv» eingestuft, wenn bei ihnen nur einmal Antikörper gegen Natalizumab nachgewiesen werden konnten (≥ 0,5 µg/ ml), und als «persistierend positiv», wenn sie an mindestens zwei Zeitpunkten im Abstand von sechs oder mehr Wochen Antikörper aufwiesen. In der AFFIRM-Studie liessen sich bei 57 (9%) der 625 mit Natalizumab behandelten Patienten Antikörper nachweisen: 20 Patienten (3%) waren transient positiv, 37 (6%) waren persistierend positiv. Bei den persistierend positiven Patienten konnte im Vergleich zu den antikörpernegativen Patienten ein Verlust der klinischen Wirksamkeit festgestellt werden, der sich auf das Fortschreiten der Behinderungen, die Rezidivrate und die kernspintomografisch nachweisbaren Veränderungen auswirkte. Bei den transient positiven Patienten war die volle Wirksamkeit nach etwa sechsmonatiger Behandlung erreicht, also zu dem Zeitpunkt, an dem die Patienten antikörpernegativ wurden. Die Inzidenz von im Zusammenhang mit der Infusion auftretenden unerwünschten Wirkungen war bei den persistierend positiven Patienten signifikant höher. Die Ergebnisse der SENTINEL-Studie waren ähnlich wie diejenigen der AFFIRM-
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Studie, mit Ausnahme der fortschreitenden Behinderungen. Die Unterschiede zwischen den persitierend positiven und den antikörpernegativen Patienten waren statistisch nicht signifikant.
Diskussion und Konsequenzen für die praktische Therapie Die Ergebnisse der AFFIRM- und der SENTINEL-Studie weisen darauf hin, dass das Vorliegen von Antikörpern bei RRMS-Patienten ein Prädiktor für das klinische Ansprechen auf die Natalizumabtherapie sein kann. Da die meisten Patienten (94%) nicht persistierend positiv auf Anti-Natalizumabantikörper getestet wurden, ist eine routinemässige Überwachung des Antikörpertiters bei allen Patienten wahrscheinlich nicht gerechtfertigt. Das Vorliegen persistierender Antikörper ist mit einer fortgesetzten Krankheitsaktivität der MS verbunden und geht mit einer Persistenz bestimmter Ereignisse (Flushing, Fieber, Rigor) im Zusammenhang mit der Infusion einher. Diese Symptome sollten ebenso wie eine fortgesetzte Krankheitsaktivität (d.h. Rezidive) Anlass sein, über eine Antikörpertestung nachzudenken. Ein wichtiger Faktor ist jedoch der Zeitpunkt der Testung. Eine frühe Testung (in den ersten 6 Behandlungsmonaten) kann zu einer falschen Einschätzung des klinisch bedeutsamen Antikörperstatus
führen, da bei manchen Patienten AntiNatalizumabantikörper nur transient auftreten. Bestimmt man den Antikörperstatus in diesem Zeitrahmen, könnte das dazu führen, dass die Behandlung bei Patienten abgebrochen wird, die trotz fortgesetzter Infusionen nach kurzer Zeit eventuell wieder antikörpernegativ werden. Sollte in seltenen Fällen die Notwendigkeit einer Testung innerhalb der ersten sechs Behandlungsmonate bestehen und das Ergebnis positiv ausfallen, muss nach mindestens drei Monaten erneut getestet werden, um herauszufinden, ob das Ergebnis persistierend positiv bleibt. Insgesamt muss nach dem derzeitigen Kenntisstand bei der Mehrheit der Patienten keine routinemässige Antikörpertestung erfolgen. Anders ist die Situation, wenn Patienten auch nach sechsmonatiger Natalizumabtherapie noch eine fortgesetzte Krankheitsaktivität oder persistierende Infusionsreaktionen (damit sind nicht Überempfindlichkeitsreaktionen gemeint – diese erfordern einen Abbruch der Therapie!) aufweisen: In diesem Fall sollte auf Antikörper getestet werden. Fällt der Test positiv aus, sollte nach drei Monaten erneut untersucht werden. Falls das Vorliegen persistierender Antikörper bestätigt wird, sollte die Natalizumabtherapie abgesetzt werden. Tests auf AntiNatalizumabantikörper stehen kommer-
ziell zur Verfügung (Focus Diagnostics, Inc., Cypress, CA und Athena Diagnostics Inc., Worcester, MA). Natalizumab stellt eine wirksame Behandlungsoption bei multipler Sklerose dar, fassen die Autoren zusammen. In den Studien traten zwar nur bei 6 Prozent der Patienten persistierende Antikörper auf, doch kam es bei diesen Patienten zu einem erheblichen Wirkungsverlust der Natalizumabbehandlung sowie zu einer Zunahme bestimmter Risiken im Zusammenhang mit den Infusionen. Deswegen sollten Ärzte daran denken, dass bei Patienten mit fortbestehender Krankheitsaktivität oder mit wiederholten unerwünschten Wirkungen im Zusammenhang mit den Natalizumabinfusionen persistierende Antikörper gegen das Medikament vorliegen könnten und eine entsprechende Testung veranlassen.
P.A. Calabresi (Department of Neurology, Johns Hopkins Hospital, Baltimore) et al.: The incidence and significance of anti-natalizumab antibodies. Results from AFFIRM and SENTINEL. Neurology 2007; 69: 1391–1403.
Interessenkonflikte: Die Studien wurden von Biogen Idec und Elan Pharmaceuticals gesponsert. Die Mehrzahl der Autoren hat Honorare und/oder Forschungsstipendien von Biogen Idec erhalten. Zwei der Autoren sind bei Biogen Idec angestellt.
Andrea Wülker
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